Das Drama der Realitätsblindheit bei Nacht und Nebel

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Guiseppe Verdi Macbeth Besuch am 15. Juni 2022 (Premiere 12. Juni 2022)

Michael Thalheimer zeigt das Drama der Realitätsblindheit bei Nacht und Nebel

Rheinoper Düsseldorf Theater Duisburg

Michael Thalheimer ist ein ausgewiesener Theaterregisseur, bekannt vor allem mit Inszenierungen am Berliner Ensemble. Relativ spät findet der gelernte Schauspieler zur Opernregie. Katja Kabanova ist 2005 an der Berliner Staatsoper sein Erstling. Ein Jahr darauf folgt seine erste Verdi-Oper, Rigoletto in Basel. Sein Verdi-Otello, 2016 an der Düsseldorfer Rheinoper herausgebracht, zeigt sein Faible, das Drama der eingesperrten Seele auf ein Minimum an Sichtbarkeit zu reduzieren. Dies zudem noch in völlige Düsternis zu tauchen. Unmittelbar hieran scheint jetzt seine Inszenierung von Verdis Macbeth an der Deutschen Oper am Rhein anzuschließen, die das Spiel mit der Schwärze der menschlichen Niedertracht noch um eine Drehung in die absolute Nacht steigert.

Die Saison 2018/19 ist Thalheimers Doppelbegegnung mit Shakespeares archetypischer Tragödie. Am Berliner Ensemble inszeniert er Heiner Müllers Macbeth, an der Opera Ballet Vlaanderen in Antwerpen Verdis Werk, die zweite der sieben Literaturopern des Komponisten. Die Koproduktion mit der Rheinoper erlebt nun im Theater Duisburg mit gänzlich neuer Besetzung ihr Debüt, corona-bedingt zwei Jahre nach der ursprünglich geplanten Premiere. Zu erleben, zu erleiden streckenweise in einem Konglomerat von Nacht und Nebel ist eine Reduktion auf das Psychopathologische des Dramas, die unter dem Schrecken des aktuellen Kriegsgeschehens nur eine halbwegs positive Botschaft erlaubt: Die Usurpation der Macht durch die kriminelle Aneignung der Macht ist die Gewissheit ihrer Zerstörung durch eine neue verbrecherische Macht. Stehen Mord und Vernichtung am Anfang des Weges, bilden Vernichtung und Mord ihr Ende.

„Macbeth und die Lady“, erklärt Thalheimer, „führen eine symbiotische, aber auch toxische Beziehung.“ Ihr „unglaublicher Machtinstinkt“ bewahre sie indes nicht davor, an Überforderung zu scheitern, nachdem sie die Krone errungen hätten. Der freie Wille, sich für oder gegen die Macht zu entscheiden, führt demnach nicht in die Selbstbestimmung, sondern geradewegs in ihr Gegenteil, den Wahn und die physische Vernichtung. Damit schließt der Regisseur indirekt an die Entdeckung des Individuums in der Renaissance. Sieht man in der Antike - nicht zuletzt mit ihren unerschöpflichen Stoffquellen für die Kunst der Oper - den Menschen als Spielzeug der Götter, betritt nunmehr der autonome Mensch die Szene. Nur dass dieser Mensch wie der Feldherr und spätere König nicht davor gefeit ist, falsche Entscheidungen zu treffen, die in den Tod führen. Ausschlaggebend hierfür sind bei Thalheimer Machtgier, Überheblichkeit und eine stupende Realitätsblindheit, die das Drama auf bestürzende Weise zeitlos und somit aktuell machen.

Die Maxime des Regisseurs, die Protagonisten in ihrer Verblendung zu zeigen, in der sie buchstäblich nicht sehen, wird gleich mit der Ausstattung deutlich. Agieren Macbeth und die Lady in der Mailänder Eröffnungsinszenierung von Davide Livermore zur Spielzeit 2021/22 in der Glitzerwelt heutiger Megacitys aus Glas und Beton, gibt der sich allmählich verflüchtigende Nebel in Duisburg einen von Henrik Ahr geschaffenen Bühnenraum frei, dessen Struktur Skateboarder als Halfpipe kennen. Eine von Stefan Bolliger mit sparsamstem Licht bedachtes überdimensionales stählernes Becken, in dem zu verenden droht, wer ungewollt dort hineinrutscht. Ein Bild, das peinigende Assoziationen an Butscha oder weitere Orte der Gräuel gegenwärtig in der Ukraine hervorruft.

Die Kostümbildnerin Michaela Barth bevorzugt dunkle Schottenröcke. Im Verein mit dem zotteligen langen Haar, das sie den Akteuren uniform überstülpt, sollen sie die Suggestion erwecken, als würden alle Geschlechterklischees auf den Kopf gestellt. Diese Absicht verrät Thalheimer in den Programminformationen. Es erscheint aber intellektuell aufgesetzt. Übermäßig maskulin ist Lady Macbeth keineswegs, da sie ja durchaus aus einer erotisch-orgiastischen weiblichen Veranlagung begehrt und zerstört. Allein die weißblonden Perücken der Hexen und die fast weiße Perücke von Annette Hörle als Solo-Hexe durchbrechen das Schwarz-Grau einer Szene des Schauderns. Wie das Rot des reichlich strömenden Bluts.

Im Konzept der autonomen, aber destruktiven Charaktere entscheidet sich Thalheimer in seiner Personenführung immer wieder mehr als Theater-, denn als Opernregisseur. Die Hexen, die Macbeth mit ihren fatalen Prophezeiungen zermürben, werden in einer lockeren Formation über die Ränder der Wanne verteilt, was dem so entstehenden Bild, nicht aber der vokalen Homogenität des Chors der Frauen bekommt. Nach der Ermordung Duncans ist Macbeth unablässig damit beschäftigt, das Blut von seinen Armen zu kratzen, was den Affekt der Situation, nicht aber den Effekt der vokalen Präsenz fördert. Und weil dem Regisseur dieser Affekt offenkundig gefällt, dehnt er ihn danach auch auf die Lady aus, der das Blut nur so über die Oberarme schießt. Ständig werden von unterschiedlichen Akteuren Hände gerungen und Arme wie in einem Ballett der Einfallslosigkeit rotiert, was die Konzentration auf die musikalische Essenz nicht gerade befördert.

1846, im Jahr der Komposition von Macbeth für das Teatro La Pergola in Florenz, schreibt Verdi an seinen Librettisten Francesco Maria Piave: „Diese Tragödie ist eine der größten Schöpfungen des Menschen. Wenn wir daraus nichts wirklich Großes machen können, so wollen wir versuchen, mindestens etwa zu tun, was sich oberhalb des Üblichen bewegt.“ Verdis Unterfangen mit Shakespeare mag eine erste Hinwendung zum wahren Drama sein, das erstmals wesentlicher wird als der artifizielle Gesang, wie er im Belcanto eines Rossini und Bellini zuvor bestimmend ist. Das „Oberhalb des Üblichen“ liegt allerdings nicht in der Wahl des Stoffes. Nicht in der dramaturgischen Charakterzeichnung der Lady und des Königs. Sondern in der modernen Gestalt der Partitur, die Verdis zehnte Oper über alle zuvor erhebt und auf Großes in der Zukunft verweist.

Exakt an dieser musikalischen Grenzüberschreitung reibt sich das Publikum sowohl bei der ersten wie bei der zweiten Fassung, die Verdi 1865, bald zwanzig Jahre nach dem ersten Aufschlag, für Paris erarbeitet. Die Vorbehalte entzünden sich am Fehlen eines primo tenore und an der Aussparung sämtlicher Liebesarien und -duette. Opera senz‘amore, lästern Kritiker. In der zweiten Fassung, die auch der Produktion der Rheinoper zugrunde liegt, tastet Verdi dies nicht an. Er überabeitet lediglich einige Nummern, ersetzt im Finale den Monolog des sterbenden Macbeth durch das Salve, o re des Chores. Diese Hymne wird für den obsiegenden Macduff wie ein roter Teppich für die Verkündung seines Versprechens ausgerollt, König und Land zu versöhnen: S‘affidi ognum al re.

Musikalisch ist die Performance von Verdis Ausbruch aus der Musikkonvention seiner Zeit über die Strecke der vier Akte ein Gewinn. Die Duisburger Philharmoniker spielen unter der Leitung von Stefan Blunier einen beherzten wie erfüllten Orchesterpart, halten ungeachtet der Brüche in der Partitur eine expressive Linie durch, der sich die Bühnenmusik auf und hinter der Szene patent einfügt. Allerdings forciert der frühere Bonner GMD in den Tutti-Passagen häufig zu stark auf einen voluminösen Generallevel. Dabei lässt die Partitur sehr wohl Nuancen zu. Eine Wucht ist der von Gerhard Michalski einstudierte Chor der Deutschen Oper am Rhein, auch wenn die Abstimmung zwischen Bühne und Orchester bisweilen hapert. Ein düsterer Spaß vom Feinsten ist der Chor der Frauen alias Hexen, als Macbeth zu Beginn des dritten Aktes Auskunft über sein weiteres Schicksal begehrt. 

Der isländische Bariton Hrólfur Sæmundsson ist ein beseelter, verletzlicher, letztlich erbarmungswürdiger Macbeth, der seiner Lady widerstandslos ausgeliefert ist. Berührend in den lyrischen Passagen mit einer Mittellage, die an Renato Bruson in der selben Partie erinnert. Allerdings zu behutsam in den Momenten, da auch er sich von der Gier zur Macht überwältigen lässt. Die polnische Sopranistin Ewa Plonka, die in der tragenden Rolle der Lady Macbeth ihr Rollendebüt gibt, erleidet im Finale des zweiten Aufzugs einen Asthmaanfall, möglicherweise ausgelöst durch den reichlichen Bühnennebel. Sie steht indes die Partie couragiert durch, auch wenn sie sich in der Schlafwandelszene der Lady - ein in einen Rahmen eingefügtes eigenwilliges Arioso - erkennbar zurücknimmt. Insgesamt eine überzeugende Leistung, zumal sie die dämonischen Züge der Anstifterin zum Mord auch im Spiel zur Geltung bringt.

Der Bass Bogdan Taloș ist als Darsteller des Feldherrn Banco wie dessen Geist eine prägnante Erscheinung. Ovidiu Purcel nutzt als Macduff die rare Chance, mit der Tenorarie Ah, la paterna mano seine schöne Stimme zu präsentieren. David Fischer gibt Malcolm achtbar.

Das Publikum im bei sommerlichen Temperaturen nicht zur Gänze besetzten Haus honoriert die Leistungen des Sängerensembles, des Orchesters und ganz besonders des Chores mit anhaltendem Beifall, der allmählich wie bei einem Rossini-Crescendo anschwillt. Opern- und Verdi-Freunden beschert die Rheinoper noch eine ganze Reihe von Chancen, diesen Macbeth zu erkunden. Der Aufführungsserie im Theater Duisburg schließt sich eine weitere zu Beginn der neuen Spielzeit im Opernhaus Düsseldorf an. Termin der zweiten Premiere ist der 4. September.

Dr. Ralf Siepmann

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