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Cardillac Paul Hindemith Besuch am 13. Dezember 2025 Premiere am 6. Dezember 2025
Aalto Musiktheater Essen
Nacht des Lichts, Nacht des Todes: Elektrisierende Allianz von Ausstattung und Musik
Dass Künstler, insbesondere bildende Künstler und Kunsthandwerker, sich nicht von ihren Werken trennen können, ist ein nicht selten beobachtetes Verhalten. Mit dem Verkauf verlieren sie in ihrem Verständnis ein Stück ihrer Identität und ihrer Selbstverwirklichung, In der Psychologie wird diese Störung als Cardillac Syndrom beschrieben. Der Begriff fußt auf einer Kriminalnovelle aus der deutschen Romantik. Nun ist die Oper, die Paul Hindemith aus dem Stoff formte, am Essener Aalto-Theater herausgekommen. Ein in der zweiten Aufführung nach der Premiere leider nur etwa zur Hälfte besetztes Haus erfährt hochdramatisches Musiktheater, das höchste Konzentration erfordert, die schlussendlich mit einem nicht alltäglichen Opernerlebnis belohnt wird.
Hindemith, Bewahrer wie Erneuerer der Musik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ist bis zu seiner Berufung 1927 auf den Lehrstuhl für Komposition an der Musikhochschule Berlin eine inspirierende Kraft bei der Etablierung der Tage für neue Musik in Donaueschingen. Seine Schöpfungen im Bereich der Moderne zeichnen sich durch eine Neuordnung des Tonmaterials unter Bewahrung der Tonalität auf. Mit der Oper Mathis der Maler, die 1938 in Zürich zur Uraufführung gelangt – eine Folge des vom NS-Regime gegen ihn 1934 verhängten Aufführungsverbots wegen „entarteter Musik“ und seiner Vertreibung aus Deutschland –, entwickelt er einen neuen Klangstil, auch unter Rekurs auf Richard Wagner und Hans Pfitzner.
Der Oper Cardillac in drei Akten und vier Bildern liegt die Novelle Das Fräulein von Scuderi von E. T. A. Hoffmann zugrunde, die 1819/21 erscheint und als erste Kriminalgeschichte im modernen Verständnis gilt. Das Libretto stammt von Ferdinand Lion, einem deutsch-schweizerischen Journalisten, der auch Operntextbücher für Werner Egk geschrieben hat. Die Geschichte spielt um 1680 in Paris.
Hoffmanns/Lions Geschichte ist ein romantisches Schauerdrama. Der Goldschmied René Cardillac fertigt wunderschöne Schmuckstücke an, von denen er sich nur widerwillig trennt. Nach dem Verkauf setzt er alles daran, seine Kunstwerke zurückzugewinnen – auch um den Preis von Menschenleben. Ein Offizier, der Cardillacs Tochter verehrt, entdeckt das Treiben des Goldschmieds. Ein Mordanschlag auf den Offizier scheitert, doch es kommt zu keiner Anklage gegen den Täter, Cardillac. Stattdessen wird im zufällig auftauchenden Goldhändler der vermeintlich Schuldige gefunden. Cardillac verwickelt sich in Widersprüche und gibt sich vor der Menge als der wahre Mörder zu erkennen, als ihm das Volk mit der Vernichtung seiner Kunst droht, falls er sich einer Aussage entziehen sollte. Er fällt der Lynchjustiz des Volkes zum Opfer.
Cardillacexistiert in zwei Fassungen. Zwanzig Jahre nach der Uraufführung am 9. November 1926 in der Dresdner Staatsoper unter der Leitung von Fritz Busch erarbeitet Hindemith unter dem Eindruck der Schrecken des Zweiten Weltkriegs eine vieraktige Neufassung, die am 20. Juni 1952 im Stadttheater Zürich erstmals gezeigt wird. Nach 1953 duldet Hindemith keine Neuaufführung der ursprünglichen Fassung, die als brutaler und verstörender als die Version von 1952 gilt. Das Aalto-Theater entscheidet sich, bemerkenswert genug, für die erste Fassung. Diese Entscheidung ist künstlerisch nachvollziehbar, auch weil sich die revidierte Version nicht wirklich durchsetzen kann.
Die Inszenierung stammt von dem belgischen Regisseur Guy Joosten, der sie bereits 2019 an der Opera Vlaanderen Antwerpen, seinem Heimattheater, herausbrachte. Joosten, der an zahlreichen Musiktheatern in Deutschland gearbeitet hat, so an der Deutschen Oper am Rhein, taucht mit seinem Verständnis des Stücks in den Expressionismus der zwanziger Jahre ein, was insbesondere an den Kostümen einiger der Protagonisten erkennbar ist. 1964 bedient sich das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen desselben Ansatzes.
Jean-Pierre Ponnellematerialisiert 1985 an der Bayerischen Staatsoper die Spannung der Textvorlage durch Anleihen an die Filme der zwanziger Jahre. In der von ihm kreierten Ensemble von Regie, Bühne, Kostümen schafft das stilbildende Format für seine Inszenierung auf der Bruchkante von Oper und Opernfilm eine aufregende Atmosphäre, die verfängt und in Erinnerung bleibt. Nun also ein ähnlicher Ausgangspunt Joostens.
In Essen verantwortet Kathrin Nottrodt Bühnenbild und Kostüme. Ihre Ausstattung der drei Schauplätze im Stück – Freier Platz, Cardillacs Werkstatt, Nächtliche Straße – generiert durch Verwendung optisch starker Requisiten eine bedrohliche Stimmung, die der gewalttätigen Handlung korrespondiert. In der ersten Szene erregt sich das Volk von Paris über die Mordserie, die Tagesgespräch ist. Die Männer tragen im Stil der zwanziger Jahre schwarze Mäntel und Hut, die Frauen dunkle Mäntel mit hellen Pelzkragen und Hüte in Glockenform. Die eiligen Bewegungen des empörten Volks werden durch eine transparente Leinwand und dank einer raffinierten Lichtregie (Jürgen Kolb) in verschiedenartige Strukturen zergliedert, die in ihren Hell- und Dunkelvarianten an die Filmsprache eben dieser zwanziger Jahre erinnern. Oder auch an den Film Noir etliche Jahre später.
Im zweiten Akt mutiert der von einem Seil gezogene schwarze Bühnenboden zur Werkstatt des Goldschmieds mit dem Schrägdach des typischen Künstlerateliers, wie man es auch aus Inszenierungen von La Bohème von Giacomo Puccini kennt. Unter dem Dach ist ein großes flaches Bett aufgeschlagen, auf dem sich Liebes- wie Mordszenen abspielen. Auf dem sich Cardillac bisweilen unter einem monströsen Berg von Goldkissen verbirgt, die seine neurotische Beziehung zu seinen Goldschmiedekunstwerken andeuten sollen. Ausstattung und Musik gehen spätestens hier eine äußerst ausdruckstarke Allianz ein.
Joosten schildert keinen Tatort von Paris. Sein Interesse gilt den handelnden Personen, ihren seelischen Formationen und Deformationen in einem von sozialen Schranken geprägten Milieu, das in der „Waagschale des Lebens“, wie es im Textbuch heißt, zwischen der „Nacht des Lichts auf der einen und der Nacht des Todes auf der anderen Seite“ changiert. Alle Protagonisten verhalten und verändern sich wie in Mozarts Don Giovanni um eine Person, eben den irrlichternden Goldschmied. Joosten betreibt großen Aufwand, die Psyche Cardillacs als das zu konturieren, was sie ist: die geistig-seelische Störung eines Menschen, der sich und sein Metier überhöht. Dessen Wahn auch andere ansteckt, selbst die, die ihn wie seine Tochter lieben.
Schon zu Beginn macht der Goldschmied aus seiner psychotischen Beziehung zu seinem Handwerk keinen Hehl. Er nennt es „eines Königs würdig“, was ihn anscheinend legitimiert, royale Insignien inklusive Königskrone zu tragen und Ehrerbietung von den Stadtbewohnern zu verlangen, denen er – je nach Lust und Laune – auch als Narr an seinem eigenen fiktiven Hof begegnet. Im finalen Gesang wird Cardillac nun auch von seiner sozialen Umgebung erhöht, ganz so als sei seine Strategie aufgegangen, und als Opfer eines „heil’gen Wahns“ bezeichnet. Joosten lässt im Weiterspinnen dieses Gedankenspiels den Goldschmied sterben, während er ihn als Künstler triumphieren und noch einmal gravitätisch durch den Raum und zuletzt vor den Vorhang schreiten lässt.
Musikalisch ist die Urversion mutmaßlich die überzeugendere, die packende, wenn man so will die „echtere“ Fassung. Dies lässt sich unter Beschäftigung mit Hindemiths Klangsprache aus der Linie schließen, die Patrick Lange mit den reduziert besetzten Essener Philharmonikern erzeugt. Dazu trägt auch der Chor (Einstudierung Bernhard Schneider) nicht unwesentlich bei. Wie er die Hetze des Volkes gegen den Goldschmied forciert, dem es zuvor noch in fast oratorienartiger Weise gehuldigt hat, geht unter die Haut.
Cardillac ist dem neobarocken Stil zuzuordnen, in dem Komponisten ästhetische Formen und Klänge des Barock aufgreifen, mit Techniken, mit Rhythmik und Harmonik verbinden, die sich im frühen 20. Jahrhundert neu etablierten. So greift Hindemith in seiner Kammermusik Nr. 1-7 Strukturen des Concerto Grosso auf, in seinen Werken für das Musiktheater die traditionelle Nummernoper. Er entwickelt einen Mix komplexer mit einfachen Strukturen. Das Schlagwerk bekommt eine dominante, Streicher erhalten eine geminderte Bedeutung, Die Bläser treten solistisch auf. Elemente des Jazz werden integriert.
So treibend, dissonant, expressiv die Musik die Szene aufwühlt, so extrem sind auch die Anforderungen an das Sängerensemble, dessen Leistung nicht hoch genug einzuschätzen ist. Nicht selten bewegt sich Hindemiths Musiksprache im Cardillac mit ihren waghalsigen Tonsprüngen und ihrem Parlando-ähnlichen Gemurmel an der Grenze zum Nichtsingbaren. Fast ausnahmslos richten die Sänger eine Geste der Dankbarkeit in Richtung des Souffleur-Kastens. Es ist leicht zu ahnen, warum.
In der Titelpartie überzeugt Heiko Trinsinger auf ganzer Linie. Er spielt den von dämonischem Wahn gezeichneten Künstler mit existentieller Wucht, singt den Psychopathen, der einem höheren Gesetz dient, mit Geschmeidigkeit und Intelligenz. Betsy Horne gestaltet ihre Rolle, die phasenweise als Vater-Tochter-Konflikt erscheint, mit ihrem kraftvollen dramatischen Sopran, der ihr auch Feinheiten in der Beschreibung von Liebe und Sehnsucht erlaubt. Leider bedient sie sich gegen Schluss der Aufführung eines unnatürlichen Vibratos, das insbesondere im Quartett des dritten Akts störend wirkt. Astrik Khanamiryan gibt die Dame im Outfit einer Straßenprostituierten mit ihrem schneidenden Sopran realistische Züge. Unter den Tenören ragt Andreas Herrmann als Offizier heraus, die Stilisierung eines Typus, der von sich eingenommen ist.
Ein besonderes Augenmerk gilt dem Goldhändler, der als chassidischer Jude gefasst ist. Seine Kostümdarstellung orientiert sich an der Gruppe der Chassiden, die den Handel von Gold und Diamanten in Antwerpen prägen Die Figur ordnet sich in ein aktuelles Festival der Philharmonie Essen zur jüdischen Kultur und Musik ein. Näheres zur Figur des Goldhändlers gibt es in einem lesenswerten Text der Leiterin der Alten Synagoge Essen, der unter anderem auf der Aalto-Homepage zu finden ist. Magnus Piontek verkörpert den mit Kipa, Schläfenlocken und Kaftan kostümierten Goldhändler mit seinem warm tembrierten Bass.
Cardillac-Aufführungen gibt es noch bis weit in den Januar hinein. Genügend Gelegenheiten mithin, das Engagement des Aalto-Theaters für Hindemiths Werk zu honorieren.
Dr. Ralf Siepmann
Copyright Foto: Matthias Jung
14. Dezember 2025 | Drucken

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