Wenn der Chor der Wächter der Stadt das Publikum via Transistorradio erreicht

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Die Frau ohne Schatten Richard Strauss Besuch am 16. November 2025 Premiere

Theater Bonn Opernhaus

Wenn der Chor der Wächter der Stadt das Publikum via Transistorradio erreicht

Am Anfang und am Ende fallen Schüsse. Der Krieg der Clans findet Opfer, in den Hinterhöfen einer gesichtslosen Vorstadt, den grellweißen Räumen einer Fruchtbarkeitsklinik und einem Fünf-Sterne-Restaurant in der Spitze eines Wolkenkratzers. Auf Geheiß des Mafiabosses, des Kaisers in der Bühnenhandlung, liegen zum Schluss auch drei Frauen tot am Boden. Sie haben den Geschlechterkampf gegen das Establishment des Bösen gewagt und verloren. Was sich mit abgrundtiefer Respektlosigkeit gegenüber Werk und Kunst aufmacht, als kühne Neudeutung der Frau ohne Schatten in die Aufführungsgeschichte der Oper Bonn einzugehen, endet in einem Hagel von Buh-Salven, der dort seit Jahren nicht mehr erlebt worden ist.

Die unter dem Eindruck der Gräuel des Ersten Weltkriegs entstandene, erst 1919 in Wien uraufgeführte Oper ist wie kein zweites Werk von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal so häufig gefeiert wie missverstanden worden. Im Kern geht es um geisterhafte und menschliche Wesen, die an einem Mysterienspiel teilnehmen und dort Prüfungen zu bestehen haben. Die aus orientalischen und nordischen Mythen gespeiste Parabel von der Menschwerdung durch gegenseitige Verwandlung stellt nach den Jahren der Entmenschlichung in Schützengräben und zerstörten Städten die Empathie in den Mittelpunkt des Geschehens. Die Kaiserin lernt, sich als Mensch zu erfahren, um Schatten zu werfen und sich so auf Erden zu erweisen. Der Kaiser, Inbegriff des machtbesessenen Jägers und Machos, überwindet seine Haltung, die Liebe als Besitz zu vereinnahmen. Barak, der Färber, und seine Frau entwickeln subtile Gefühle und verstehen den Wert altruistischer Liebe.

Die Rezeption der Oper ist häufig auf die monothematische Annahme verkürzt worden, in ihr gehe es einzig und allein um den exklusiven Stellenwert der Mutterschaft für die Menschwerdung der Frau. Der Schatten muss in dieser Sichtweise gewonnen, laut Libretto gestohlen werden, um der Frau ihre „wahre“ Berufung zu sichern. Gegen diese Bestimmung kämpft die Färberin an, die es ablehnt, „als Gebärmaschine dienen zu müssen“. Gegen die Überhöhung, nur die Mutter gewordene Frau sei eine Frau, agiert in der Bonner Neuproduktion, die bereits an der Nikikai Opera in Tokio mit ortsansässigen Künstlern zu sehen war, Peter Konwitschny an. Freilich so radikal und so destruktiv, dass mit den falschen Klischees auch die Schönheit und Einzigartigkeit des Werks verschwindet und sich das halbe Haus gegen die Inszenierung wendet. Am Rhein lässt man einen Zerstörer gewähren, einen Protagonisten des Regietheaters, dem der destruktive Ruf bereits vorausgeht.

Wer Konwitschny bestellt, bekommt Konwitschny. Bekommt Eingriffe in den Text wie vor Jahren bei seinen Hamburger Meistersingern. Bekommt Willkür in der Operndramaturgie wie zuletzt bei seinem Dortmunder Ring des Nibelungen. Bekommt rigorose Interventionen in Libretto und Partitur, wie jetzt in Bonn. Hofmannsthal und Strauss meinten, ihre Oper dürfe nicht ohne Vorbereitung besucht werden. Dazu sei die dargestellte Philosophie vom menschlichen Dasein, das verwickelte System der Symbole, zu fein und zu tiefgründig. Mit solchen Überlegungen hält sich Konwitschny nicht auf. Mit der „höheren“ Sprache, in die Hofmannsthal im von ihm selbst angestellten Vergleich mit Emanuel Schikaneders Zauberflöte, seine Dichtung gelegt haben will, möchte der Regisseur nicht viel zu tun haben. Mit der Musik von Strauss, wie sich insbesondere im dritten rigoros gekürzten Aufzug herausstellt, auch nicht sehr viel mehr.

Der ganze Hofmannsthal-Strauss-Komplex scheint ihm zuwider. Alter schützt vor nichts, nicht einmal den Menschen vor sich selbst. Da hilft auch die beschwichtigende Formel des Bonner Theaters, man erleben den „Versuch einer Annäherung“, nicht weiter.

2023 setzt Lydia Steyer bei ihrer Inszenierung zu den Osterfestspielen in Baden-Baden auf ein Ausstattungspanorama, das zwischen Revuetheater und Phantasiewelt im Stil von Das Phantom der Oper pendelt, aufgeladen mit Stereotypen des Varietés und Symbolen des religiösen Kitschs. Für die Neuproduktion in Bonn räumt Konwitschny alle Szenenanweisungen der Vorlage komplett ab. Die Bühne von Johannes Leiacker, der auch die Kostüme verantwortet, ersetzt Hofmannsthals Schauplätze – die Terrasse über den Kaiserlichen Gärten, das einfache Haus des Färberpaares, das Schlafgemach der Kaiserin im Falknerhaus und das unterirdische Gewölbe – durch einen Garagenhinterhof in einer X-beliebigen deutschen Großstadt sowie eine Fruchtbarkeitsklinik, wie sie in den Industriegesellschaften des Westens mit sinkenden Geburtenraten immer häufiger anzutreffen sind. Eine Mercedes-Limousine älterer Bauart zieht im ersten Bild die Blicke auf sich. Akribisch mit dem Klinikinventar ausgestattet, erzeugt die Wunschkinder-Station Schauwerte.

Konwitschnys Abneigung gegenüber Hofmannsthals Figuren manifestiert sich im Personal, das die nun gar nicht mehr märchenhafte Welt bevölkert. Die Frauen fungieren als Sexobjekte der Clangrößen Kaiser und Keikobad oder noch direkter als Straßenprostituierte, die das Klischee stärker bedienen als den optischen Reiz. Allenfalls taugen sie als Assistentinnen wie die Färberin, die zusammen mit ihrem Mann Barak eine Werkstatt betreibt, die Samenbank oder auch Produktionsstätte für eine ambulante Apotheke sein kann. Oder sie sind als Putzfrauen unterwegs wie die Amme, wahlweise auch als Psychotherapeutin oder Babysitterin. Ständig rufen sie mit Kissen unter Röcken oder Kleidern die Vorstellung von Schwangerschaften hervor. Natürlich geht es nur um den Anschein, indes Konwitschny um den Zeigefinger, den er bemüht, den Schlüssel seines Konzepts zu verdeutlichen. Gewiss überflüssig.

Die Zurichtung der Figuren macht nicht einmal vor Barak halt, dessen Handwerk dafür steht, die Welt der Menschen mit Farben, also Gefühl und Sinnhaftigkeit auszustatten. In Konwitschnys Bühnentrauma von Kokainhandel und Kinderreproduktionswahn bleibt ihm nicht viel mehr als die Rolle des Einfältigen, der es sich gefallen lassen muss, in einem Klinikbett hin und her geschoben zu werden.

Erschreckendes, auch Groteskes spielt sich ab. Gefuchtel mit Pistolen, Lärm von Türen, die zugeschlagen werden. Sexuelles in diversen Varianten. Vergewaltigung, die mehrfache Andeutung einer Zangengeburt, auch die Simulation einer realen Geburt. Aus der entwickelt sich sogleich die nächste Provokation. „Ich will nicht!“, quäkt der gerade auf die Welt gekommene Säugling mit einer verfremdeten Stimme vom Band. Die Negation wird danach von der Kaiserin übernommen, die sie herausschreit, während sie den Vorhang schließt.

Mögliche letzte Zweifel an der Einstellung des Regisseurs zur Musik von Strauss beseitigt die Szene zum Ende des zweiten Akts, die mit den Worten Sie haben es mir gesagt, daß ihre Seele seltsam sein wird beginnt. Baraks Sinnieren über die Liebe geht in den Chor der Wächter der Stadt über, einen feierlichen Hymnus, der die Liebe als den eigentlichen Sinn des Lebens preist. Die vorzüglichen Stimmen der Männer aus dem Off werden über ein Transistorradio vermittelt, das vor dem im Krankenbett liegenden Färber positioniert ist. In diese vielleicht schönste Passage der ganzen Oper platzt mehrfach die genervte Färberin aus einem Nebenraum, einmal auch im Putzen der Zähne, und drückt die Stopptaste. Ein nicht nur situativer Bruch, letztlich eine Hinrichtung. Dass etlichen Besuchern nach und nach das anfängliche Lachen im Halse stecken bleibt, zumal sich an diese Sequenz noch ein banaler Dialog unter Eheleuten anschließt, zeigt die Irrwitzigkeit, vielleicht auch Absurdität des Ansatzes dieser Inszenierung.

Die Partitur ist unter dem Aspekt der Orchestrierung in drei Welten gegliedert, in das Format des Kammerorchesters für die Geisterwelt, das große Orchester für die Menschenwelt und ausgewählte Solisten des Orchesters für die von der Amme repräsentierte Zwischenwelt. Im Idealfall fügt der Dirigent die unterschiedlichen Ton- und Stimmungsbilder wie die Flügel eines Triptychons zu einem musikalischen Ganzen zusammen, das auch den Sängerdarstellern den Raum zur Entfaltung lässt. Verständlicherweise erreicht das Beethoven Orchester Bonn unter der musikalischen Leitung von Dirk Kaftan angesichts des kontraproduktiven Geschehens auf der Bühne diese von Karl Böhm in der Nachfolge von Strauss vorgegebene Ideallinie nicht.

Gleichwohl, die expressiven Tutti-Passagen, angetrieben vom dynamischen Schlagwerk inklusive Gong und Glockenspiel, gelingen. Die raffinierten Soli-Momente von Cello, Violine, Flöte und Klarinette schaffen oder verstärken den in die Partitur eingegrabenen Rausch der Sinne, woran auch der von André Kellinghaus gut einstudierte Chor Anteil hat. Leider bringt Konwitschny Orchester und Sänger um den Schluss des Werks, das von Posaunen begleitete Jubelquartett, in das die Stimmen der Ungeborenen Kinder einfallen. In Bonn endet die Aufführung mit einer Szene aus dem zweiten Aufzug. Im Fokus die isolierte Frau ohne Kind oder Kinder.

Strauss‘ Vorstellungen von einer angemessenen Besetzung sehen zwei dramatische Soprane vor, Kaiserin und Färberin, sowie einen Heldentenor, idealiter aus der besten Wagnerriege. Am intensivsten gestaltet Anne-Fleur Werner ihre Partie mit expressiven Ausbrüchen und einem Spiel bis zur Selbstverleugnung. Sie ist die Kaiserin und das Zerrbild einer Frau, die wütet und lieben will, die sich straft und sich doch im Liebesspiel mit dem Färber verlieren kann. Aile Asszonyi erzeugt als Färberin ein Wechselbad an Eindrücken. Sie agiert als negierende Ehefrau derb bis grob, verstärkt durch eine raue Stimmführung und eine Unbeugsamkeit in der vokalen Attitüde.

Hinter diesen beiden bleibt der Kaiser von Aaron Cawley der Rolle einiges schuldig. Falke, mein Falke, du wiedergefundener – seine Freude über den „klugen Vogel“ artikuliert er mit höchster Emotionalität, die er aber nicht durchhält. Ein Umstand, der wiederum mit der Denaturierung dieser Figur im Regiekonzept zu erklären ist. Die vereinzelten Buh-Rufe, die er sich zum Schluss abholt, dürften zum Teil auch hiermit zu tun haben. Ruxandra Donose ist als Amme stimmlich unauffällig, im Spiel allerdings umtriebig. Der Färber von Giorgos Kanaris berührt mehr als Figur denn als Sänger. Bewegend jedoch, weil ein Juwel der Partitur fällt das Bekenntnis zu seiner Frau Mir anvertraut, daß ich sie hege, daß ich sie trage aus, das in ein Duett beider mündet. Melodisch bezwingend. Durchgehend mühen sich die Interpreten der Hauptpartien mit dem Text Hofmannsthal, dem angemessenen Ausdruck, was auf Kosten der Verständlichkeit geht.

Im turbulenten Schlussbeifall des Premierenpublikums, der die Leistungen von Orchester, Chor und Sängerensemble mit Jubel belohnt, kreist das Buh-Gewitter indirekt um die eine Frage, warum sich Konwitschny überhaupt mit dem Stoff befasst. Dabei liegen innovative Regieansätze zum Greifen nahe. Um nur exemplarisch einen zu nennen: Ist der kommerzielle Markt der Reproduktionsindustrie, der Leihmütter-Geschäfte und der Embryonenspenden angesichts der Tatsache ethisch zu rechtfertigen, dass es unzählige Kinder ohne elterliche Fürsorge und Zuwendung gibt? Kinder, die leben und schon unter uns sind. In dieser Fragestellung würden sich sicherlich auch Hofmannsthal und Strauss wiederfinden.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright Foto: Matthias Jung

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