
Otello ossia il moro di Venezia Gioachino Rossini Besuch am 26. Juli 2025 Premiere
Belcanto Festival Rossini in Wildbad Trinkhalle
Wenn sich Mord und Selbstmord auf der Bühne nicht ziemen
Fünf Opernproduktionen in 13 Aufführungen bringt Rossini in Wildbad in seiner aktuellen, der 36. Ausgabe, auf die Bühne. Drei inszeniert, vier mit Orchester, eine im Stil der Klavieroper. Schon die puren statistischen Angaben künden vom Leistungsstand eines Festivals, das sein Programm in gerade einmal elf Tagen herausbringen muss. 2015 etwa, vor zehn Jahren, sind es immerhin 17 Tage, die dem Team um Intendant Jochen Schönleber eingeräumt sind, die Versprechen der Marke Rossini an der Enz zu erfüllen. In erster Linie die 39 Opernkompositionen des Meisters aus Pesaro in interessanten Sichtweisen und Neuentdeckungen sowie weitgehend unbekannte Werke von Komponisten aus der Peripherie Rossinis zu präsentieren.
Mit Otello macht sich das Festival in diesem Jahr anheischig, mit einer deutschen Erstaufführung zu überraschen. Die Rede ist von der Über- und Umarbeitung der 1816 in Neapel überaus erfolgreichen Originalfassung, deren Libretto auf Shakespeares Schauspiel um Liebe, Eifersucht und Rassismus beruht. Wie im Drama auf der Theaterbühne lässt Rossinis Librettist Fancesco Berio, Marchese dí Salsa den in der ersten Szene umjubelten Anführer der venezianischen Streitkräfte nach der Vertreibung der Türken aus Zypern im Finale des dritten Akts durch eigene Hand sterben. Otello, Opfer einer von Iago inszenierten Intrige, sieht keinen anderen Ausweg, nachdem er Desdemona, seine Geliebte, getötet hat.
Drei Jahre nach Rossinis Triumph von Neapel ist Pietro Cantoni, der Impresario des Teatro Argentina in Rom, bestrebt, das Dramma per musica an seinem Haus, passend zur Karnevalssaison, herauszubringen. Geknüpft an die Bedingung, das tragische Ende der Urfassung durch eine Version zu ersetzen, die der Zensur im Vatikanstaat genehm sein könnte. Ein Femizid im heutigen Verständnis und der Suizid eines Heerführers quasi unter den Augen des Dogen – unvorstellbar für eine rigoros agierende Kurie zumal am kulturell rückständigsten Ort unter allen italienischen Theaterstädten. Rossini, der mit der Ablieferung neuer Werke im Verzug ist, lässt sich von Cantoni drängen und verfasst unter Eingriffen in die Dramaturgie eine alternative Fassung. In dieser erkennt Otello die Intrige Iagos und die Unschuld Desdemonas, wodurch seiner Hochzeit mit der Verlobten nichts mehr im Wege steht.
Für dieses lieto fine bedient sich Rossini des Harmonie verströmenden Duetts Amor! Possente nome aus seiner Oper Armida von1817. Szenisch grotesk, da schlicht nicht verständlich ist, warum einem Mann, der gerade zum tödlichen Schlag ausholt, der Dolch aus der erhobenen Hand gleiten soll, weil er wie vom Blitz getroffen plötzlich die Liebe seines Lebens neu entdeckt, deren Treue ihn urplötzlich überzeugt. Aber musikalisch verführerisch.
Am zweiten Weihnachtstag 1819 erlebt die „sittlich gereinigte“ Fassung ihre römische Premiere. Daran zu erinnern und die Modifikation des Stoffes im Kontext der historischen Interessenlage bewusst zu machen, kann gewiss an einem Ort der auch kritischen Rossini-Pflege erwartet werden, für die der Rossini-Experte Reto Müller steht. Hingegen einem lieto fine, das seine Entstehung einer repressiven Ideologie verdankt, eine Bühne zu bieten, auf der es sich in eine Perlenkette prachtvoller Belcanto-Nummern einreiht und dadurch ein Stück weit entmaterialisiert, ist heute, im neu ausgebrochenen Kulturkampf um Liberalität und Gesinnung, mehr als problematisch. Eine vermutlich historiographisch begründete Ambition muss sich ihrer gesellschaftspolitischen Wirkungsweise bewusst sein, die auch nicht einfach hinwegapplaudiert werden kann, weil die musikalische Gestaltung gefällt. Zur Erinnerung: Der Rossini-Forscher Philipp Gossett spricht 1970 von der „vielleicht schimpflichsten und zynischsten Überarbeitung“ im künstlerischen Leben des Komponisten.
Schon 2021 gerät am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen ein Versuch zur Farce, das Publikum in die Entscheidung für oder gegen den tragischen Schluss einzubinden. Heben die Besucher, aufgefordert vor der Schlussszene, die weiße Seite einer Stimmkarte, greifen sie angeblich in das finale Geschehen ein. Maxime: Desdemona handelt. Heben sie die schwarze Seite, nimmt das Geschehen den vorgezeichneten Verlauf. Das Publikum entscheidet sich für eine Desdemona, die ihr Schicksal in die Hand nimmt. In der Musik und den Obertiteln hingegen vollzieht sich das ihr und Otello Tod bringende Drama. Die römische Fassung? Hier offenkundig unbekannt.
Zugutehalten darf man dem Wildbader Otello der „vollständigen Fassung für Rom“ den Umstand, dass nicht nur der Schluss neu gefasst ist. Rossini höchstpersönlich nimmt Besetzungsänderungen vor, bei deren kompositorischer Umsetzung er sich aus Zeitmangel bei seinen früheren Werken bedient. Von ihnen profitieren insbesondere beide Frauenrollen. Er lässt mit Esultate patria – Quanto è grato all’alma mia aus Elisabetta, regina d‘Inghilterra Desdemona eine Auftrittskavatine singen, deren Effekte sie hörbar auf das Hauptrollenniveau hieven, das der Sänger des Otello mit seinem Auftritt Ah! Si, per voi già sento zuvor bereits für sich behauptet hat.
Erstmals erhält Emilia, die Vertraute Desdemonas, mit Tu che i miseri conforti eine eigene Arie, die Tancredi entnommen ist. Die Mezzosopranistin Verena Kronbichler interpretiert sie mit Inbrunst und erreicht so einen Überraschungserfolg, der mit Szenenbeifall quittiert wird.
Die Partitur von Rossinis 19. Oper zeigt den Maestro auf dem Höhepunkt des Alleinherrschers über die italienische Oper in Italien, zu dem er sich in nicht einmal sieben Jahren aufschwingt. Das Orchester der Szymanowski-Philharmonie Krakau unter der Wildbad-bewährten Leitung von Antonino Fogliani zeigt sich als sicherer Gestalter der instrumentierten Reichtümer und genau ausgeführten Rezitative. Schwelgerisch geraten die Rossini-Rouladen in den drei Finali, verblüffend das Diminuendo, das dem Crescendo situationsgerecht seinen Overdrive nimmt. Der Chor, einstudiert von Piotr Piwko, spielt seine Rolle als Partner der Sänger in Arien wie Ensemblenummern überzeugend. Sein jubelndes Viva Otello, viva il prode zum Empfang des Kriegsherrn zeigt an, dass auch das Volk Venedigs gehört werden möchte.
Zu den Besonderheiten des Rossini-Otello gehört die erstaunliche kompositorische Entwicklung, die sich zwischen den ersten beiden Akten und dem dritten ereignet. Über diesen sagt Giacomo Meyerbeer in einem Brief an seinen Bruder unter dem Eindruck der neapolitanischen Aufführung, er sei mit seinen vollendeten Deklamationen, dem Lokalkolorit und seinen traditionellen Romanzen „wirklich göttlich“. Nicht gleich himmelsnah, aber durchaus himmelsstürmend agiert Diana Haller als Desdemona, in Wildbad noch bestens mit ihren Partien in Tancredi undLe Comte Ory in Erinnerung. Ihre Tessitura hat sich nach dem Fachwechsel vom Mezzosopran zum Sopran eher noch erweitert, was ihrer Gestaltung der Frau bekommt, die als wütende Furie wie als geprellte Liebende in Erscheinung tritt. Dass sie auch lyrische Töne beherrscht, stellt sie mit dem Lied an die Weide Assisa a’pié d‘un salice unter Beweis, was von der einfühlsamen Harfe beseelt getragen wird.
Wie bei Rossinis Armida verblüfft die Besetzung des Otello mit einem überdurchschnittlichen Aufgebot an Tenören. Zu erklären ist dies mit der damaligen sängerischen Situation am Teatro del Fondo in Neapel. Vier sind es, unter Einschluss der kleineren Rolle des Dogen, den Samuele Di Leo passabel verkörpert. So ist es keine geringe Freude, dass mit Nathanaël Tavernier als Desdemonas Vater Elmiro ein profunder Bass an den Sängerpulten steht, der machtvolle Akzente zu setzen versteht.
Tenor ist freilich nicht Tenor in diesem Prachtwerk des romantischen Belcanto. Nach Rossinis Idealvorstellung unterscheiden sich die diversen Tenorfarben beträchtlich. Die Titelfigur soll ein dramatischer Tenor sein, Rodrigo, der verschmähte Liebhaber, ein eleganter, zu Spitzentönen befähigter Tenor, wie er heute mit dem Begriff Tenore di grazia gefasst wird. Iago sollte seine finsteren Pläne mit einer baritonalen Grundierung verfolgen.
In der Titelpartie kommt Francesco Meli, gerade erst als Verdi-Otello in Venedig auf der Bühne, dieser Nomenklatur nahe, ohne vollständig zu überzeugen. Sein Debüt als Rossini-Otello zeichnet eine wuchtige vokale Performance aus, Anspruch und Leid eines elementar durchgerüttelten Menschen, dem die Barrieren der Mehrheitsgesellschaft zusetzen. Die emotionale Zerrissenheit des Außenseiters, die Rossini in Smarrita quest’alma durch pointierte Verhaltenheit ausdrückt, wird aber nicht wirklich spür- und fühlbar.
Seinen Gegenspieler Iago charakterisiert Anle Gou mit berührendem Timbre, bei dem die erwünschte besondere Färbung letztlich nicht vermisst wird. Sein Duett im zweiten Akt mit Otello Non m’inganno avanciert zu einem vehementen Dreh- und Angelpunkt des Geschehens, während das musikalisch eigentlich großartigere No, non temer mit Rodrigo diese Qualität nicht erreicht. Juan de Dios Mateos ist mit unruhigen und flachen Spitzentönen sowie mangelnder Ausstrahlung der Rodrigo leider nicht, der Otello als Rivale um die Hand Desdemonas hasst, auch aus rassistischen Gründen.
Ein Pluspunkt jedweder Otello-Fassung wie der Wildbader Aufführung sind die famosen Ensemblenummern. So das Terzett Desdemona/Rodrigo/Otello des zweiten Akts Ah vieni, nel tuo sangue le offese und das Finale des dritten Akts, ungeachtet der inhaltlichen Einwände.
Das Wildbader Publikum in der voll besetzten Hauptspielstätte drückt seine Begeisterung, die sich bereits im vielfachen Szenenbeifall zuvor zeigt, durch anhaltenden großen Jubel aus. Dieser gilt allen Mitwirkenden, insbesondere Haller und Meli, die – warum auch immer – anders als bei Shakespeare davonkommen. Freilich, was nicht verschwiegen werden soll, steht und fällt die Akzeptanz des Belcanto-Rauschs mit dem Platz, für den sich die Besucher entscheiden.
Einem beträchtlichen Teil des Publikums ist anzumerken, wie schwer es sich mit der Lautstärke tut, die Instrumentalisten und Vokalisten unter der treibenden Stabführung Foglianis entfalten. Der eigentliche Grund hierfür ist nicht erfahrbar, liegt offenkundig aber nicht in den Signalstärken, die für die mit der Aufführung entstehende CD-Aufnahme verlangt werden. Eine Ursache könnte im Unterschied zur früheren Trinkhalle mit ihrer partiell gepolsterten Bestuhlung und dem ansteigenden Parkett liegen. Auf jeden Fall sollte dieser Aspekt die Festival-Verantwortlichen beschäftigen. Wer seine Anhänger liebt, tut ihnen wohl, nicht nur aus Gründen der Kapazitätsauslastung.
Dr. Ralf Siepmann
Copyright Foto: Magdalena Kiwior
30. Juli 2025 | Drucken
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