Gildas Vogelkäfig: Belcanto-Glück in einer partiell verstörenden Inszenierung

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Rigoletto Giuseppe Verdi Besuch am 15. Oktober 2023 Premiere

Theater Bonn

Gildas Vogelkäfig: Belcanto-Glück in einer partiell verstörenden Inszenierung

Ein musikalischer Glücksfall, Verdi-Raffinnesse im Graben und auf der Bühne. Eine Ausstattung voller Schauerbilder und dekorativer Pracht. Drei gute bis sehr gute Stimmen in den wichtigsten Partien. Und eine Buh!-Salve, vom Parkett bis hinauf in den zweiten Rang. Einmal, ungewöhnlich genug, in einer Szene des dritten Akts. Die Neuinszenierung des Rigoletto am Bonner Theater bietet alles, was einen Opernabend zum Erlebnis machen kann. Inklusive der Ungereimtheiten einer streckenweise tollkühnen Regie, die mehr will als Giuseppe Verdis hochpolitisches Melodramma mit dem Libretto von Francesco Maria Piave überhaupt hergibt.

Anders als Bonns Rigoletto 2009 in der psychedelischen Inszenierung von Bruno Berger-Gorski nun also ein Opernereignis, das zur Diskussion herausfordert und zum Quellenstudium bis hin zu Victor Hugos Versroman Le roi s’amuse von 1830. Venedig, Ort der Uraufführung von Verdis Oper, gehört nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49 wieder zur Habsburg-Monarchie. Hugos Abrechnung mit dem fürstlichen Wüstling Franz I. wollen die Zensoren nicht dulden. Aus dem König von Frankreich wird der Herzog eines kleinen fiktiven Fürstentums, aus dessen Hofnarr Triboulet Rigoletto. Am Welterfolg des ersten Stücks von Verdis Trilogia popolare hat dieser Eingriff freilich nichts ändern können.

Von Anfang an lässt Regisseur Jürgen R. Weber keinen Zweifel daran, was er mit seiner jüngsten Inszenierung für das Theater in der Bundesstadt beabsichtigt. Er deutet die Oberschicht der Spätrenaissance und ihre servilen Höflinge als patriarchalische Gesellschaft, als Sozialsystem der strukturellen Unterdrückung der Frau an sich. Gewalt und Missbrauch sind an der Tagesordnung, Empathie und Moral zu Lüge und Propaganda verkommen. Die Verwüstungen, die egomanische Männer in den Seelen von Mädchen und Frauen anrichten, sind nun aber, wie die Regie zeigen will, keineswegs ein Topos der Vergangenheit.

Weber deutet diese Sicht nicht plakativ, eher zurückhaltend an, etwa mit dem T-Shirt des Herzogs, das mit einem Totenkopfsymbol von heute dekoriert ist. Nicht so krass wie Jan Bosse in seiner Rigoletto-Inszenierung zum Verdi-Jahr 2013 an der Deutschen Oper Berlin, in der er dem Stoff durch Überstülpen einer äußeren Dimension eine gesellschaftlich relevante Bedeutung beizumischen sucht. Seine Idee kulminiert darin, die Protagonisten auf Flächen rund um den Orchestergraben auf engste Tuchfühlung mit dem Parkett agieren zu lassen. Seht, so Bosses Botschaft, zwischen den feixenden Höflingen zu Mantua und euch gibt es keine wesentlichen Unterschiede.

Weber hat für das Bonner Haus in den letzten Jahren eine Reihe von bemerkenswerten Produktionen herausgebracht, darunter Jonathan Doves Marx in London, Mauricio Kagels Staatstheater, Rolf Liebermanns Oper Leonore 40/45 im Rahmen des Projekts Fokus `33. Seine Rigoletto-Inszenierung ist unter dem Aspekt des Umgangs mit Gewalt eine Steigerung. Früh erfährt der Besucher, dass den wenigen, die sich überhaupt noch von dem verrotteten Personal am Hofe unterscheiden, nichts Gutes vergönnt ist. Nicht einmal ein Tod in Würde.

Schon zur Ouvertüre zeigt Weber einen Mord, den eine blonde Frau im Badeanzug vollzieht, der nicht im Textbuch steht. Was er sein könnte ist die Vision einer Rache der Gräfin Ceprano am Herzog, der ihr in Gegenwart ihres Mannes gegen ihren Willen Avancen macht. Opfer der Ruchlosigkeit des Duca sind danach in modernen Rollstühlen zu besichtigen.

Rechts eine der vielen malträtierten Frauen, die zudem noch von den Höflingen gehänselt wird. Links die traumatisierte Tochter des Grafen Monterone, eine symbolisch für den Urknall des Dramas, den Fluch gegen den Herzog, eingeführte Figur. Meist ist sie mit einer wie aus Wunden blutemden Baby-Puppe im Arm teilnahmslos Teil der Szene, was Folgen der Destruktion des Wüterichs für kommende Generationen andeuten mag. In stark emotionalisierten Situationen Gildas geht sie in rastlose Körperzuckungen über, die sich bis hin zu konvulsiven Ausfällen steigern.

Hank Irwin Kittels Ausstattung mit verschiebbaren kleinen Theatern, wo Statisten verkrüppelte Militärs aus den Feldzügen des Duca mimen, bunten Wandschirmen und einer Miniatur-Wiedergabe von Sparafuciles Hütte, setzt Webers Konzept der menschlichen Abgründe konsequent um. Gretchen Fan Webers Video-Sequenzen unterstreichen das Morbide der Szenerie. Beim Fluch Monterones sind auf dem Screen im Hintergrund Flammen zu sehen, später Würmer, die sich winden. Sich so winden wie Gilda in ihrer Zerrissenheit.

Der Clou ist ein vergitterter enger Rundbau, der an einen Vogelkäfig erinnert. Dessen prächtig ausgestattetes Obergeschoss ist nur über steile Treppen zu erreichen. Rigoletto versucht hier, seine Tochter aus Angst vor den Nachstellungen des Herzogs zu schützen. Für sein Empfinden ist Gilda ein verletzliches Vögelchen. Warum sie sich nur auf Krücken bewegt, warum sie an einem Bein eine Behinderung offenbart, bleibt freilich ein Rätsel. Notwendig ist dieses Attribut mitnichten. Schließlich beschreibt die Kantabilität, mit der Verdi gerade diese Figur anlegt, vollkommen, mit welchem Wesen wir es zu tun haben.

Die Charakterisierung der Personen fällt unterschiedlich aus. Weber lässt dem Gasttenor Ioan Hotea alle Freiheiten, das Maskuline des Duca voll auszuspielen. Dieser Wüstling hat Charme und Elan, so dass gut zu verstehen ist, warum Gilda in ihrer kindlichen Naivität sich in ihn verliebt. Ob es freilich eine gute Idee ist, die Frauenverachtung des Herzogs dadurch zu demonstrieren, dass er Gilda im Stile von Filmkomödien Charly Chaplins eine Torte in das Gesicht presst, darf vollauf bezweifelt werden. So empfindet es auch das Gros des Publikums, das diese Regiegeschmacklosigkeit mit wütenden Buh!-Rufen quittiert.

Doch primär geht es auch an diesem Abend um die Musik. Hotea singt den Duca vom lasziv-frohlockenden eleganten Questo o quello, der Sechsachtel-Ballade des Beginns. bis zur subtil-maliziös intonierten Canzone La donna e mobile im Finale prächtig.

Will ein Regisseur die tiefe menschliche Wahrheit und die dramatische Spannung im Beziehungsgeflecht der Handelnden aufzeigen, muss er das Doppelleben der Titelfigur zur Geltung bringen. Ist doch Rigoletto, der missgestaltete Narr und skrupellose Intimus des Herzogs, als gespaltene Persönlichkeit zu begreifen. Während er gnadenlos die diversen Opfer von Gewalttaten seines Herrn verspottet, lebt er selbst in der Illusion einer „reinen“ Eigenwelt. In dieser unternimmt er alles, Gilda aus dem Dreck heraushalten zu können, den er mit Wonne in aller Öffentlichkeit bedient.

Giorgos Kanaris gelingt ungeachtet intensiven Spiels die Zeichnung der Doppelbödigkeit des Rigoletto nur bedingt. So blitzt die Bösartigkeit seines Wesens nur selten auf, einmal in der Szene, in der er seinen explodierenden Hass auf den Duca in einem Angriff auf einen Kameramann entlädt, der für seinen Herrn Aufnahmen macht. Kanaris im Kostüm eines Gauklers oder Troubadours des Mittelalters erscheint zu sehr als jemand, der Mitleid verdient.

Zum Menschen wird er glaubhaft aber erst in dem Maße, wie der Selbstbetrug durch sein eigenes Tun zusammenbricht und Gilda Opfer seiner Rachefeldzüge wird. Berührend gestaltet Kanaris die Kantilenen des Rigoletto. Cortigiani, vil razza dannata, seine flehentliche Beschwörung der Höflinge, Gilda freizulassen, steigert er mit seinem am Liedgesang geschulten Bariton zu einer Preciose der Aufführung.

Die Partie der Gilda ist für Soprane, die einerseits das akrobatische Koloraturfach, andererseits die lyrische Gesangslinie beherrschen, eine Paraderolle. Anastasiya Taratorkina lässt mit ihrer Begabung für beide Pole ihrem Wiesbadener Debüt nun eine neuerlich überzeugende Gilda folgen. Die Sopranistin bewältigt die Partie mühelos, verzaubert durch ihr Spiel, in dem sich die erotische Neugier der jungen Frau mit der zärtlichen Liebe zum Vater die Waage halten. Ihr Belcanto-Können stellt sie insbesondere mit ihrer Arie Caro nome che il mio cor unter Beweis, in der sie sich den Namen des jungen Studenten einprägt, ohne zu ahnen, dass sie gerade einer Lüge des Duca anheimfällt. Beim Des-dur Abschied der sterbenden Gilda, den Taratorkina ergreifend zeigt, ist es im Hause absolut still. Er wird wie Bella figlia dell amore, das grandiose Quartett im finalen Akt, im Gedächtnis bleiben.

Pavel Kudinov und Charlotte Quadt als Sparafucile und Maddalena verkörpern mit intensivem Spiel das Geschwisterpaar des Todes. Weber lässt sie durchgehend mit einem breiten dunklen Gürtel auftreten, der beide fest aneinanderbindet. Das Bild stimmt aber nur bedingt, da Maddalena im Disput über die Frage, wer nun ermordet werden soll, ihrem Bruder widerspricht. Die Sängerdarsteller in den weiteren Rollen reihen sich in die insgesamt vorzügliche Ensembleleistung ein. Martin Tzonev als Monterone, Mark Morouse als Marullo, Soowon Han als Graf und Miriam Rippel als Gräfin von Ceprano, Viktor Campos Leal als Borsa, Ingrid Bartz als Giovanna.

Daniel J. Mayr am Pult des Beethoven Orchester Bonns setzt tief erfüllt von Verdis Italianatá alles daran, die Klangfarben der Partitur zum Blühen und die Melodik der Kantilenen zum Leuchten zu bringen. Auch im fabelhaften Zusammenwirken mit Chor & Extrachor des Theaters Bonn. Er und Chorleiter Marco Medved nehmen nach dem Schlussvorhang den tosenden Jubel des Publikums entgegen, der sich noch stärker über dem Sängerensemble, vor allen den Gestaltern der drei Hauptpartien entlädt.

Weber bleibt danach angesichts der lautstarken Ablehnung seines Konzepts nur eine Geste der Verlegenheit. An diese werden sich in einiger Zeit vermutlich nur wenige erinnern. Prima la musica, der erste Halbsatz über einem Divertimento teatrale von Antonio Salieri, gilt auch für diesen Opernabend.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright: Hans Jörg Michel

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