
Musik für die Lebenden Gija Kantscheli Besuch am 15. Juni 2025 Premiere
Theater Bonn Opernhaus
Wenn Kinder ihre Verwilderung in Sumerisch besingen
Musik für die Totenist ein wenig gebräuchlicher Begriff in Verbindung mit dem Erinnern an Verstorbene bei Trauerfeiern. Die Klassik hält hier ein breites Repertoire vor. Man denke an die Grande Messe des Morts von Hector Berlioz, das Requiem von Wolfgang Amadeus Mozart oder dieKindertotenlieder von Gustav Mahler. Musik für die Lebenden ist der Titel einer Oper des georgischen Komponisten Gija Kantscheli, die das Thema des Menschen unter der Bedrohung durch Gewalt behandelt. Das 1984 in Tiflis uraufgeführte Werk, das 1999 in Weimar die Premiere seiner zweiten Fassung erfährt, gelangt nun, vier Jahrzehnte nach seiner Entstehung, auf die Bühne des Theaters Bonn.
Die Erst- oder Neubegegnung mit einer Klangwelt, in deren Zentrum die Chormusik steht, ist interessant, streckenweise bewegend. Die Inszenierung des russischen Regisseurs Maxim Didenko kann als spektakulär in ihren Schwankungen zwischen Anti-Kriegs- und Revue-Theater apostrophiert werden, vermag aber nicht völlig zu überzeugen.
Kantscheli, zusammen mit Sofia Gubaidulina und Arvo Pärt Exponent einer Generation von Komponisten, die sich nach Stalins Tod auf die Suche nach einem Weg fort vom Kollektiv hin zum Individuum, zur Spiritualität und zur Klangschönheit jenseits der Avantgarde des Westens macht, ist vor allem als Sinfoniker und Komponist von Filmmusik bekannt. Da ars musika!, seine einzige Oper, zu Deutsch Und es werde Musik!, entsteht Anfang der 1980er Jahre in Zusammenarbeit mit dem Regisseur Robert Sturua, der auch das Libretto verfasst. 1991, ein Tag nach dem Amtsantritt des autoritären Präsidenten Swiad Gamsachurdia, der die Verhaftung von Künstlern, darunter Kantscheli und Sturua anordnet, emigriert Kantscheli in den Westen. Dort arbeitet er bis zu seinem Tod 2019, zuletzt in Belgien. Sein Schicksal teilt indirekt Didenko, der als Gegner des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine seine Heimat verlässt und seit 2022 in Berlin lebt.
Musik für die Lebendenist formal eine Oper in zwei Akten mit einem Intermezzo, das Liebe und Pflicht überschrieben ist. Eine klassische Handlung gibt es nicht. Dramaturgisch lässt sie sich in weiten Teilen als Pantomime beschreiben, auch als Parabel über Kunst und Krieg, in der die Gewalt des Krieges in die Realität der Kunst einbricht. Der Krieg wird als eine apokalyptische Erscheinung begriffen, die Zivilisation, Menschlichkeit und Kultur vernichtet.
Schauplatz des ersten Akts ist die Ruine eines Theaters, das von Kindern als Schutzbunker genutzt wird. Im düsteren Licht sind ihre Körper anfänglich zwischen Trümmerteilen kaum zu erkennen. Ihr Lehrer erblindet, als Bomben einschlagen und eines der Kinder töten. Unwillkürlich stellen sich Assoziationen zum Kriegsgeschehen in der Ukraine und speziell zu Mariupol ein. Militärs des Besatzerregimes, angeführt von einem Offizier und einer Frau, nehmen das Theater in Beschlag. Der Offizier (Uri Burger) erschießt einen Mann, der die Kleinen zu beschützen versucht. Ausgewählte Kinder werden für das Militär rekrutiert, Nachschub für die Verlängerung des Krieges. Zur Unterhaltung wird die Geschichte von einer Hasenfamilie und einem Krokodil auf einer Bühne erzählt, die letztlich nichts anderes ist als eine Variante von Gewalt.
Die Kinder werden gezwungen, an einer Propagandaparade für das neue Regime teilzunehmen. Eine ausgedehnte Tanz-Orgie wird von einer Trauerprozession gebrochen. Die Kinder stellen sich die Frage des Überlebens: To be or not to be. Das zum Chanson erweiterte Hamlet-Zitat gestaltet Clélia Oemus, Solistin des Kinder- und Jugendchors von Theater Bonn, furios. Es ist ein Reflex auf die Erfahrung von Kindern, die die Liebe ihrer Mütter nicht bekommen haben. Die nicht einmal ihre Muttersprache kennen. Instinktiv fragt sich der Besucher, wie sich diese traumatisierten Kinder verhalten, wenn sie als Erwachsene das verarbeiten, was sie als Kinder durchmachen mussten.
Im zweiten Akt nach einem Umbau auf offener Bühne während der Pause gastiert eine Theatertruppe in der Ruine, die jetzt als Militärkrankenhaus dient. Soldaten, Verwundete, Besatzer versprechen sich Abwechselung vom Terror des Krieges von einer Aufführung die von der Frau mit Peitsche (Manon Greiner) organisiert wird. Gegeben wird eine Operngroteske im Stil einer italienischen Romanze mit Anklängen an Giuseppe Verdi und Giacomo Puccini. Kern ist Angelo (Tae Hwan Yun), ein italienischer Patriot, in unerfüllter Liebe zu Silvana (Katerina von Bennigsen), die sich ebenfalls aus Patriotismus auf eine Ehe mit dem Marquis von Prudhon (Giorgos Kanaris), dem von Napoleon eingesetzten Vizekönig von Italien, eingelassen hat. Am Ende liegen alle Protagonisten tot am Boden, auch der Angelo-Freund Sandro (Tianji Lin) und Lucia, Angelos Mutter (Ava Gesell). Hingestreckt von Pistolenkugeln von Verrätern.
Im Finale wird Kantschelis und Sturuas Intention überdeutlich. Nach der Theateraufführung tauchen die Kinder aus den Trümmern auf, um einen pathetischen Hymnus zu singen. Wenn es für die Menschheit eine Zukunft geben sollte, kann sie nur auf Natur und Kultur beruhen, insbesondere der des Singens. Das Libretto paraphrasiert in georgischer Manier die Schöpfungsgeschichte: Zu Anfang gab es einen Gesang, und der Gesang war göttlich.
Die Aufführung besticht mit plakativen Schauwerten. Galya Solodovnikova erschafft sie durch phantasievolle farbintensive Kostüme und die nicht minder kreativ gestaltete Bühne. Eine Hinterbühne – quasi die Steigerung des in der Oper beliebten Theaters im Theater – ermöglicht zusätzliche Raumeffekte. Hier wird das Spiel mit der Hasenfamilie und dem Krokodil aufgeführt. Hier schlagen die Soldaten in der Rekrutierungsszene dröhnend die Trommeln. Ergänzend verdichten die Videoeinspielungen von Oleg Mikhailov die schaurige Atmosphäre.
Didenko gelingen immer dann, wenn der Schrecken des Krieges zu zeigen ist, intensive Momente. Vor allem mit den Auftritten des blinden alten Mannes, den Ralf Rachbauer mit seinem markanten Tenor profiliert. Im zweiten Aufzug setzt er durch den Einsatz von zehn Tänzern in zum Teil grotesken choreographischen Auftritten und die Mobilisierung von Revue-Elementen auf eine circensische Überhöhung. Warum eine der Kugeln der Verräter vom Dirigenten abgefeuert wird, der hierzu aus dem Graben hochgefahren wird und eine Pistole aus der Tasche zieht, bleibt das Geheimnis des Regisseurs. Ein Gag, gewiss. Aber ansonsten?
Die Partitur Kantschelis ist ein pittoreskes Klanggemälde, dessen musikalische Farben durch extreme Kontraste entstehen. Sie setzt Stille gegen Lärm, reinen Gesang gegen formalisierte Strukturen der institutionalisierten Musik, Volkslieder gegen Militärmärsche, kristallisiert so den Gegensatz von Gut und Böse heraus. Die Musiksprache ist eklektisch durch Anlehnung an die späte Romantik, die Technik von Alfred Schnittke und die Filmmusik der Sowjetzeit. Nicht zuletzt durch die gekonnte Parodie auf die italienische Oper im Intermezzo. Das Beethoven Orchester Bonn mit Daniel Johannes Mayr am Pult beweist seine Kompetenz, sich einfühlsam auf Kantschelis Stil einzustellen, der zwar nicht avantgardistisch genannt werden kann, jedoch fremd und voller geheimnisvoller Spannungen ist. Der Eindruck einer total unvertrauten Welt wird auch durch die bewusst gewählte Sprachenvielfalt hervorgerufen. Die Kinder drücken sich abgesehen von einigen georgischen Sequenzen in Sumerisch aus, einer toten Sprache, was den Zustand ihrer Verwilderung illustrieren soll.
Nukleus der Musik Georgiens und ihre archaische Grundlage ist das Singen in Gemeinschaft, der Chorgesang mit seinen Anklängen vor allem an die Volks- und Kirchenmusik mit ihrer besonderen Melodik und antiphonen Konvention. Erwartungsgemäß prägen Chorpassagen das Klangbild, schaffen der Chor des Theaters Bonn, einstudiert von André Kellinghaus, sowie der Kinder- und Jugendchor einige der stärksten dramaturgischen Momente.
Vor allem die Leistung des Kinder- und Jugendchors in der Einstudierung durch Ekaterina Klewitz ist hervorzuheben. Fast 40 Mitglieder dieses Ensembles bilden mit ihrer beseelten Interpretation der stillen Sequenzen einen großartigen Kontrast zu den Brutalitäten der Szene sowie aus dem Graben. Einige von ihnen stammen, wie verlautet, aus der Ukraine. Sie wurden in der Probenarbeit fürsorglich begleitet. Der Sinn von Theaterpädagogik, die sich auch einmal nach innen wendet, dürfte auf der Hand liegen. Und Anerkennung finden.
Musik für die Lebendenordnet die Direktion der Oper Fokus’33 von Theater Bonn zu. In der ersten Phase galt das außerordentlich verdienstvolle Projekt Werken, die unter den Pressionen des NS-Regimes nach 1933 und in der Folge ab 1945 aus den Spielplänen verschwinden. Mit Kantschelis Komposition scheint das Spektrum an Spannweite zu gewinnen. Es wird – wichtiger noch –fortgesetzt, in der kommenden Spielzeit mit einem Werk von Peter Ronnefeld.
Die Besucher im nicht ganz ausverkauften Haus bejubeln ausgiebig die Leistung aller Beteiligten. Der Beifall gilt auch dem Regieteam, wobei nicht deutlich wird und auch nicht werden kann, ob stärker der berührenden oder der circensisch-aktivistischen Bühnenkunst. Weitere Aufführungen sind bis zum 10. Juli vorgesehen. Ob diese angesichts der begrenzten Bekanntheit von Komponist und Stück intensiv nachgefragt werden, muss wohl bezweifelt werden. Es wäre allerdings zu wünschen.
Dr. Ralf Siepmann
Copyright Foto: Bettina Stöß
17. Juni 2025 | Drucken
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