
Klangvokal Musifestival Dortmund Konzerthaus
Stiffelio Giuseppe Verdi Besuch am 6. Juni 2025 Einmalige Aufführung
Begeisternde Aufführung eröffnet dem finsteren Drama Chance einer Neubewertung
Die Auseinandersetzungen von Giuseppe Verdi mit der Zensur sind ein Begriff. Man denke an Luisa Miller und insbesondereUn ballo in maschera. Die Konflikte beleuchten wie in der Nussschale die politischen Verhältnisse in Italien zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Weniger bekannt ist die Repression der k.u.k.-Zensur, der 1850 in Triest Verdis Melodrama Stiffelio ausgesetzt ist. Die Folgen mehrerer Eingriffe sind einer der Gründe, warum das Werk mehr als ein Jahrhundert aus den Spielplänen der Musiktheater verschwindet. Eine vom Komponisten sechs Jahre nach dem durchwachsenen Erfolg von Stiffelio am Teatro Grande in Triest unter dem Titel Aroldo erarbeitete Fassung, die das ursprüngliche Werk massiv verändert und seiner wesentlichen Intention beraubt, gelangt zwar 1857 auf die Bühne des Teatro Nuovo in Rimini. Sie vermag sich aber in der Folgezeit nicht durchzusetzen. Stiffelio – ein Lehrstück des ewigen Konflikts zwischen autoritärer Politik und der Freiheit der Kunst.
Umso verdienstvoller ist die Entscheidung der Verantwortlichen von Klangvokal Dortmund zu bewerten, dem Dreiakter auf ein Libretto von Francesco Maria Piave in der 17. Ausgabe des Musikfestivals im Konzerthaus der Stadt zu einer Wiederbelebung zu verhelfen. Gewiss würde eine inszenierte Fassung, vergleichbar etwa der Produktion von Giancarlo del Monaco 1993 für die New Yorker Met, einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Drama, das sich zwischen Liebe, Eifersucht, Moral und Rache bewegt, mehr genügen. Doch ist mit der Dortmunder Reaktivierung vielleicht ja schon ein Anfang gesetzt.
Die Handlung der Oper beruht auf dem 1849 uraufgeführten Schauspiel Le pasteur, ou L’évangile et le foyer von Émile Souvestre und Eugène Bourgeois. Sie spielt im Schloss des Grafen Stankar an der Salzach zu Salzburg. Stiffelio, ein evangelischer Pfarrer, ist mit der Tochter Stankars, Lina, verheiratet. Lina begeht während einer längeren Abwesenheit Stiffelios Ehebruch mit Raffaele Leuthold, einem notorischen Verführer. Der Geistliche erfährt von dem Treuebuch seiner Frau und sieht sich vor den Gewissenskonflikt gestellt, ob er sich an dem Verführer rächt und seine Frau verstößt oder Vergebung übt. Lina plant die Flucht mit Raffaele, vertraut aber Stiffelio in einer Beichte an, ihn immer noch lieben zu wollen. Stancar will die Ehre der Familie wieder herstellen und tötet den Verführer.
Im Schlussbild in der Kirche schlägt Stiffelio in seiner Predigt willkürlich eine Seite in der Bibel auf. Auf ihr wird die Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin berichtet. In ihr heißt es Wer unter Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. Er zitiert die Stelle Und die Frau erhob sich. Gott hatte ihr vergeben und richtet dabei seinen Blick auf Lina. Mit einem strahlenden perdonata durch Lina und den Chor wird die Vergebung bekräftigt. Der Ausgang des Geschehens bleibt indes in der Schwebe.
Stiffelio steht im Werkverzeichnis zwischen Luisa Miller und dem Melodrama Rigoletto, mit dem Verdis Erfolgstrias der mittleren Schaffensperiode beginnt. Die Oper markiert allerdings sehr viel mehr als eine Zwischenetappe. Die Partitur nimmt mit neuartigen musikalischen Ausdrucksmitteln Verdis Musiksprache der kommenden Werke bis hin zum Othello vorweg. Mit der unprätentiösen parlandoähnlichen Stimmführung der Solopartien, die die Eigenart des Belcantos, den melodiösen Purismus, hinter sich lässt, deutet sich die Perspektive eines Gesangsstils frei von dekorativen Ziselierungen an. Auch dieser immer noch als befremdlich empfundene „Stilbruch“ dürfte zusammen mit dem etliche Opernanhänger befremdenden Thema zu den Gründen zählen, warum Stiffelio bis heute in den Kernrepertoires der Musiktheater ein Schattendasein führt.
Unter der Leitung von Lorenzo Passerini, der alle Tugenden eines italienischen Kapellmeisters in die Leitung des WDR Funkhausorchesters investiert, allerdings häufig allzu exaltiert agiert, erschaffen die Instrumentalisten einen glühenden Verdi-Sound. Machtvoll im Blech und in der Performance der Orgel, vor allem im Finale, beseelt im Klangbild der Streicher. Schon die ungewöhnlich lange Ouvertüre mit ihrem das Schicksalhafte des Geschehens ankündigenden Trompetensolo, das sogar Assoziationen an das Jüngste Gericht auszulösen vermag, gibt die affektgeladene Stimmung des Dramas vor. Zugleich lässt es die exponierten Rhythmen der Trompete in der Schlussszene anklingen, was Verdis Fähigkeit zur Ausmalung packender Szenen einmal mehr unterstreicht. Die auf wenige dramatische Gesten reduzierte finale Szene, nur mit rezitativen Versen gestaltet, gilt als das Revolutionärste, was Verdi bis dahin komponiert.
Der von Rustam Samedov, Chordirektor an der Oper Köln, einstudierte WDR Rundfunkchor ist dem Orchester wie dem Sängerensemble ein fulminanter Partner, auch durch eine variantenreiche Nutzung von Empore und Rang. Eindrucksvoll und bewegend sein Part als Psalm singende Gemeinde in der Schlussszene Non purnimi, Signor, nel tuo furore. Zuvor auch schon mit einer anderen Farbe, der fast trivialen Sequenz am Schluss des ersten Aktes, der Buffa-Bezüge immanent sind.
In den vier Hauptpartien sowie in den drei weiteren Rollen – George Andguladze als Jorg, Anton Kuzenok als Federico, Verena Kronbichler als Linas Cousine Dorothea – erreicht das Sängerensemble überzeugendes Verdi-Format. Diese stimmliche Ausgewogenheit ist auch insofern von Bedeutung, als dass – ungewöhnlich genug – mit dem Septett schon in der Introduktion Di qua varcando die Stimmung der geheimnisvollen Vorgänge beschworen wird. Sie würde auch zu einem Roman von Edgar Allen Poe passen.
Anders als in den Werken von Verdis früher Schaffensperiode wie Ezio in Attila ist die Titelfigur nicht ein Bariton, sei es Feldherr oder Intrigant, sondern ein leidenschaftlicher Liebhaber mit allen Fasern seiner Existenz – ein Tenor, mit anderen Worten. Es dürfte äußerst zweifelhaft sein, ob der Mensch Stiffelio sich tatsächlich an die Verheißung der Bibel halten wird. Der aus Sizilien stammende Angelo Villari verkörpert Stiffelio bei seinem Rollendebüt mit silberhellem Timbre und flexiblen vokalen Farben. Schwankend zwischen elegischer Versenkung und aufbrausender Wut im lang gezogenen Dialog Non ha or ne un accento mit Lina im ersten Akt. Außer sich vor Schmerz in Non punirmi, Signor, nel tuo furore, als der aus der Kirche auf den Schlossfriedhof herüber wehende Psalm ihn daran hindert, sich auf Raffaele zu stürzen. Beherrscht, nahezu introvertiert in der Schlussszene auf der Kanzel.
Die südafrikanische Sopranistin Pretty Yende, ebenfalls Rollendebütantin, gestaltet den Reifeprozess, den Lina von der mädchenhaft jungen Frau zur verzweifelten Frau durchläuft, die mit aller Macht ihre Ehe zu retten versucht, mit Charisma und profunder Emotionalität. Beklemmend ihr Reuebekenntnis Tosto ei disse! im ersten Akt, mit dem sie Stiffelio um Vergebung bittet. Beseelt und verloren zugleich in Oh cielo! Dove son io? auf dem Friedhof. Erstmals baut Verdi in die Rolle von Pausen durchbrochene Phasen ein, den sogenannten zerhackten Gesang. Dieser canto spezzato findet häufig Verwendung, wenn sich Verdis Figuren wie in Don Carlo ihrer Ausweglosigkeit bewusstwerden. Yende macht aus der fordernden Partie das bewegende Drama einer Frau, die dem Gefühl folgt und dabei tiefe Menschlichkeit offenbart.
In der Partie des Reichsgrafen Stankar ist der südkoreanische Bariton Insik Choi von der Oper Köln, der für den wegen Krankheit verhinderten Gabriele Viviani einspringt, die positive Überraschung der Aufführung. Er beeindruckt mit virtuoser Souveränität in allen Lagen. Bestimmend in Dita che il fallo a tergere, als er die Familienehre über die Empfindungen Linas stellt. Flehentlich in Lina, pensai che un gangelo, was schon auf den Monolog König Philipps in Don Carlo vorausweist. Machtvoll in der Szene des verhinderten Duells. Voll grimmiger Freude in Oh gioia inesprimebile, als er, eigentlich entschlossen zum Freitod, erfährt, dass er sich doch noch an Raffaele rächen kann.
Dieser Raffaele ist für das Sozialdrama eine elementare, für das Musikdrama hingegen keine zentrale Figur. Der portugiesische Tenor Carlos Cardoso, im Ruhrgebiet aus seiner Zeit am Aalto Theater Essen vielen noch bekannt, überzeugt mit seinen wenigen Auftritten wie M’evitan, in denen er die Handlung vorantreibt. Nicht zuletzt in den verschiedenen Ensemblenummern.
Das Publikum im fast ausverkauften Haus überschüttet die Instrumentalisten, den Chor und die Solisten, insbesondere die Interpreten der Hauptpartien sowie den Dirigenten mit Beifall und begeistertem Jubel. Reichlich Szenenapplaus hat es nach fast allen Gesangsnummern sowie der Ouvertüre bereits gespendet. Was als Bonus für die Künstler gemeint ist, offenbart freilich eine Gegenseite. Wenn der komplexe Spannungsbogen des Stücks fortwährend unterbrochen wird, vermag sich das Gespür für das kaum bekannte Drama nur noch bedingt einzustellen. Zumal dann, wenn mit Passerini ein Dirigent die Effekte der Partitur und ihrer Interpretation durch die Sänger noch steigert, bis hin zur Theatralik.
Was aber bleibt, ist der Eindruck eines herausragenden Abends in der Geschichte des Festivals.
Dr. Ralf Siepmann
Copyright Foto: Oliver Hitzegrad
08. Juni 2025 | Drucken
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