Hauptsache Satire! – Bayreuth Baroque startet mit Neuinszenierung von Händels Flavio

Xl_a7879c4c-1193-49f7-9287-53714ccf0d52 © Falk von Traubenberg

Georg Friedrich Händel Flavio Bayreuth Baroque 7. September 2033

Hauptsache Satire! – Bayreuth Baroque startet mit Neuinszenierung von Händels Flavio

Zum Auftakt des vierten Bayreuther Barockfestivals ist am 7. September erstmals Georg Friedrich Händels selten gespielte Oper Flavio, re de‘ Longobardi über die Bühne des Markgräflichen Opernhauses gegangen. Üppige Kostüme, virtuose Koloraturen, Starbesetzung – „Willkommen im Barockhimmel!“ Die Produktion macht dem diesjährigen Festival-Motto alle Ehre. Das Premierenpublikum zeigt sich begeistert.

Die Story – angesiedelt im Italien des Frühmittelalters – ist ziemlich verzwickt: Zwei Liebespaare wollen im Grunde nur ihre Ruhe haben. Emilia und Guido planen schon ihre Hochzeit. Ihre Väter, die königlichen Berater Lotario und Ugone, sind einverstanden und heißen die Verbindung gut. Das zweite Paar (Ugones Tochter Teodata und der königliche Adjutant Vitige) hält seine Liaison bislang geheim. So weit, so gut – wäre da nicht der Langobardenkönig Flavio. Der hat, obgleich verheiratet, ein Auge auf Teodata geworfen und versucht in absurden Situationen, sich ihr zu nähern. Schließlich muss sogar Vitige selbst im Namen des Königs für ihn werben, und obwohl sich Vitige und Teodata heimlich ihre Treue geloben, ist das Eifersuchtsdrama vorprogrammiert. Doch damit nicht genug: Um ihn loszuwerden, erklärt Flavio Ugone zum neuen Statthalter Britanniens. Lotario, der selbst auf diesen Posten geschielt hat, fühlt sich übergangen und ohrfeigt Ugone. Deshalb soll Guido die Ehre seines Vaters rächen und tötet den künftigen Schwiegervater Lotario im Duell. Eine Katastrophe! Emilia ist (verständlicherweise) außer sich, kann andererseits aber nicht von Guido lassen. Spätestens hier wird klar: So ernst kann das alles nicht gemeint sein. Schließlich ist es an Flavio, den Frieden wiederherzustellen. Er überlässt Teodata Vitige und vermählt Emilia mit Guido. Die Oper schließt mit dem obligatorischen lieto fine.

Flavio gehört zu Händels Opern im „gemischten Stil“, vereint also tragische Elemente wie etwa Lotarios Duelltod mit komischen Szenen um den Lüstling Flavio. Das Programmheft verrät, dass es sich bei dieser Oper um eine „scharfe, bitterböse und schonungslose Satire“ auf die damalige englische Politik handelt und dass das zeitgenössische Publikum zahlreiche Handlungselemente realen Vorfällen und Polit-Skandalen zuzuordnen wusste. Wahrscheinlich verlegt Regisseur Max Emanuel Cencic die Handlung deshalb auch in ein barockes Setting. Das Bühnenbild (Helmut Stürmer) besteht aus einer riesigen, durch Fenster und Türen aufgelockerten spanischen Wand. Durch Neuanordnung ihrer einzelnen Komponenten entstehen immer neue Räume auf der Bühne, ergänzt durch einige Sitzmöbel und ein pompöses, königliches Himmelbett. Das ist ebenso sparsam wie wirkungsvoll und schafft sehr schöne Bilder, die den Gesellschafts- und Genregemälden des frühen 18. Jahrhunderts entlehnt scheinen (u.a. William Hogarths Zyklus Marriage A-la-Mode stand hier offenbar Pate). Interessanterweise befinden wir uns offenbar nicht am englischen, sondern am französischen Königshof. Auch die Kostüme (Corina Grămoșteanu) verweisen – samt Allongeperücken und Fontangen – auf Frankreich um 1700. Flavio wird als Ludwig XIV. dargestellt, dem der Hofstaat bis in intimste Situationen folgt. So ist man Zeuge, wenn er etwa ein Bad nimmt oder äußerst widerwillig und, von seinen barbusigen Mätressen unterstützt, auf offener Bühne mit der ungeliebten Gattin die Ehe vollzieht – ein wohl lustig gemeinter Regieeinfall, dessen Komik aber weitgehend verpufft. Schließlich braucht es später noch das tatkräftige Eingreifen des Hofzwergs (sehr überzeugend und würdevoll gespielt von Mick Morris Mehnert), damit die Königin endlich schwanger wird. Auch die eingefügte Figur des Hofzwergs ist ein origineller Regiegedanke – man erinnert sich an Gemälde von Diego Velázquez –, doch nach auch dieser Beischlafszene bleibt der Nachgeschmack eines leicht abgestandenen Altherrenhumors. Ansonsten ist die (Personen-)Regie locker und dynamisch gestaltet, Stillstand wohldosiert eingesetzt. Die Handlung spielt sich weitgehend als Intrigenspiel der Hofschranzen ab. Schauspielerisch wird vieles ins Groteske überzeichnet, was dem Ganzen einen Hauch Telenovela-Charakter verleiht. Das überzeugt und passt meist sehr gut, kann zuweilen aber auch unangenehm stören. Wenn etwa Emilia am Ende des zweiten Aktes ihre wunderschön-traurige Siciliano-Arie Ma chi punir desio? singt und man einfach nur mit dieser jungen Frau mitleiden möchte, die eben ihren Vater verloren hat, wirkt Händels Musik von ganz alleine. Da bräuchte es nicht noch das endlose Schluchzen von Lotarios Witwe – ebenfalls eine für die Inszenierung eingefügte Figur –, um zu unterstreichen, dass „Trauer“ der vorherrschende Affekt der Szene ist.

Der stimmliche Gesamteindruck des spielfreudigen Ensembles ist indes sehr gut. Julia Lezhneva, seit Jahren schon Stammgast bei Bayreuth Baroque, begeistert das Publikum in der Rolle der Emilia. Die vielen, kontrastreichen Arien ihrer Partie meistert sie scheinbar mühelos. Besonders anrührend gestaltet sie langsame Nummern wie Parto, sì e crudo oder Ma chi punir desio?, die sie üppig auszuzieren weiß. In schnellen Arien stellt sie ihre beeindruckende Koloraturen-Geläufigkeit unter Beweis. Die lässt in der Arie Da te parto sogar den selbstsicheren Macho Flavio erschrocken auf seinem Stuhl wie ein ängstliches Kind in sich zusammensinken. Bei all dieser stimmtechnischen Perfektion ist es manchmal schade, dass Lezhneva  vereinzelte Nachsilben so leise zurücknimmt, dass sie im Zuschauerraum kaum noch ankommen. Ihr Bühnen-Geliebter Guido wird von Regisseur Max Emanuel Cencic dargestellt. Sein warmer, dunkler und sehr Vibrato-reicher Counter trägt ihn souverän durch alle Herausforderungen seiner Partie: Grandiose Virtuosität (etwa in Rompo i lacci) trifft auf ein Legato, das zutiefst bewegen kann (etwa in der besonderen, im fremdartig-düsteren b-Moll gehaltenen Arie Amor, nel mio penar am Ende der Oper). Doch Cencic ist nur einer von drei Countertenören. Zu ihm gesellt sich Rémy Brès-Feuillet in der verhältnismäßig kleinen Rolle des Flavio, die er in einem faszinierenden Spagat zwischen machohaftem Auftreten und androgyn-weicher Tongebung anlegt. Die Rolle des dritten Liebhabers Vitige wurde bei der Uraufführung 1723 von der auf Hosenrollen spezialisierten Mezzosopranistin Margherita Durastanti übernommen. In Bayreuth hat man die Rolle männlich besetzt, und zwar mit dem ukrainischen Countertenor Yuriy Mynenko – definitiv eine gute Entscheidung! Seine Sopranstimme klingt wunderbar hell und glasklar, sodass er sich auch jederzeit problemlos gegen das Orchester behaupten kann. Ein besonderes Highlight ist seine Eifersuchts-Arie Sirti, scogli, tempeste im dritten Akt. Die Partie seiner Geliebten Teodata liegt dagegen viel tiefer – kein Problem für die Altistin Monika Jägerová. Sie spielt die Rolle nicht nur urkomisch – wenn sie in ihrer Arie Che colpa è la mia ihren eifersüchtigen Geliebten geradezu ankeift, bleibt kein Auge trocken! –, sondern singt auch wunderschön. Leider wird sie hin und wieder vom Orchester überdeckt. Der Schweizer Tenor Fabio Trümpy übernimmt die Rolle des wehleidigen, in seiner Ehre gekränkten Brautvaters Ugone und erweist sich als ideale Besetzung für diese Partie. Sein Tenor klingt direkt und ist gleichzeitig flexibel und geläufig. Die unangenehmen Koloraturen in seiner Arie Fato tiranno gehen ihm so leicht von der Hand – oder besser gesagt: aus der Kehle –, dass er nebenher noch seine Bühnentochter Teodata züchtigt: Eine grotesk-komische Szene! Ausgezeichnet spielt auch Sreten Manojlovic in der Rolle des Lotario. Sein glänzend heller Bassbariton ist vielleicht nicht jedermanns Geschmack, fügt sich aber überraschend gut in die Akustik des Markgräflichen Opernhauses.

Im Graben sitzt das 26-köpfige Barockorchester Concerto Köln, das Benjamin Bayl, vom Cembalo aus anleitend, zum idealen Klangkörper für Händels Musik geformt hat. Streicher und Continuo-Gruppe – quasi das Rückgrat von Händels Orchestersatz –, sind hervorragend aufeinander abgestimmt und treffen immer den richtigen Affekt. Zur Bereicherung der Klangfarben treten Fagott, Oboen, Block- und Querflöten hinzu und fügen sich sensibel und intonatorisch exzellent in den Streicherklang ein. Zu besonderer Geltung kommt das Orchester nicht zuletzt in den zahlreichen kurzen und stilistisch höchst abwechslungsreichen Umbaumusiken, die in das Werk eingefügt wurden. So erklingen zum Umbau während der vielen Szenenwechsel immer wieder Einzelsätze aus Instrumentalwerken (u.a. Händel’scher Concerti grossi), teils Ouvertüren, teils Tanzsätze, die in dieser Oper ursprünglich nicht vorgesehen waren. An einer Stelle wurde sogar eine französische Arie einer Hofdame mit Lautenbegleitung eingefügt. All das ist durchaus legitim – funktionierte doch das Dramma per musica im 18. Jahrhundert bereits nach dem Baukasten-Prinzip: Es war damals gang und gäbe, Musiknummern zu streichen und Nummern aus anderen Werken zu integrieren. Allerdings zieht sich Flavio,re de‘ Longobardidadurch ein wenig in die Länge. Und schlussendlich sucht man im Programmheft auch vergeblich nach einer Auflistung der eingefügten Nummern. Das ist sehr schade, denn einige Informationen darüber wären sehr interessant gewesen. Insgesamt ist das Programmheft v.a. um Einordnung des Flavio in den zeitgenössischen Kontext bemüht, während detaillierte Ausführungen zur Musik weitgehend fehlen.

Dem Operngenuss tut dies gleichwohl keinen Abbruch. Als nach dem etwas irritierenden lieto fine (Doni pace ad ogni core quella gioia che spari!) der Vorhang fällt, dankt das begeisterte Premierenpublikum mit Bravo-Rufen und Standing Ovations für alle Beteiligten. Wie schön, dass man in Bayreuth auch diesem selten gespielten und nicht ganz so leicht zugänglichen Werk eine Chance gibt!

Stefan Fuchs

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