Selbstzerstörung eines verblendeten Königs im Zentrum sinnlichen Musiktheaters

Xl_sau_3806-1 © Copyright Foto: Sandra Then

Saul Georg Friedrich Händel Besuch am 23. November 2025 Premiere

Oper Köln Staatenhaus Deutz

Selbstzerstörung eines verblendeten Königs im Zentrum sinnlichen Musiktheaters

Das schräg ansteigende, in düsterstes Schwarz getauchte Schlachtfeld ist übersät von Getöteten. Exponiert vorn die Leichname von Saul und seinem Sohn Jonathan. Die Prophezeiung der Hexe von Endor, die der König der Israeliten in seiner Not aufgesucht hat, ist in Erfüllung gegangen. Das Meer von Kerzen, das zuvor noch auf dem gleichen Boden Hoffnung symbolisierte, ist erloschen. Ein Trauermarsch, eines der populärsten Stücke des Oratoriums, drückt die Stimmung in elegischer Schwermut aus. David, der neue Hoffnungsträger, König in der Nachfolge Sauls, übernimmt ein Amt, das durch die zuvor ausgemalten Machtkämpfe beschädigt ist.

Mit bildgewaltigen Tableaus, die effektvoll mit der dramatischen Musiksprache und der raffinierten Instrumentierung Georg Friedrich Händels korrespondieren, begeistert die Übernahme des Oratoriums Saul vom Glyndebourne Festival das Kölner Opernpublikum. Die dort 2015 uraufgeführte Inszenierung von Barry Kosky im Tandem mit der phantasievollen Ausstattung von Katrin Lea Tag gestattet sich ungeachtet ihrer beachtlichen Länge zu keinem Zeitpunkt, die Geduld der Besucher auf harte Proben zu stellen. Im Gegenteil. Diese Neu- oder vermutlich Erstbegegnung vieler im großen Saal des Deutzer Staatenhauses mit Händels alttestamentarischem Spektakel von 1739 für das King’s Theatre am Londoner Haymarket ist lebendiges, alle Sinne forderndes Musiktheater auf – Festivalniveau.

Händels Bestrebungen, eine eigene Form hymnisch-epischer Musik zwischen Oper und Kirchenmusik zu finden, reichen bis in das Jahr 1713 zurück. Ausgangspunkt ist ein Gelegenheitswerk, die Ode for the birthday of Queen Anne. Als sich in den 1730er Jahren das nachlassende Interesse des verwöhnten Londoner Opernpublikums an der von Händel importierten opera seria abzeichnet, erinnert sich der Komponist und Opernunternehmer der Gattung des Oratoriums. Bis Jephta 1752 komponiert Händel an die 30 oratorische Werke überwiegend in englischer Sprache, was ihre Akzeptanz in den Theatern erhöht. Saul, Händels viertes englisches Oratorium nimmt unter ihnen eine singuläre Stellung ein.

Die Geschichte des Königs Saul ist im Alten Testament ein breit erzähltes Thema. Während bei Händel der Sturz Sauls und seines Sohnes Jonathan im Zentrum steht, wird im Buch Samuels vor allem die Entwicklung Davids von seinem Sieg über Goliath bis zur Besteigung des Throns berichtet. Diese Erzählung ist Kern zahlreicher legendärer Darstellungen des Königs David in der bildenden Kunst und der Musik. Genannt seien die David-Statue von Michelangelo in Florenz, die Oper Saul og David von Carl Nielsen, das Oratorium Le Roi David von Arthur Honegger und Darius Milhauds David-Komposition zur Staatsgründung Israels.

In Saul spitzt sich nach Davids Sieg über den Riesen Goliath die Lage von König Saul zu, der sich gezwungen sieht, David in seinem Hause willkommen zu heißen und als Helden zu verehren. Neid und Hass erfüllen Sauls Herzen, als er in David einen Konkurrenten um den Thron erkennen muss. Als sich sein Sohn Jonathan und seine Tochter Michal auf die Seite Davids schlagen und sich überdies noch die zweite Tochter Merab zu dem gefeierten Helden bekennt, beschließt Saul, David aus dem Weg zu räumen. Dieser aber genießt göttlichen Schutz. Saul erkennt, dass Gott sich von ihm abgewandt und das Königreich David übergeben hat. Er sucht in der Schlacht den Tod. Der Hohepriester ruft David zum neuen König aus.

Das Libretto stammt von Charles Jennens, einem gebildeten Amateurautor, der sich auf allein 20 Bearbeitungen des Stoffes in der Literatur Englands stützen kann. Jennens und Händel arbeiten für die Gestaltung des Dramas eng zusammen. Dies ist in Briefen belegt, in denen der Komponist seinem Textdichter „hohen Respekt“ erweist. Zum Erfolg des Oratoriums, das im Jahr der Uraufführung insgesamt sechs Mal im Theater am Haymarket aufgeführt wird, dürfte das gewählte Thema beigetragen haben. Allzu gern wird Davids Übernahme der Herrschaft mit der Glorious Revolution verglichen. Die unblutig beendete Revolution von 1688/89 bedeutet das Ende der absolutistischen Gewalt der Stuarts. Saul zählt zu den Werken, mit denen Händel den großen Themen der frühkapitalistischen englischen Gesellschaft – politische und religiöse Gedankenfreiheit, Toleranz und Respekt – eine begierig aufgenommene Bühne zimmert.

In der Kosky-Inszenierung besticht die Bühnenausstattung durch speziell gestylte Objekte wie eine lang gestreckte Tafel oder zu einem Rechteckt angeordnete Tische, die von Tüchern verdeckt werden und doch einen Spalt in der Mitte für bizarre Auftritte der Protagonisten lassen. In der Anfangsszene ist der Chor, das Volk Israels, als es seinen Triumphgesang für den Sieg über Goliath und die Philister anstimmt, auf einer solchen Tafel positioniert. Wie in einem gemalten Stillleben, die Sängerinnen in bunten Reifrockkostümen, die Sänger mit hoch getürmten Rokokoperücken. Darüber die Nachbildung eines Schwans und eines Pfaus, darunter Motive aus der Natur, Hirsch, Fisch, Muschel. Die Momentaufnahme löst sich, und die Choristen verwandeln sich in eine aufgeregte Menge, die schreit und gestikulierend die Hände nach oben richtet.

Für schöne oder schauerliche, stets eindrucksvolle Effekte sorgt die innovative Lichtregie von Joachim Klein in der Adaption von David Manion. Die Kunst der famosen sechs Tänzer in der Choreografie von Otto Pichler kann man gewiss bestaunen. Ob sie allerdings wesentlich zur Erhellung des Geschehens beitragen, lässt sich mehr als bezweifeln. Zwingend ist ihre Art der Kommentierung nicht, weil ihre Figuren nichts ausdrücken, was nicht längst die Musik erzählt hat.

Händel gestaltet mit musiksprachlichen Mitteln insbesondere die seelische Zerrüttung Sauls und Davids Gottvertrauen. Der Inszenierung Koskys, die in Köln szenisch von Donna Stirrup betreut wird, gelingt es, in hoher Affinität zur Partitur die wachsende Entfremdung Sauls von seinem Volk plastisch werden zu lassen. Die Isolation des Herrschers, die in seinem Plan zur Tötung Davids mündet, wird fast mit filmischen Mitteln dargestellt, wenn die Menge und anschließend Merab und Michal, die Töchter Sauls, sich der Lichtgestalt David zuwenden und die verzweifelten Gesten Sauls zeigen, wie sehr ihn dies in der Seele trifft. In eine Seele, die mehr und mehr von Neid und Hass zerfressen wird. Groteske Züge nimmt die Begegnung mit Samuels Geist an, zwei Greise in Unterwäsche, allein auf einer öden dunklen Fläche.

Ungeachtet aller biblischer Gewalten möchte Kosky nicht ohne Humor auskommen und sich gar Slapstick-Momente erlauben. In Freudensprüngen tollt Michal über die Bühne, als sie von der Erlaubnis erfährt, die Frau an der Seite Davids werden zu können. Komisch bis frivol wirken die Szenen, in denen sich die Wortführer auf der Nachbildung des Hauptes Goliaths niederlassen. Nicht ohne Pikanterie sind die homoerotischen Andeutungen insbesondere in der Beziehung, die sich zwischen Jonathan und David entwickelt, bis hin zum ausgedehnten Kuss.

Händels Partitur zeichnet sich durch eine variantenreiche Verwendung von Tonarten und eine reiche Instrumentierung aus. Zur Geltung kommt dies beispielsweise in der Arie der Hexe von Endor, die John Heuzenroeder mit vollem Körpereinsatz gibt. Hier verstärken unheimlich wirkende Bläserakkorde die eh schon magische Stimmung der f-Moll-Tonart. Holzbläser, Trompeten, Posaunen, Carillon – eine damals Aufsehen erregende Cembalo-Variante –, Harfe, Orgel sowie Kesselpauken, die eigens für die Saul-Aufführungen aus dem Londoner Tower ausgeliehen werden, prägen die spezielle Farbe dieser Musik. Zusätzlich integriert Händel fünf illustrierende Instrumentalsätze in den Saul-Kosmos, was seine Ambitionen auf diesem Gebiet unterstreicht. Und damit dies von Beginn an das Publikum auch mitbekommt, ist der Komposition eine vier Sätze umfassende Sinfonie vorangestellt, deren Allegro der Orgel eine konzertierende Rolle zuweist.

Das Gürzenich-Orchester mit dem Händel-erfahrenen Rubén Dubrovsky am Pult wertet die Aufführung zu einem Erlebnis auf. Auch dank diverser solistischer Könner wie Sören Leupold und David Bergmüller an Laute und Theorbe. Das Geschenk des Komponisten, dem Chor eine herausgehobene Rolle zu geben und in fast allen Schlüsselszenen des Dramas präsent zu sein, zahlt das von Rustam Samedov blendend eingestellte Ensemble doppelt zurück, sängerisch wie in der formidablen Darstellung.

Auch das Sängerensemble mit Christopher Purves als Saul und Geist Samuels sowie Linard Vrielink als Jonathan in den herausragenden Partien schließt zur Festivalqualität auf. Purves, auch der Glydebourne-Saul, liefert mit seiner rollengerechten Tessitura stimmlich und nicht zuletzt dramatisch eine Charakterskizze, die unter die Haut geht. Vrielink begeistert durch sein hell fließendes und schlicht schönes Timbre. Dagegen bleibt der Countertenor Christopher Lowrey zurückhaltend, ein Stück weit matt angesichts der Macht, die ihm die himmlische und die irdische Instanz schenkt. Benjamin Hulett erzeugt vor allem als Hohepriester Furor. Die Rollen der Töchter sind ansprechend besetzt, mit Sarah Brady als Merab, die ihre Position energisch und emanzipiert vertritt, mit Giulia Montanari als Michal, die ihr italienisches Temperament mit glockenfeiner Stimme und maximaler Spielfreude so richtig auskosten darf.

Das Publikum lässt durch frenetischen Beifall für alle Mitwirkenden erkennen, dass es diesen Saul angenommen, vielleicht sogar in sein Herz aufgenommen hat. 200 Jahre wurden Händels Werke ignoriert. Heute, da Festspiele in seinem Namen und Händel-Produktionen an den Theatern aller Größe wie jetzt in Köln das Publikum elektrisieren, wohl kaum noch verständlich.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright Foto: Sandra Then

| Drucken

Mehr

Kommentare

Loading