Militärische und amouröse Eroberungen im Rom des sechsten Jahrhunderts

Xl_tamih25_k5_0128_tk © Copyright Foto: WDR/Thomas Kost

Il Totila Giovanni Legrenzi Besuch am 15. November 2025

Tage Alter Musik in Herne Kulturzentrum

Militärische und amouröse Eroberungen im Rom des sechsten Jahrhunderts

Die Tage Alter Musik in Herne haben sich seit ihrer Begründung 1976 aus einem Treffpunkt für Instrumentenbauer, Wissenschaftler und Interessenten der Musik, die vom hohen Mittelalter bis zum Spätbarock in Europa vorherrschend war, zu einem bedeutenden Festival mit internationalem Spektrum entwickelt. Für rund 200 Musikensembles war die Stadt im Ruhrgebiet eine willkommene Auftrittsszene. Seit 1980 fungiert der WDR als Veranstalter der Konzerte, die im Kulturradio WDR 3 live oder zeitversetzt gesendet werden. Er stellt auch die künstlerische Leitung, gegenwärtig und letztmalig mit Richard Lorber.

Das Festival findet jeweils im vorletzten Monat jeden Jahres statt, ohne freilich eine Art November-Blues zu kennen. Ganz im Gegenteil. Die 49. Ausgabe hat sich vorgenommen, unter der Devise Kulturelle Aneignung Machtverhältnissen, kultureller Identität und kolonialen Spuren in der Musikgeschichte nachzugehen. „Alte Musik“, betont Lorber, „ist immer auch ein Spiegel vergangener Machtverhältnisse.“ Indem das Festival Musik sprechen lasse, werde Raum für Reflexion geschaffen.

Die vier Musiktheaterproduktionen des aktuellen Herner Festivalprogramms in einem Atemzug mit den Themen Kolonialismus und kulturelle Aneignung zu rücken, ist vordergründig gewagt. Beschwört doch die Ambition eine Nähe zum postkolonialistischen, teils ideologischen Zeitgeist der Gegenwart herauf. Die Intention des Festivals weist jedoch in eine gänzlich andere Richtung. Kulturelle Aneignung wird als Triebfeder musikalischer Entwicklung begriffen. Folgerichtig sollen „produktive Möglichkeiten der Aneignung“ (Lorber) erkundet und aufgezeigt werden. Solche Effekte sind keineswegs auf die Alte Musik beschränkt. Zu denken ist exemplarisch an die Affinität Wolfgang Amadeus Mozarts zum Orientalischen (alla turca), von George Bizet zum fernöstlichen Milieu (Die Perlenfischer) oder Giacomo Puccini zur Kultur des kaiserlichen Japan (Madama Butterfly).

Wie heuristisch ergiebig die Intention sein kann, zeigte sich mit der konzertanten Wiedergabe der Oper Il Totila von Giovanni Legrenzi durch das Ensemble Nuovo Aspetto unter Leitung von Luca Quintavalle und ein famoses Sängerensemble, geadelt mit dem Etikett der modernenErstaufführung. Das Spektakel, 1677 zum Karneval in Venedig am Teatro San Giovanni Grisostomo herausgekommen, schildert den Konflikt zwischen Ostgoten und dem Römischen Reich im sechsten Jahrhundert. Das Libretto von Matteo Noris thematisiert die Konfrontation des Ostgoten-Königs Totila, dem 546 die Einnahme Roms gelingt, und seines Widersachers, des byzantinischen Generals Belisar, des Rückeroberer Roms ein Jahr später. Der Plot ermöglichte bei der Uraufführung Schlachtszenen, kenternde Schiffe, einen goldenen Elefanten, wilde Bären, lebende Pferde und 150 Trompeter auf der Bühne.

Die Sujets von Il Totila sind in der venezianischen Oper vorrangig Mittel zum Zweck. Die historischen Ereignisse und Figuren aus exotischen Kulturen quasi vor der Haustür des Fürstentums dienen lediglich als Requisiten spektakulärer Theaterszenen in zeitgenössischen Handlungen, gespickt mit Herrschersatire und Zeitkritik. Zudem werden sie mit allerlei amourösen Irrungen und Wirrungen unterfüttert. Getreu der Maxime des Librettos, jede menschliche Liebe sei der zum Vaterland überlegen. Die amouröse Verbindung zwischen Totila und der Römerin Marzia bringt denn auch am Ende den Friedensschluss.

Legrenzi (1626 – 1690) ist als Schüler von Claudio Monteverdi und Lehrer von Antonio Lotti, mutmaßlich auch von Antonio Caldara sowie des jungen Antonio Vivaldi in der Operngeschichte eine feste Größe. Er schrieb Instrumentalmusik und 19 Opern. Darunter war 1683 in Venedig Giustino, sein erfolgreichstes Werk. Der Stoff wurde auch von Vivaldi und Georg Friedrich Händel vertont. Legrenzis Kompositionsmethode in Il Totila zeichnet sich durch einen anmutigen Stil bei einer klugen Anordnung von Rezitativen und Arien aus. In Herne interessiert besonders, wie weit sich die seinerzeit vorherrschende Mode für die Übernahme fremder, insbesondere exotischer Formen geöffnet hat, für kulturelle Aneignung im Sinne des Festivalüberbaus.

So findet sich im ersten Satz die Verwendung der Sarabande, des aus Spanien stammenden Tanzes mit arabischen Einflüssen im Dreivierteltakt, der sich im Barock zu einem Standard in Suiten entwickelt. Das Vergnügen an instrumentaler Aneignung wird in der Besetzung von Nuovo Aspetto manifest. Für feine Klangeffekte sorgt ein Salterio aus der Familie der Zithern in Form eines Trapezes mit zahlreichen Saiten, die mit kleinen Schlägeln erzeugt werden, Dass sich gelegentlich Laute und Gitarre abwechseln, ist dann keine wirkliche Überraschung mehr, gleichwohl ein weiterer exotischer Effekt. Spektakulär ist die Position der Harfe im Zentrum der Orchesteraufstellung. Dem Dirigenten Quintavalle, zugleich Cembalist der Aufführung, und Nuovo Aspetto kommt die Neigung Legrenzis zur Erprobung ungewöhnlicher Besetzungen mehr als entgegen. Wechselspiele dieser Art zählen zur Corporate Identity des Ensembles, das mit Können und Spielfreude aufwartet.

In den tragenden Partien überzeugen die Mezzosopranistin Lucia Cirillo als Totila mit ihrer robusten Parforce, die den kriegerischen Charakter des Eroberers unterstreicht, die Sopranistin Roberta Invernizzi mit leidenschaftlichen Farben für die Gestaltung der umworbenen Marzia und der direkt präsente Tenor Luca Cervoni in der Partie des Belisario als Einspringer für den ursprünglich vorgesehenen Anicio Zorzi Giustiniani.Chiara Brunello ist mit ihrem Raum greifenden Alt ein temperamentvoller Publicola und würdiger Konsul Roms. Die Sopranistin Raffaella Milanesi besticht mit leidenschaftlichen Linien als Publicolas Gattin Clelia und Il Pace.

Der Bariton Olivier Bergeron meistert seine drei kleineren Rollen souverän. Einzig Luisa Tinoco fällt als Desbo, Diener des Konsuls, deutlich ab. Hörenswertes ist von den drei jüngeren Solisten zu vernehmen, vom Bass Valentin Ruckebier, von der Mezzosopranistin Verena Kronbichler und der Sopranistin Charlotte Langner.

Nach der Pause offenbaren sich im großen Saal des Kulturzentrums, der auch zu Beginn nicht voll besetzt ist, beträchtliche Lücken. Zurückzuführen dürften sie vor allem auf die enormen Längen des Stücks sein, die am Ende noch durch ein von Gottheiten ausgetragenes Turnier der vier Elemente gedehnt werden. Ein Bonus für das venezianische Publikum in der Zeit Legrenzis, aber praktisch ohne Wert für eine konzertante Aufführung dreieinhalb Jahrhunderte später. Für die Akteure auf der Bühne und den Veranstalter dürften diese jedoch angesichts des großen anhaltenden Beifalls, der Instrumentalisten und Sänger überschüttet, verschmerzbar sein.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright Foto: WDR/Thomas Kost

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