Opulenz und Zumutung: Gewaltige Wiederentdeckung einer Grand opéra

Xl_nr.1b_pierre_de_medicis_riw_24_07_25_1 © Copyright Foto: Karin Fehrenbach

Pierre de Médicis Józef Poniatowski Besuch am 24. Juli 2025 Deutsche Erstaufführung

Belcanto Festival Rossini in Wildbad, Trinkhalle, Bad Wildbad

Opulenz und Zumutung: Gewaltige Wiederentdeckung einer Grand opéra

Zur DNA der Programmatik des Festivals im Nordschwarzwald gehört die Ambition, regelmäßig mit Werken von Wegbegleitern und Freunden Gioachino Rossinis vertraut zu machen, die im regulären Musikbetrieb kaum eine Chance haben, wieder entdeckt zu werden. So sind in den letzten Jahren Aufführungen und CD-Einspielungen von Rossini-Zeitgenossen entstanden, etwa La sposa di Messina von Nicola Vaccaj, Le Philtre von Daniel Francois Auber, Johann Simon Mayrs L’accademia di musica, Romilda e Costanza von Giacomo Meyerbeer. Die Grand opéra Pierre de Médicis, das aktuelle Glied in dieser Kette der eigentümlichen Retrospektiven, ist wie ihr Genre eine extraordinäre Angelegenheit, Rausch und Zumutung in einem.

Die Verbindung Rossinis zum Komponisten ist mehrfach belegt und durchaus als eng zu verstehen. Józef Poniatowski, in Rom geboren und Neffe des letzten polnischen Königs, ist eine Mehrfachbegabung auf diplomatischem wie künstlerischem Terrain. Er macht als Tenor in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Italien Karriere und tritt in einer Otello-Aufführung auf. Rossini dirigiert sie und pflegt Austausch mit Poniatowski. Sein Werk als Komponist umfasst ein Dutzend Opern. Pierre de Médicis, seine achte, wird im März 1860 im Salle Le Peletier in Paris uraufgeführt und ein großer Erfolg. Bis Februar 1861 kommt sie auf 39 Aufführungen. Weitere acht Mal wird sie bis 1862 mit einem abgeänderten Schluss gegeben, dann bis zur Neuentdeckung 2011 in Krakau praktisch vergessen.

Giuseppe – so sein italianisierter Vorname – Poniatowski und Rossini sind als Opernkomponisten keine Konkurrenten. 1860 ist dieser Rossini längst Geschichte. Die Uraufführung des Guillaume Tell, seiner letzten Komposition an der Opéra Paris, liegt mehr als 30 Jahre zurück.

Die Lieblingskonstellation von Opernlibrettisten, eine Frau zwischen zwei Männern, vorrangig Sopran zwischen Tenor und Bariton wie in Norma oder im Maskenball, ist auch das Sujet des französischsprachigen Pierre de Médicis, dem ein Text von Saint-Georges und Émilien Pacini zugrunde liegt. Erzählt wird die fiktive Geschichte der letzten Jahre des Piero di Lorenzo de' Medici. Der Sohn des Medici-Fürsten Lorenzo regiert im realen Leben von 1492 bis 1494 Florenz, scheitert im Gefolge falscher politischer Entscheidungen und wird ins Exil nach Venedig gezwungen. In der Oper, die in Pisa spielt, steht das leidenschaftliche Ringen der Medici-Brüder Pierre und Julien um Laura Salviati, Gräfin und Nichte des Großinquisitors Fra Antonio, im Zentrum der Handlung.

Laura liebt Julien, muss sich indes unter dem Druck des Onkels entscheiden, Pierre zu heiraten oder ins Kloster zu gehen. Ein makabres Oktroi der klerikalen Repression. Im Trubel eines Volksfestes entscheiden sich Laura und Julien zur Flucht. Doch wird das Versteck am Arno, in das Paolo Monti, der Freund Juliens, Laura gebracht hat, entdeckt. Pierre fällt in einem Aufstand, der gegen ihn erhoben wird. Laura legt ihr Gelübde als „Braut Gottes“ ab und verzichtet auf weltliche Liebe. Julien sieht sich außerstande, dies zu verhindern. In der zweiten Fassung der Oper von 1861 stürmt Montis Gefolge zusammen mit Pierre und Julien das Kloster. Pierre befielt, bevor er stirbt, den Abbruch des Aufnahmerituals, bittet seinen Bruder um Vergebung und führt ihn mit Laura zusammen.

Die Wildbader Aufführung folgt im Finale der zweiten Fassung, was legitim ist, aber das Ganze in ein falsches Licht taucht. Es ist schon ein Stück weit provokativ, wenn der zuvor glaubhaft ausgebreiteten weltlichen und kirchlichen Herrschaft der Hochrenaissance ein mildernder Filter übergestülpt wird. Wenn die Vorgeschichte von Lauras Errettung vor dem Klosterleben mit religiösen Anspielungen, der Beschwörung der Jungfrau Maria und diversen Hymnen befrachtet ist, die aus dem Kloster erschallen. Wenn diese im vierten Aufzug in einem „religiösen Marsch“ gipfeln, gefolgt von Chor und Gebet Dans ce séjour pieux Esprit céleste.

Was in der Wildbader gut besetzten Trinkhalle zu hören ist, erfüllt mit variantenreicher Instrumentierung, vor Kraft strotzenden Ensemble- einschließlich Chornummern sowie ambitionierten Solopartien von der lyrischen Kavatine über die beseelte Barkarole bis zum stimmungsvollen Trinklied gewiss die Anforderungen des Genres Grand opéra, zumal sich das Epos über ausufernde vier Akte und vier satte Stunden erstreckt. Eine originäre Linie in Klangbildung und Stimmführung ist weniger, wenn überhaupt zu erkennen. In Poniatowskis Partitur laufen alle Strömungen der damaligen Epoche zusammen, der Belcanto Bellinis und Donizettis, die romantische Schule Aubers, die Handschrift Meyerbeers, selbst die Walzerfreuden eines Johann Strauss (Sohn).

Selbstverständlich nimmt sich Poniatowski mit Blick auf die Vorlieben des damaligen Pariser Publikums ausreichend Zeit für eine Ballettmusik. In 22 Minuten wird im zweiten Akt mit Les amours de Diane eine für die Uraufführung wohl von Marius Petipa choreographierte Geschichte erzählt, deren Handlungsstruktur mit zwei Männern, die die Göttin der Jagd begehren, dem Plot Poniatowski nahekommt. Damit aber nicht genug. Zu Beginn des vierten Akts ertönt, als sei der opulente Hunger des Genres noch immer nicht gestillt, nach einer Zwischenaktmusik noch einmal eine Balletteinlage. Wenn Grand opéra die Präsentation aller Stilmittel in extenso bedeutet, dann wird mit Pierre de Médicis eine monströse Steigerung zelebriert.

Der angesichts der begrenzten Raumkapazitäten zahlenmäßig überschaubare Chor und das Orchester der Szymanowski-Philharmonie Krakau zeigen sich unter Leitung des in Wildbad hochgeschätzten Dirigenten José Miguel Pérez-Sierra blendend vorbereitet und in bester Verfassung. Für subtile Atmosphären sorgen einfühlsame Holzbläser, Hörner und Harfen. Die Orgel garantiert genreadäquaten Schauder.

Unter den fünf Hauptpartien ragen der Interpret der Rolle des Pierre und die Sängerin der Laura heraus. Für die Titelpartie ist der frankophone Tenor Patrick Kabongo mit blitzenden Spitzentönen und sicherer Bewältigung der umfangreichen Tessitura eine ideale Besetzung. Eine bravouröse Bestätigung seines Könnens als Graf Ory an der Enz zuletzt. Claudia Pavone besticht als Laura mit der furiosen Bandbreite ihres eher dunklen Soprans voller dramatischer Vehemenz und lyrischer Innigkeit. Berührend ihr Duett mit Julien Est-ce lui qui s’avance? im ersten Akt, dem der Bariton César San Martin mit kraftvoller Registertiefe und variantenreichem Ausdruck Charakter und Standhaftigkeit verleiht.

So abstoßend die Rolle des Großinquisitors sein mag, so begeisternd ereignet sich ihre Gestaltung durch Nathanaël Tavernier. Der Bass gewinnt den Saal durch stupende Tiefe und die schneidende Kälte seines Vortrags, mit der er die Höllen seiner Rolle auslotet. Einmal mehr positiv überrascht nach seinem Auftritt im Wildbader Otello der Tenor Anle Gou als Paolo Monti. Sein Lied im Stil der venezianischen Gondolieri im Versteck am Arno, das Lauras Flucht vollenden helfen soll, gefällt mit lyrischer Linie und tadelloser Höhe.

Im Publikum, das nach der langen und hoch emotionalen Strecke in einer Mischung aus Begeisterung und Erleichterung die Akteure allesamt ausgiebig feiert, fällt der beträchtliche Anteil von französischen Rossini-Anhängern auf, die das Erlebte lebhaft diskutieren. Das Festival ist in der Grenzregion zu Straßburg seit Jahren ein Begriff. Quasi angeführt werden sie von Gaël de Maisonneuve, dem französischen Generalkonsul für Baden-Württemberg. Auch ein Indiz für die Wertschätzung der Festspiele auf beiden Seiten. Nicht zuletzt des Europäers Rossini hier wie dort.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright Foto: Karin Fehrenbach

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