David Pountny treibt das Melodramma in den Totentanz, Willi Humburg das Orchester Bonn zur Höchstleistung

Xl_ballo-2608__002_ © Thilo Beu

Giuseppe Verdi Un ballo di maschera Besuch am 11. Dezember 2022 (Premiere)

Theater Bonn Opernhaus

David Pountny treibt das Melodramma in den Totentanz, Willi Humburg das Beethoven-Orchester Bonn zur Höchstleistung

Zum zweiten Mal nach Die sizilianische Vesper inszeniert David Pountney am Bonner Haus eine Oper von Giuseppe Verdi. Un ballo in maschera ist der zweite Teil seiner geplanten Verdi-Trilogie, die der Kunst des Meisters von Sant’Agata neue Erkenntnisse entlocken möchte. Die jüngste Auseinandersetzung mit einem späteren Werk des Komponisten sieht den früheren, auch Regie führenden Intendanten der Bregenzer Festspiele in einem künstlerischen Engpass verfangen. Seine Inszenierung des Melodramma in drei Akten sucht ihr Heil in der Suche nach einer anderen Sicht auf die Skandalgeschichte in aristokratischen Kreisen. Sie findet jedoch nicht den Schlüssel, der eine Tür zu den Räumen jenseits der Distanzierung von der historischen Dekadenz öffnet.

Die Entstehungsgeschichte des 1859 am römischen Teatro Apollo uraufgeführten Werks ist überwölbt von Ein- und Ansprüchen der Zensur. Erst in Neapel und dann – abgeschwächt wegen der Beziehungen des Impresarios zur Polizei – in Rom. Die Geschichte vom historischen Stockholmer Königsmord von 1792 auf Betreiben des Grafen Anckarström, verwoben mit der Affäre Gustavs III. mit der Ehefrau seines besten Freundes, sprengt jeden Moralbegriff und ist für die Staatsmacht in Italien inakzeptabel. Verdi und sein Librettist Antonio Somma werden nach erbitterten Auseinandersetzungen vor Gerichten gezwungen, die Handlung an die US-amerikanische Ostküste zu verlegen.

Verdi findet zwar einen eigenen Weg, die Zensur zu umgehen. Doch dieser ist für die Polizeibehörden damals und wohl auch Opernbesucher von heute zu subtil. Wenn sich Riccardo, der Gouverneur, und Amelia, die Angetraute seines Freundes Renato, im glühenden Liebesduett ihre Leidenschaft für einander eingestehen, taucht in den Celli der Rhythmus der körperlichen Vereinigung auf, die der Regent Bostons gegenüber seinen Untertanen leugnet. Etwa ein Jahrzehnt später wird Richard Wagner denselben Effekt in seiner Walküre verwenden, als er die Begegnung von Siegmund und Sieglinde in Tonsprache verwandelt.

Verdi-Kenner Pountney offenbart in der Bonner Inszenierung, die bereits an der Welsh National Opera gezeigt worden ist, das Ergebnis von Gedanken im Flow seines auf Jahre angelegten Prozesses, Verdi neu zu deuten und zu vermitteln. Es ließe sich von einer „Werkstatt“ sprechen, einige hundert Kilometer nördlich von Bayreuth gelegen. Seine Regie legt es darauf an, den kontaminierten Überbau der fingierten historischen Vorlage hinter sich zu lassen und gegen die Schilderung einer conditio humana unter destruktiven Vorzeichen auszutauschen. Seine Idee vom Ballo ist Enthistorisierung, die zeitlose Entlassung des Menschen in die Unabdingbarkeit der Destruktion.

Wer noch Luciano Pavarotti in seiner Bravourrolle als Riccardo aus den Produktionen Mitte der 1980-er Jahre an der Staatsoper Wien oder im Pariser Palais Garnier in der hermelinumsäumten Robe eines aristokratischen Gouverneurs in Erinnerung hat oder medial nacherlebt, wird vom Bühnenbild Raimund Bauers und den KostümenMarie-Jeanne Leccas hart in eine andere Bühnenwirklichkeit gestoßen. Einen festlichen Ball gibt es in dieser Aufführung nicht. Das Leben ist ein Tanz des Schreckens. Des Sterbens. Des Todes. Warum es dann auch noch feiern!

Irritierend geht es schon zu Beginn zu, wenn Pountney sein von Dante und Shakespeare gespeistes Spiel mit der Realität eröffnet. Riccardo entsteigt einem Geist gleich einem Sarg, auf dem sich zuvor sein Page Oscar gebettet hat. Nach seiner Wanderung durch die fünf Bilder der Oper, die er mit Buch und Notizenheft absolviert und selbst nach dem vermeintlichen oder tödlichen Stich ein Stück lang weiterführt, legt er sich am Ende erneut in den Sarg, auf den sich wiederum Oscar bettet. Schützend oder auch anzeigend, dass es jetzt kein Entrinnen mehr für den Frevler gibt, dem niemand die Attitüde der Vergebung im Sterben abnimmt. Nicht einmal der Librettist, der die Kolportage nicht mit schummrigen Phrasen des Verzeihens enden lässt, sondern mit einem donnernden Notte d’orore!

Die Szenen vor dieser Schreckensnacht spielen sich zwischen mobilen Wänden und Raumtrennern ab, die sich je nach Szene und Empfindung als Logen in einem Barocktheater, als verhängte Bordellzimmer oder als Teile eines Friedhofs im süditalienischen Stil deuten lassen. Sind doch in einigen dieser Fenster Totenköpfe zu erblicken. Wie auch immer – die Suggestivkraft des Bühnenbilds, verstärkt durch die häufig präsenten, stets verschobenen Stuhlreihen, fokussiert Pountnys Blick auf die Gesellschaft, in der sich die Frivolität und der Voyeurismus der Macht abspielen. Es ist in seinen Augen wie wohl auch mutmaßlich in der Epoche dieses Gustav III. eine Spaßgesellschaft, die ihren Anspruch auf Öffentlichkeit artikuliert und auch durchsetzt. Eine Gesellschaft der Dekadenz, des Absterbens, wie auch die auf die Kostüme der Ballgäste aufgetragenen Skelette zeigen wollen.

Eine Spekulation gewiss. Verdienstvoller erschiene es aber, die Auseinandersetzung mit modernen Formen von gesellschaftlicher Kontrolle in Gestalt von ideologisch geprägten Einschränkungen der Meinungsfreiheit zu suchen. Ist nicht der Sturz zu Boden der Höflinge rund um Riccardo im Augenblick des tödlichen Messerstichs das eigentliche Ende? Ist nicht der Tod des Gouverneurs eine fake news, wie Pountney andeutet? Ist nicht die Wahrsagerin Ulrica ein Sinnbild der Instanzen, die Teile der Gesellschaft in eine Idee von Realität treiben, die dann von der Handlung eingeholt werden, sei es auf den Stufen des Kapitols in Washington, sei es auf denen vor dem Berliner Reichstag? Und ist nicht die Maskierung der Ausdruck der „wahren“ Identität, die erst durch die Kunst zum Begriff wird? Das Programmheft zitiert die weise Erkenntnis von Friedrich Nitzsche, der zufolge die beste Maske, „die wir tragen, unser eigenes Gesicht ist“. Mehr als ein Fingerzeig zu Pountneys Regiekonzept.

Mit acht Opernkompositionen zwischen 1849 und 1859 treibt Verdi in kleinen Schritten durch Darstellung zwischenmenschlicher Konflikte und extremer Emotionen das voran, was der Verdi-Experte Anselm Gerhard die „Psychologisierung der immer noch in klassizistischen Traditionen gefangenen italienischen Oper“ nennt. Für den nicht weniger kenntnisreichen Verdi-Spezialisten Will Humburg, Dirigent des Beethoven Orchesters Bonn (BOB) in der Premierenaufführung, ist die Partitur des Ballo ein Gipfel in der Entwicklung des Komponisten, das „Zusammenspiel von musikalischem Beziehungsgeflecht und Orchesterklang“ zu verfeinern. Humburg liebt – kein Zweifel - die tinta musicale, die charakteristische Musikfarbe des Dramas, die er in einem ausführlichen Artikel für die Theaterzeitung des Hauses erklärt.

Diese Liebe beseelt auch das Dirigat Humburgs. Selten zuvor dürfte das Verdi-gewohnte, vielleicht auch Verdi-verwöhnte BOB eine solche Raffinnesse an den Tag gelegt haben, die funkelnden wie verstörenden Farben dieser Oper zum Leuchten zu bringen. Den reißenden Fluss betörender Melodien wie die Synkopen-getränkten Frivolitäten von scherzo è follia, von denen Riccardo nach der Prophezeiung Ulricas kündet. Die weinseligen Tänze wie die themengeprägten Vorspiele zu den beiden ersten Akten mit ihren spielerischen Akzenten in der Piccoloflöte. Ergänzend dazu der von Marco Medved einstudierte Chor samt Extrachor des Theaters Bonn, der das Karnevaleske wie das Höhnische seiner Auftritte brilliant zum Besten gibt.

Unter den mitreißenden Sängerdarstellern ist die Amelia der Yannick-Muriel Noah als erste zu nennen. Primadonna des Abends! Die Sopranistin, die ihr besonderes Faible für Verdi-Rollen von der Titelpartie in Aida bis Elvira in Ernani am Bonner Haus ausgeprägt hat, drückt der Aufführung in musikalischer Hinsicht das Glanzlicht auf. Wie sie zu Beginn des dritten Aktes in ihrer Arie Morrò, ma prima in grazie am Boden kniend ihre Sehnsucht ausdrückt, noch einmal den Sohn zu sehen, zugleich ihre Bereitschaft, den Tod anzunehmen, geht unter die Haut. Als Riccardo ist Arthur Espiritu kein tenoraler Kraftprotz. In der samtenen Mittellage erinnert er an den jungen Carlo Bergonzi in dieser Rolle. Bei Pountney ist Riccardo eher ein Lebemann, der die Lust am Dasein der Staatsräson vorzieht, wie er in seiner Schwärmerei La rivedrà nell‘ estasi gleich zu Beginn beweist. Das leidenschaftliche Duett mit seiner Favoritin Amelia! tu m‘ami Amelia?/Si t’amo ma tu nobile mit vor- und nachgeschalteter Cabaletta putscht er zum Vokalerlebnis des Abends auf.

Giorgos Kanaris gibt und spielt Renato mit baritonaler Macht, bringt sich jedoch durch sein immer wieder aufflackerndes unnatürliches Vibrato selbst um den großen Effekt. In der Rolle der Wahrsagerin Ulrica behauptet die Mezzosopranistin Nana Dzidziguri in ihrem Debüt am Bonner Haus große Bühnenpräsenz. Sie verfügt aber nicht über die an die Alt-Stimme heranreichende Tiefe etwa einer Christa Ludwig, die dieser Figur erst ihre schauerliche Exotik verleiht. Pountney wertet die Wahrsagerin, in Sommas Libretto eine Schwarze, sichtlich auf. Bei ihm avanciert sie von der dunklen Höhle im Originaltext hin zu einem Star in einem Revuetheater.

Lada Bočková bringt das spielerisch-komische Element des Oscar mit schwarzledernem Outfit und dem Silberklang ihrer Soubrettenstimme vorzüglich zur Geltung. Leider legt Pountney ihre Rolle einige Grade zu quirlig, um nicht zu sagen zu nervig an. Tae Hwan Yun überzeugt als leicht stotternder Richter, den Oscar süffisant parodiert – ein Reflex auf die Gnadenlosigkeit der Epoche gegenüber Menschen, die anders sind. Die markigen Verschwörer Andrei Nicoară (Samuel) und Martin Tzonev (Tom) sowie Carl Rumstadt als Matrose Silvano flankieren das herausragende Sängerensemble adäquat.

Am Ende stürmischer und langanhaltender Beifall für alle Mitwirkenden, insbesondere Noah, Espiritu und Humburg, durchsetzt mit einigen Buhrufe für das Regieteam. Eine Besucherin in der achten Parkettreihe hustet nahezu die gesamte Aufführung durch. Ein Mangel an Rücksichtnahme? Vielleicht aber das Unvermögen, sich unter der Wucht der Aufführung nicht losreißen und den Saal verlassen können. Wer weiß.

Dr. Ralf Siepmann 

Copyright Thilo Beu

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