Wenig Exotik, viel Furor: Fulminante Szenen einer Ehe auf Metastasios Spuren

Xl_0625_klangvokal_poro-1 © Copyright Foto: Oliver Hitzegrad

Poro, re dell‘ Indie Georg Friedrich Händel Besuch am 19. Juni 2025 Einzige Aufführung

Klangvokal Musikfestival Dortmund

Konzerthaus Dortmund

Wenig Exotik, viel Furor: Fulminante Szenen einer Ehe auf Metastasios Spuren

Alessandro hat Großmut gezeigt, dem Verschwörer Poro verziehen. Der indische König soll mit seiner Geliebten Cleofide ein Leben in Freiheit und Glück führen können. Nun stehen die drei, zusammen mit den weiteren Protagonisten des Dramma del musica, in einer Reihe, um mit dem ChorDopo tanto penare è più grato il piacer den Triumph der Liebe über die Rache zu feiern. Leicht exotisch wirkende dezente Trommelschläge illustrieren den Schauplatz im heutigen Punjab. Das zuvor schon äußerst großzügig Beifall spendende Publikum im Konzerthaus Dortmund reagiert mit solch großer Begeisterung, dass der Chor und das finale Duett davor wiederholt werden.

Mit der Neubelebung der selten gespielten Oper Poro, re dell‘ Indie von Georg Friedrich Händel zwei Wochen nach der Reaktivierung von Giuseppe Verdis Stiffelio setzt die 17. Ausgabe des Musikfestivals Klangvokal Dortmund ein zweites Mal einen starken Akzent im kulturellen Leben von Stadt und Region. Wohlklang in allen Schattierungen, vom Musikdrama, über Belcanto bis hin zum großen Chorwerk, ist die DNA des Dortmunder Festivals. Die konzertante Produktion des {oh!}Orkiestra und einer Garde von sechs exzellenten Sängern, die zweite Station einer Tournee nach dem Auftakt bei den Händel-Festspielen Halle, untermalt diese Ambition eindrücklich. Klangvokal zeigt sich aufgeschlossen für ein weites Spektrum aktueller wie historischer Musikrichtungen, vom Afro-Groove über Klänge aus der sibirischen Steppe bis eben zum Hochbarock.

1729 vertont Leonardo Vinci Alessandro nell‘Indie des einflussreichen Librettisten Pietro Metastasio. Händel, der Aufklärer im Denken und Komponieren, sagt der Stoff außerordentlich zu. Beweist doch ein großmütiger Herrscher Edelmut gegenüber Besiegten und Gefangenen. Das Stück ist auch die Vorlage für Wolfgang Amadeus Mozarts letzte Seria La clemenza di Tito, deren Textbuch ebenfalls auf Metastasio beruht. Händel ist die Figur von Alexander dem Großen vertraut. Bereits 1726 widmet er mit Alessandro dem makedonischen Heerführer ein erstes Denkmal in Noten. Es liefert dem Kastraten Senesino das Futter für einen seiner größten Londoner Triumphe und sichert der Sopranistin Faustina Bordoni ein prächtiges Debüt in der englischen Metropole. Ein Erfolg wird auch die Uraufführung von Poro am 2. Februar 1731, wie schon die 15 Wiederholungen innerhalb weniger Wochen belegen.

Anders als in den angeblich mehr als 50 Vertonungen der Alexander-Sage steht bei Händel der indische König Poro im Zentrum der Handlung, der von dem Makedonier auf dessen Indien-Feldzug besiegt und gefangen genommen wird. Bis dieser wegen seiner Courage und Menschlichkeit von Alessandro begnadigt wird, ereignen sich turbulente Liebesepisoden, die allerdings von Metastasio frei erfunden sind, indes den Konventionen der italienischen Oper zu jener Zeit sehr entgegenkommen. Das Liebespaar Cleofide und Poro durchläuft ebenso wie das zweite Paar, Erissena, Poros Schwester, und Gandarte, Poros loyaler Feldherr, alle Tiefen einer leidenschaftlichen Beziehung bis zum lieto fine.

Die sechste Figur, Timagene, Gefolgsmann Alessandros, schwankt gegenüber seinem Feldherrn zwischen Ergebenheit und Verrat. Er ist bereit, Alessandro aus Liebe zu Erissena zu hintergehen. Die Partie ist für die tiefe Männerstimme geschrieben und kontrastiert sehr schön mit den vielfältigen hellen Spitzentönen der Hauptpartien. Der Bassbariton Timothy Edlin verleiht Timagene in seinen raren Auftritten markante Konturen.

Die Partitur des Poro, gleichsam Händels Zweitstudie zu Person und Charakter Alexander des Großen, zeichnet sich durch fragile Musiklinien, einen Verzicht auf pompöse Ornamentik und allzu deutliche Exotik sowie eine Konzentration auf die inneren Dramen aus, die die Gefühle und Handlungen der Protagonisten beherrschen. Diese gewisse Zurückhaltung mag eine indirekte Konsequenz aus dem Erfolg der Beggar’s Opera von John Gay undJohann Christoh Pepusch drei Jahre zuvor und der Schließung des Haymarket Theatres auf Grund vorüber gehender finanzieller Engpässe sein. Es muss ja Gründe haben, warum Poro, re dell‘ Indie erst 1994 in Originalsprache und historischer Aufführungspraxis in konzertanter Form im Zusammenhang mit einer Schallplattenproduktion wieder aufgeführt wird, szenisch erstmals 1998, jeweils unter Leitung des Barock-Spezialisten Fabio Biondi. Auch heute ist die Zahl der CD-Einspielungen mehr als überschaubar.

Wie wichtig Händel der Fokus auf den Regenten von Indien ist, zeigt sich schon in den ersten Szenen. Nach einem heftigen Accompagnato-Rezitativ schleudert Poro seine Gefühle in der Arie Vedrai con tuo periglio di questa spada il lampo geradezu heraus. Die Verzweiflung über die Niederlage durch die Truppen des Makedoniers, die Enttäuschung über den vermuteten Treuebruch Cleofides. Der Interpret der Figur eines Mannes der verletzten Gefühle, der Countertenor Max Emanuel Cenčić, knüpft bruchlos an seine Fähigkeit an, impulsiven Charakteren durch vokale Virtuosität mit grandiosen Koloraturen und heiklen Kadenzen bis in die letzten Herzspitzen zu folgen.

Glatte 30 Minuten vergehen, ehe sich Cleofide, die Alessandro lediglich aus taktischen Gründen Avancen macht, dem Wüterich stellen kann. Die Sopranistin Julia Lezhneva meldet in ihrem Arioso Se mai turbo il tuo riposo vehement Widerstand an. Der anschließende deklamatorisch geführte Konfliktdialog der beiden wächst sich schlussendlich zu einem impulsiven Duett aus, das die Worte aus dem Arioso Cleofides noch einmal aufgreift. Keiner von beiden verzichtet darauf, den jeweils anderen zu attackieren und mit bitterer Ironie zu überziehen. Szenen einer Ehe, historisch ja, aber auch aktuell, so köstlich wie deprimierend.

Das Dortmunder Konzertpublikum hat Cenčić und Lezhneva unter anderem noch aus der konzertanten Aufführung von Antonio Vivaldis Orlando Furioso im Juni 2022 in bester Erinnerung. Auch diesmal begeistern beide das Publikum, in der individuellen Zeichnung ihrer jeweiligen Figuren wie im Zusammenspiel. Großartig wie Cenčić im ersten Akt in seiner Arie Se possono tanto due luci vezzose alle Register seines Könnens zieht. Es ist jenes Bravourstück, das seinerzeit Senesino in der Serie der Londoner Aufführungen zum Triumph verhilft. Nicht minder wirkungsvoll mit dem innigenDov’è? S’affretti, voll von seelischem Pathos.

Lezhneva brilliert insbesondere mit den beiden Arien Cleofides im zweiten Akt. Lyrisch verinnerlicht in Digli, ch’io son fedele, tragisch geprägt in Se il Ciel mi diride. Besonders berührend im dritten Aufzug in ihrem Arioso Spirto amato, in dem sie ihren Tod auf dem Scheiterhaufen ankündigt und die Seele Poros beschwört, den sie tot glaubt.

In der Rolle des Alessandro, nicht ohne Probleme von Händel mit einem Tenor besetzt und als Gegenpol zu Poro als beherrscht und zivilisiert charakterisiert, zeigt sich Hugo Hymas in guter Form. Das Stück adelt ihn als Heerführer in aufklärerischer Attitüde. Was er dabei zu singen hat, bleibt freilich weit zurück. Immerhin beeindruckt der „vornehme Grieche“ das Publikum durch galante Geläufigkeit der Koloraturen. Die Mezzosopranistin Lucile Richardot ist eine Erissena der verspielten Nuancen in Gesang wie Mimik. Sie gibt sich mit dunkel timbrierter Stimmfärbung spöttisch und abgehoben, zeigt aber in ihrer finalen Arie Son confusa pastorella ihre tiefe menschliche Seite. Umspielt von der Flöte, erzählt sie die Geschichte von der Hirtin, die sich im dunklen Wald verliert.

Als Gandarte hat der Countertenor Rémy Brès-Feuillet in seinem Sehnen nach Erissena eine vergleichbare Anwandlung. Begleitet von der Solo-Flöte, gibt er sich in seinem Lamento Se viver non poss’io lungi da te dem Wunsch hin, in der Nähe seiner Geliebten zu sterben. Brès-Feuillet, ein aufgehender Stern am Counter-Himmel, versteht es großartig, die unterschiedlichen Facetten des wankelmütigen Soldaten und Liebhabers viril und packend auszudrücken.

Unter Leitung der Violinistin und Dirigentin Martyna Pastuszka bestätigt {oh!} Orkiestra seinen Ruf, ein führendes auf historische Aufführungspraxis spezialisiertes Ensemble über die Grenzen Polens hinaus zu sein. Die Musiker als Tutti-Formation sowie die solistisch auftretenden Könner an Naturhörnern, Oboe und Flöte verstehen es blendend, die vielfältigen Farben der Partitur zum Blühen und Strahlen zu bringen. Pastuszka legt es körpersprachlich mit ruckartigen Dauerbewegungen unter Einschluss der Solo-Violine, die sie durchgängig spielt, massiv darauf an, das Orchester zu heftigen Affekten anzutreiben.

Diese Attitüde des fishing for emotion lenkt im Verlauf der Aufführung immer wieder vom Eigentlichen ab, der Konzentration auf Stimmen und Musik. Nach und nach baut sich auch so der Eindruck von gewollten Show-Elementen auf, die sich in der Mimik und den Bewegungen der Gesangssolisten fortsetzen. Beispielsweise in dem Momentum, als Richardot gemessenen Schrittes das ganze Podium des Orchesters umwandert, um ihr Stehpult zu erreichen, was auch in wenigen Sekunden möglich gewesen wäre.

Letztlich ist auch für Scoglio d’immata fronte aus Händels fünf Jahre zuvor entstandener Oper Scipione angerichtet. Die turbulente Nummer, für die das schöne Wort der Einlagearie gefunden ist, stammt zum Teil aus Alessandro, Händels eigener Oper. Noch einmal entzückt Lezhneva mit disruptiven Sprüngen und exaltierten Phrasierungen das Publikum,als hätte sich eine Nachtigall in das Konzerthaus verirrt. Zusammen mit dem großen Jubel für alle und alles, was sich zuvor ereignet hat, bleibt das furiose Impromptu noch eine Weile im Ohr. Selbst gegen den Lärm eines Sommerabends an der Brückstraße.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright Foto: Oliver Hitzegrad

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