Wenn die Gentlemen im viktorianischen Club auf Mädchenjagd gehen

Xl_17103_rigoletto_khp__dsc9761_matthias_jung © Copyright Foto: Matthias Jung

Rigoletto Giuseppe Verdi Besuch am 20. September 2025 Premiere

Aalto Musiktheater Essen

Wenn die Gentlemen im viktorianischen Club auf Mädchenjagd gehen

Giuseppe Verdis Melodramma in Zusammenarbeit mit seinem Librettisten Francesco Maria Piave nach Victor Hugos Skandalstück Le roi s’amuse verlangt seiner politischen und psychologischen Substanz wegen nach einem klugen feinsinnigen Regiekonzept. Er habe, schreibt der Komponist zwei Jahre nach der Uraufführung des Werks 1851 in Venedig, an seinen Freund Cesare de Sanctis, einen „neuen, großen, schönen, abwechslungsreifen Stoff“ auf die Bühne bringen können, „kühn bis zum äußersten“. Was Kateryna Sokolova jetzt im Aalto Musiktheater auf die Bühne bringt, mag durchaus kühn genannt werden. Doch der Preis für ihren feministischen Ansatz, den sie wählt, ist hoch.

Sie dekonstruiert die Originalvorlage zugunsten eines monolithischen Regieeinfalls, der das Ganze nicht trägt und sich in mehr und mehr verwirrenden Personenbeziehungen erschöpft. Wäre da nicht der insgesamt großartige musikalische Eindruck, ließe sich von einem verschenkten Abend sprechen.

Venedig gehört nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49 wieder zur Habsburg-Monarchie. Hugos Abrechnung mit dem Wüstling Franz I. wollen die Zensoren nicht dulden. Ein Monarch als Titelheld eines destruktiven Sittendramas ist für sie undenkbar. So wird aus dem König von Frankreich der Herzog eines kleinen fiktiven Fürstentums, aus dessen buckligem Hofnarr Triboulet Rigoletto. Der skrupellose Intimus seines absolutistischen Herrn verspottet gnadenlos die diversen Opfer von Gewalttaten des Duca, vor allem an Frauen und Mädchen, die er dem Wüstling auf dem Thron zuführt. Dies ist freilich nur die eine Seite des Außenseiters in der höfischen Gesellschaft. Sieht er doch sich selbst in der Illusion einer ‚reinen‘ Eigenwelt. In dieser unternimmt er alles, seine Privatsphäre und damit Gilda, seine Tochter, aus dem Dreck heraushalten zu können, den er mit Wonne in aller Öffentlichkeit bedient.

Zum zweiten Mal nach Stiffelio ein Jahr zuvor lässt Verdi seine tiefe Zuneigung für Menschen erkennen, die von gesellschaftlichen Konventionen ausgegrenzt werden. Will eine Inszenierung die tiefe menschliche Wahrheit und die dramatischen Spannungen im Beziehungsgeflecht der Handelnden aufzeigen, muss sie insbesondere das Doppelleben, die Doppelbödigkeit der Titelfigur zur Geltung bringen. Die Spaltung einer Persönlichkeit, deren Ursachen primär in ihrer physischen Missgestalt und der daraus resultierenden Feindseligkeit gegenüber ihrer sozialen Umwelt liegen.

Dass auf der Aalto-Bühne Rigoletto mitnichten als Buckliger auftritt, ist gewiss keine Überraschung. Diese stellt sich dann umfassender ein, als die Verlagerung des Geschehens im Prunksaal des Herzogs in einen englischen Gentlemen’s Club des Viktorianischen Zeitalters erkennbar wird, in dem Männer dominieren und Frauen allenfalls marginal in Erscheinung treten. In Nikolaus Weberns Bühnenbild agiert der Narr vor dunklen Wänden mit Holzvertäfelung bei diskretem Licht als Majordomus, präziser: Chefbutler, dem die Fürsorge für den Club anvertraut ist. Ein Zufall vielleicht, womöglich ein gewollter Fingerzeig: Rigoletto und der Bandit Sparafucile tragen die gleiche grüne Kostümierung, mit einem grün-weiß quer gestreiftem Wams. Soll hier die Assoziation ausgelöst werden, dass dieser Rigoletto, den das Publikum mehr und mehr als zur Empathie fähigen Vater kennenlernen wird, im Kern nichts anderes ist als ein Verbrecher?

Weberns Bühne und Constanza Meza-Lopehandías Kostüme treffen Stil und Vorlieben der englischen Oberschicht mit ihrem ausgewiesenen Faible für Jagden und Jagdtrophäen. Die dunkelbraun oder grün gehaltenen Wände verraten die Verwendung edler Materialien. Sparsame Lichtquellen deuten eine besondere Clubintimität an, die insbesondere dem Herzog bei seiner Jagd nach weiblichen Trophäen entgegenkommt. Ein gelbes Stück Stoff, Gildas Nachtgewand oder Überwurf, sorgt für einen durchgängigen Farbeffekt. Er entgleitet Rigoletto während des rasanten Preludio und ist auch in der Todesszene zum Schluss präsent, Symbol der Vergeblichkeit des Handelns von Vater und Tochter.

Als hätte die Regisseurin die Büchse der Pandora geöffnet, bevölkern allerlei kuriose bis diverse Gestalten das Clubinnere. Marullo reitet auf einem übergroßen Holzpferd unter dem Johlen der Partygesellschaft ein. Einige Herren gefallen sich darin, in weißen Ballettkostümen im Stil von Tutus mit Strapsen aufzutreten, andere wie Graf Ceprano in Travestie-Kostümierung samt Federboa auf dem Kopf. Maddalena, die Schlüsselfigur im finalen Akt, sucht als Kurtisane Beachtung und Freier, was wenig mit Piraves Text zu tun hat.

Ansehnlich ist der Einfall, den Club durch den Drehmechanismus der Bühne in eine kleine Dachgeschosswohnung übergehen zu lassen, die über eine Außentreppe zu erreichen ist. Hier ist mit weiß bezogenem Bett und Dachschräge das bescheidene Heim Gildas, was in seiner Einfachheit Assoziationen mit der Stube von Gretchen in Goethes Faust und Charles Gounods Marguerite hervorruft. Der einfache Mechanismus der Wohnungstür erlaubt abruptes Eintreten oder unstatthaftes Lauschen, je nachdem, auf welcher Seite die Protagonisten agieren.

Spielen die ersten beiden Akte in Piaves Libretto im Palast des Herzogs von Mantua im 16. Jahrhundert und der dritte mit einem zeitlichen Abstand von einem Monat zum Vorgeschehen in einem verfallenen Anwesen am Fluss vor den Toren der Stadt, so erscheint überhaupt nicht einsichtig, warum dieses Gehöft mit seinen verwitterten Mauern bei Sokolova in den Club integriert, als solches aber nicht zu erkennen ist. Da nunmehr das Äußere zur Disposition zu stehen scheint, muss es mit der Genauigkeit des Inneren auch nicht weit her sein. Willkürlich springt die Regisseurin mit den Beziehungen der Protagonisten um.

Die Rolle des Grafen von Monterone erschöpft sich nicht darin, Rigoletto leidenschaftlich zu verfluchen, nachdem dieser ihn wegen des Schmerzes verhöhnt hat, den ihm der Duca zugefügt hat. Er taucht an allen möglichen und unmöglichen Stellen wie ein Geisterbeschwörer auf. Warum er im ersten Akt die Bewegungen von Rigoletto und Gilda über ihm in der Dachkammer mehr oder weniger synchron kommentiert, bleibt unerfindlich. Ebenso warum er das Duett von Vater und Tochter im zweiten Akt Si vendetta, tremenda vendetta di quest anima è solo desio zum Terzett erweitert, indem er klammheimlich mitsingt.

Absurd mutet es an, wenn Gilda dem Duca in der Dachkammer intime Nähe erlaubt, von dem sie gerade ihrem Vater gegenüber Abstand verspricht. Erst recht absurd, als Gilda in der Schlussszene, in der sie laut Libretto aus dem berüchtigten Sack des Sparafucile todeswund ihre Stimmer noch einmal erhebt, lebenslustig auf dem Bett in der Dachkammer ihre Füße baumeln lässt, während Rigoletto, eigentlich überfordert, das Geschehene zu verstehen, verzweifelt: Non morire, mio tesoro, no peietade! Und warum der Herzog in der verfallenen Schenke nach seiner Bravourarie La donna è mobile, insgeheim beobachtet von Gilda und Rigoletto, zwei Kurtisanen – jetzt wieder im Club – würgt, die links und rechts von ihm knien, bleibt eines der vielen Geheimnisse der Regisseurin.

Der Dirigent der Aufführung, Essens GMD Andrea Sanguineti, führt in einem Interview im Programmheft Beispiele für Verdis „außerordentlichen, ja revolutionären Kompositionsstil“ an. So die Verwendung des Chores oder die Weiterentwicklung der Cabaletta, der klassischen Arie. Es ließe sich auch und ganz besonders an den Verzicht auf herkömmliche Arien und Ensemblefinali denken, ferner an den Kunstgriff, die Oper als eine Kette von Duetten zu fassen. Unter seiner Leitung offenbaren die Essener Philharmoniker ein profundes Verdi- und Italianatá-Verständnis, in den pompös-dramatischen Passagen mit sattem Blech wie in den lyrisch-verhaltenen wie zum Beispiel in Untermalung des Duetts Addio, addio speranza ed anima von Gilda und Duca durch das solistische Cello und die einschmeichelnde Oboe. Die Herren des Aalto-Opernchors, bestens einstudiert von Bernhard Schneider, erfüllen nicht nur indirekt die Vorgabe der Regisseurin, den Zugang zum Club exklusiv lediglich Männern zu gestatten. Sie gestalten auch ihre Auftritte packend wie der „vierte Hauptdarsteller“, den Verdi in ihm sieht. Ihr Aufruf zur Rache Zitti, zitti, moviamo a vendetta geht regelrecht unter die Haut.

Gesungen wird durchweg auf großartigem Niveau. Allen voran der Bassbariton Claudio Otelli in der Titelpartie. Was die Inszenierung dem Publikum an Stimmigkeit in weiten Zügen vorenthält, liefert Otelli geradezu verschwenderisch. Mühelos auf betörender Linie in allen Registern bringt er die Kantabilität zur Geltung, mit der Verdi im Feueratem seiner künstlerischen Bestimmung diesen Rigoletto angelegt hat. Seine Fähigkeit, die Nuancen der Metamorphose vom hasserfüllten Außenseiter zum liebenden Vater auszudrücken, ist famos. Die aufkeimende Panik in Cortigiani, vil razza dannata wie den tiefen Schmerz angesichts der toten Gilda, die – noch einmal zurück zur Regie – aus der Dachkammer einfach verschwunden ist. Otelli sieht im Gegensatz zu anderen Interpreten der Figur keine Notwendigkeit, sich zurückzuhalten, um die kräftezehrende Strecke bis zum Ende durchzuhalten.

Die Partie der Gilda ist für Soprane, die einerseits das akrobatische Koloraturfach, andererseits die lyrische Gesangslinie beherrschen, eine Paraderolle. Katerina von Bennigsen lässt ihr Talent für beide Pole überzeugend aufscheinen. Die Sopranistin bewältigt den Part ungeachtet hörbarer Anstrengung in den Gipfelhöhen der Tessitura sicher, nimmt durch ihr Spiel für sich ein, in dem sich die erotische Neugier der jungen Frau mit der zärtlichen Liebe zum Vater die Waage halten. Ihr Können stellt sie insbesondere mit ihrer Arie Caro nome che il mio cor unter Beweis, in der sie sich den Namen des jungen Studenten einprägt, ohne zu ahnen, dass sie gerade einer Lüge des Duca anheimfällt

Alejandro del Angelsingt den Herzog mit latinisch geprägter Eleganz, vom lasziv-frohlockenden eleganten Questo o quello, der Sechsachtel-Ballade des Beginns. bis zur subtil-maliziös intonierten Canzone La donna e mobile im Finale. Es macht ihm auch augenscheinlich Laune, den charmanten Wüstling zu spielen. Almas Svilpa undLiliana de Sousa als Sparafucile und Maddalena sind das Geschwisterpaar des Todes mit intrigantem Spiel und vehementen Stimmen. Eine wunderbare Ergänzung von Gilda, Rigoletto und Duca ist de Sousa in Bella figlia dell amore, dem grandiosen Quartett im finalen Akt.

In den weiteren Rollen ist Verdi-Potential angesagt, Andrei Nicoara als Monterone, Marie-Helen Joël als Giovanna, Mykhailo Kushlyk als Borsa, Karel Martin Ludvik als Marullo, Sono Yu und Laura Kriese in den Rollen von Graf und Gräfin Ceprano.

Das Publikum im weiten Rund, das zahlreiche nicht besetzte Plätze aufweist, quittiert die künstlerischen Leistungen mit anhaltendem starkem Beifall, der sich angesichts der Sänger und des Dirigenten noch in Jubel steigert. Der Beifall gilt auch dem Regieteam, was als eine weitere Überraschung empfunden werden kann. Mit der musikalischen Rigoletto-Performance zur Spielzeiteröffnung jedenfalls weckt das Aalto Musiktheater berechtigte Erwartungen. Sie können nur enttäuscht werden.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright Foto: Matthias Jung

 

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