Sentas Erlösung: Umdeutung des Seelendramas überzeugt nur musikalisch einigermaßen

Xl_9486__38____karl___monika_forster © Copyright: Karl & Monika Forster

Richard Wagner Der fliegende Holländer Besuch am 19. April 2023 Premiere am 2. April 2023

Oper Köln, Staatenhaus Deutz

Sentas Erlösung: Umdeutung des Seelendramas überzeugt nur musikalisch einigermaßen

In den vergangenen Jahrzehnten hat es zahlreiche Anläufe von Regisseuren gegeben, die Holländer-Sage als Psychodrama der Tochter des Norwegerkapitäns zu deuten. Harry Kupfer etwa zeigt Ende der 1970er Jahre bei den Bayreuther Festspielen Senta als Angsttraum einer narzisstischen jungen Frau, der er keinerlei Nähe zum Holländer gönnt. Eine neuerliche Umdeutung ist der dramaturgische Kern der Holländer-Neuproduktion von Benjamin Lazar an der Oper Köln. Sie fügt sich durchaus diskutabel in den gegenwärtigen Zeitgeist der Wahrnehmung der (jungen) Frau ein, bleibt aber auf der Bühne eine überzeugende Plausibilität schuldig.

In seiner Neuinszenierung von Richard Wagners OperDer Fliegende Holländer vor sechs Monaten im Duisburger Haus der Deutschen Oper am Rhein verortet der Regisseur Vasily Barkhatov ein Vorstadtkino als den Ort, an den sich die vom Erlösungswahn erfasste Senta in ihrer Realitätsflucht zurückziehen kann. Es ist der ihr vertraute Ort, an dem man einen alten Film über den Seefahrer-Mythos immer wieder unverändert erleben und sich so ein Stück Beständigkeit in einer Welt bewahren kann, in der der unangepasste Mensch leicht zum Außenseiter wird.

In seiner Inszenierung nun für die Kölner Oper siedelt der französische Regisseur Benjamin Lazar das Drama in unserer Gegenwart an, in einem „ostslawischen postsowjetischen Land“, was man auch mit Russland übersetzen kann. Senta ist eine erwachsene Frau, die an den Ort ihrer traumatischen Liebesgeschichte zurückkehrt und noch einmal das Geschehen erlebt, das sie in ihren Träumen und Phantasien nicht loslässt. Lazar, Realisator einer viel beachteten, Kerzen-durchfluteten Produktion von Georg Friedrich Händels Riccardo Primo bei den Händel-Festspielen in Karlsruhe 2014, lässt Sentas Trauma-Reprise zur Zeit der Masleniza, einer slawischen Karnevalstradition, spielen. Um die Überwindung des Winters und des Todes zu feiern, wird eine Puppe in Gestalt eines jungen Mädchens verbrannt. Der Kult bringt so den unterdrückten gewalttätigen Teil der Gesellschaft reinigend zum Ausdruck. Ein Brauch, der an die traditionelle Verbrennung des Nubbels im rheinischen Karneval am Vorabend des Aschermittwochs erinnert.

In Lazars Sicht ist Senta das Spiegelbild der Puppe. Hier stehe ich – treu dir bis zum Tod!, singt Senta zu den verklärenden Tönen von Wagners Holländer-Motiv am Schluss der Oper. Um diesen Treueschwur der jungen Frau, die dem Fremden bis zur Aufopferung ergeben ist, aufzuheben, wird die überkommene Identität Sentas kassiert und der Weg für eine selbstbestimmte Existenz freigemacht. Senta selbst, Kristiane Kaiser in Köln, zündet den Reisighaufen an, über dem die Masleniza-Puppe an einem Strick fixiert ist. Im Fortgang der Handlung ist die Skulptur von den Spinnerinnen der Dorfgesellschaft aus Fragmenten zusammengefügt und letztlich aufgerichtet worden.

Bei jeder Inszenierung sollten Art und Maß der künstlerischen Optionen unter den spezifischen Bedingungen des Staatenhauses differenziert betrachtet werden. Einmal die Ausstattung, die mit den eingeschränkten Möglichkeiten der einstigen Messehalle zurechtkommen muss. Zum anderen die Regie, die sich an diesen zu orientieren hat, über sie aber auch hinausgreifen kann, Adeline Carons Bühnenbild fokussiert auf einen Containerhafen in konjunktureller Baisse, was freilich mit der Vorlage Wagners kollidiert. Ihr zufolge spielt die Sage an der norwegischen Küste um 1650, an der allenfalls Segelschiffe beladen mit Säcken und Fässern anzulanden pflegen. Links in diesem Flecken der Ödnis haust die Mannschaft des Holländers in rostigem Blech. Rechts türmt sich die Brücke von Dalands Schiff auf. Senta zieht sich hierauf immer dann zurück, wenn sie, die Außenseiterin, allein sein möchte oder Schutz zunächst vor der Verführung suchen will, die vom Holländer ausgeht.

Vor dem halbhohen Orchestergraben ist ein Podest aus Holzplanken gezimmert, auf dem der von Rustam Samedov einstudierte erweiterte Chor der Kölner Oper mit vokaler Klasse, intensiver Mimik und spielerischer Hingabe agiert. Carons Holländer-Matrosen tragen tiefschwarze Monturen, während die Dorfbewohner im dritten Aufzug in wilde Masleniza-Kostüme gehüllt sind. Beobachtet die Mannschaft des Holländers anfänglich die Szene ziemlich stoisch, artet das Aufeinandertreffen mit den Einheimischen in eine wüste Schlägerei aus. Wagners flirrendes Gespenstertreiben eskaliert der Regisseur zu einem frühen clash of culture, in dem die Ortsansässigen die ungebetenen Fremden heftig malträtieren. Was wir heute beim Thema der Migranten erleben, hat einen langen Vorlauf.

Am Ende von Sentas Emanzipationsgeschichte, wie sie Lazar auf dem Hintergrund eine mehr verurteilenden als zulassenden Gesellschaft erzählt, geht die nunmehr von ihrer Wahnvorstellung erlöste Senta schlicht zur Seite. Nach dem Verzicht auf eine unerreichbare Liebe scheint sie bereit, in ein mutmaßlich neues Leben aufzubrechen. Derweil bleibt der Holländer wie versteinert an einem Holztisch sitzen. Auch ihn sieht Lazar am Ende eines Wandlungsprozesses, nachdem er von dem unerfüllbaren Erlösungswunsch Abschied genommen hat.

Was mit diesem Regiekonzept verbunden, wenn nicht vorsätzlich beabsichtigt wird, ist nichts weniger als die Demontage des geistig-philosophischen Denkens Wagners. Die musikalische Verstümmelung der Partitur bleibt zwar aus, die es zur Eliminierung des Erlösungskonstrukts um Senta in einigen Inszenierungen schon gegeben hat. Doch zerstört Lazar Wagners elementaren Leitgedanken, der seine anschließenden Werke bis zum Parsifal bestimmen wird. Was können Besucher mit dieser Inszenierung anfangen, die erstmals eine Holländer-Aufführung erleben?

Generalmusikdirektor François-Xavier Roth hat es in seiner vorletzten Kölner Spielzeit zu einer persönlichen Ambition erklärt, erstmals Wagners „erstes ganzes Kunstwerk mit einem durchziehenden Gewebe von Grundthemen“ (der Komponist über seinen Holländer) in der Öffentlichkeit vorstellen zu können. Am Pult des Gürzenich-Orchesters löst er dieses Vorhaben mit einer fulminanten instrumentalen Präsentation ein. Und das ungeachtet der besonderen Raumverhältnisse, die ihm keinerlei dauerhaften Sichtkontakt zu den Sängern ermöglichen. Die Koordination mit dem Chor auf dem Podium hinter seinem Rücken funktioniert gleichwohl bestens.

Es ist ein kurioses Alleinstellungsmerkmal dieser Produktion, dass nicht die Sänger der drei Hauptpartien den stärksten Eindruck erzeugen. Vielmehr sind es die beiden Tenöre in den Rollen von Erik und Dalands Steuermann. Young Woo Kim gibt Sentas Verlobten mit Kraft, Vehemenz und anrührender Emphase. Seunglick Kim punktet mit gefälligem Timbre und aufopferungsvollem Spiel. James Rutherford ist in der Titelpartie eine routinierte, aber keineswegs die schaurig-schöne Besetzung, die der Figur des Holländers entspräche. Seine ergreifende erste unmittelbare Begegnung mit Senta Wie aus der Ferne längst vergang´ner Zeiten, für die Wagner einen Vortrag mezza voce e con molto portamento verlangt, löst nicht jene Atemlosigkeit aus, die jede Holländer-Aufführung zur Sternstunde machen kann.

Kristiane Kaisers Senta geht zu keinem Augenblick unter die Haut. Sie singt in der Holländer-Ballade von blutroten Segeln und dem schwarzen Mast. Doch fehlt ihrem höhensicheren ausdrucksstarken Sopran eben diese Farbenglut und Emotionalität, die unweigerlich zu einem geheimen Bund zwischen Dalands Tochter und dem Publikum führen können. Der Bariton Lucas Singer ist ein rühriger Daland, der den Doppelcharakter dieser Rolle, Vater und Geschäftsmann, glaubwürdig verkörpert. Als Mary favorisiert die Mezzosopranistin Dalia Schaechter strenge Schärfe und trifft damit genau das Profil von Sentas Amme.  

Das Publikum im voll besetzten Deutzer Ausweichquartier, darunter erfreulich viele junge Leute, überschüttet alle Mitwirkenden mit anhaltendem Beifall und etlichen Bravo!-Rufen. Mit von der Partie ist eine Schulklasse aus dem rheinischen Langenfeld. Wagners Romantische Oper ist nach der Zauberflöte von Wolfgang Amadeus Mozart ihre zweite, im Musikunterricht angestoßene Begegnung mit der Kunst der Oper. Der Sound, berichten einige, habe es ihnen angetan, die Geschichte wohl weniger. Wie auch immer – auch diesem Anfang wohnt eine Zukunft inne.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright: Karl & Monika Forster

 

| Drucken

Mehr

Kommentare

Loading