Vivica Genaux: „Die Welt in Farben sehen“

Xl_vivica-genaux-workshop-masterclass © Vivica Genaux

Vivica Genaux inspiriert und motiviert Fortgeschrittene in der Gesangsausbildung in einem Workshop der Johann Adolf Hasse Gesellschaft. Ihr wichtigster Rat an die Profis von morgen geht über das Sängerische hinaus. Sie müssten lernen, betont die Barockspezialistin, zu kommunizieren.

Das Rudolf Steiner Haus am Hamburger Mittelweg an einem Abend im März. Aus dem Saal im ersten Stock dringen Bruchstücke der Arie der Cleopatra Addio trono bis in das hell erleuchtete Foyer hinunter. Sie stammt aus der Serenata Marc’Antonio e Cleopatra des Komponisten Johann Adolf Hasse. Der 1699 im damaligen Bergedorf bei Hamburg geborene Komponist zählt zu den größten Meistern der italienischen Oper im Hochbarock. Rosa Amata Lüttschwager trägt die Arie unter Begleitung von Cembalo und Barockcello so schön vor, dass rasch der Wunsch entsteht, die Klänge möchten auch Passanten vor dem Haus erreichen und zum plötzlichen Innehalten bewegen.

Dass im Verlauf des Konzerts neben Arien von Georg Friedrich Haendel, Vincenzo Bellini und Gioacchino Rossini weitere Hasse-Arien zu erleben sind, ist alles andere als ein Zufall. Fortgeschrittene Gesangsstudierende an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg (HFMT) präsentierenErgebnisse eines Meisterkurses der Johann Adolf Hasse Gesellschaft, mit dem sie den Komponisten anlässlich seines 325. Geburtstages zu ehren sucht. Für den vier Tage umfassenden Kurs, ein vom Curriculum des Studiums vorgeschriebenen Baustein der zum Bachelor führenden Gesangsausbildung, wurde die amerikanische Mezzosopranistin Vivica Genaux gewonnen. „Die Musik von Hasse“, betont die renommierte Interpretin des Barockrepertoires im Gespräch mit Opera Online, „hat mir viel Freude gemacht und Erfolg gebracht. Der Meisterkurs ist eine großartige Gelegenheit, diese Musik mit jungen Leuten zu teilen.“

Von Rossini zu Hasse

„Damals habe ich auf einmal die Welt in Farben gesehen“, schwärmt sie. In der Barockmusik erlebe sie so etwas wie einen Da capo-Effekt. „Für mich ist es wichtig, über eine lange Zeit auf eine Sache hin zu schauen und ebenso zu singen. Die Dinge von verschiedenen Seiten zu unterschiedlichen Zeiten zu betrachten.“

Genaux, in Fairbanks/Alaska in eine europäisch geprägte Familie geboren, ist seit 30 Jahren im Opernfach wie im Konzertleben ein Begriff. Nach ihrem Operndebüt1994 als Isabella in Rossinis L’italiana in Algeri an der Florentine Opera in Milwaukee singt sie zwei weitere Partien von Rossini. Jahre später entscheidet sich ihre Passion für die Barockmusik, als sie zum ersten Mal Concerto Köln mit Hasses Solimano an der Staatsoper Berlin mit René Jacobs am Pult erlebt. „Damals habe ich auf einmal die Welt in Farben gesehen“, schwärmt sie. In der Barockmusik erlebe sie so etwas wie einen Da capo-Effekt. „Für mich ist es wichtig, über eine lange Zeit auf eine Sache hin zu schauen und ebenso zu singen. Die Dinge von verschiedenen Seiten zu unterschiedlichen Zeiten zu betrachten.“

Die Mezzosopranistin hat Auftritte in Opern Händels und Antonio Vivaldis und insbesondere Hasses. So die Rolle des Piramo in Piramo e Tisbe von Hasse. So die Partie der Mandane in Hasses Artaserse; die 2002 erschienene CD-Einspielung Arias for Farinelli mit der Akademie für alte Musik Berlin unter René Jacobs gilt als Visitenkarte ihrer Virtuosität. 2020 singt sie im Theater an der Wien die Titelrolle in Hasses Irene.

Gewinn an Selbstbewusstsein

Ob die im Abschlusskonzert auftretenden acht Interpretinnen im Barock- und Belcanto-Fach eine Karriere nach dem Muster Genauxs erreichen werden, sofern sie dies anstreben, ist natürlich offen. Nämliches gilt für den Tenor und den Bariton, die sich ebenfalls auf den Spuren Hasses erproben. Für Mark Tucker, Professor für Gesang und Sprecher der Abteilung Gesang der HFMT, liegt der Wert des Workshops in einer Reihe von Lerneffekten und persönlichen Erfahrungen. Standard seien, wie er gegenüber Opera Online erläutert, zwei Vorsingen über je 40 Minuten bei der Leiterin des Workshops mit dem Fokus auf Essentials wie Stimmartikulation, Koloratur- und Atemtechnik. Tucker zufolge machen die Studierenden im Verlauf des Seminars Fortschritte in Grundlagen der Aufführungspraxis, gewinnen sie im Austausch mit der erfahrenen Sängerin an Selbstbewusstsein.

„Das Wichtige besteht darin, dass die jungen Leute lernen zu kommunizieren.“ Wer in die Musik strebe, habe etwas in sich, was er kommunizieren wolle.

Den Wert von neuen Erfahrungen und Fähigkeiten außerhalb des unmittelbaren Singens und Erlernens von Partituren und Rollen unterstreicht auch Genaux. „Das Wichtige besteht darin, dass die jungen Leute lernen zu kommunizieren.“ Wer in die Musik strebe, habe etwas in sich, was er kommunizieren wolle. Alle Komponisten von Vivaldi bis Bellini äußern sich nach Ansicht der Sängerin in verschiedenen Sprachen, sei es beim Sprechen, sei es in der Musik. „Für mich war das Erlernen von Sprachen immer wichtig.“ Man könne sich mit mehr Menschen austauschen, leichter reisen. Das gelte auch für die Musik. „Man kann in verschiedene Richtungen und Gefühle reisen und sich auf unterschiedliche Weise ausdrücken.“

Im Saal steht zum Konzertabschluss Mariana Gomes (Sopran) mit der Arie der Bellezza Tu del ciel ministro eletto aus Händels Oratorium Il trionfo del tempo e del disinganno unter Begleitung von Cembalo und Blockflöte auf dem Programm. Für Genaux ist das Engagement angehender Sänger für die Musik der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Richtung weisend. „Ich sehe junge Leute in Aufführungen von Barockopern.“

Auf junge Menschen in der Oper zugehen

Vom tatsächlichen oder vermeintlichen „Generationenabriss“ in der Klassik hält sie nichts. Die Situation sei von Land zu Land unterschiedlich. Mehr hingegen verspricht sie sich von einer Änderung in der Haltung im Opernmanagement. „Ich habe den Eindruck, dass manche Opernhäuser junge Leute nicht gern in ihren Vorstellungen haben. Sie tragen Jeans, entsprechen nicht den üblichen Standards.“ Daher werde manchmal ein Stück auf sie herabgeschaut. Sie erlebe, unterstreicht Genaux, „dass mir junge Menschen berichten, sie würden gern kommen, wüssten aber nicht was sie tragen sollen“.

Auf der Farinelli-CD singt Genaux aus Hasses Artaserse die Arie Per questo dolce complesso. Darin ist von einer „süßen Umarmung“ die Rede, die sich dort auf eine Familiensituation bezieht. Sie könnte an diesem Hamburger Abend auch auf die Umarmung der jungen Generation mit der Epoche des Barock gemünzt sein. Ein Signal der Hoffnung? Warten wir es ab.

Dr. Ralf Siepmann

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