Menschen am Boden: Fresko einer gestrandeten Gesellschaft umjubelt

Xl_fli_4108-1-p_sandra_then © Copyright Foto: Sandra Then

Flight Jonathan Dove Besuch am 21. Januar 2024 Premiere

Theater Bonn Opernhaus

Menschen am Boden: Fresko einer gestrandeten Gesellschaft dank großer Ensembleleistung umjubelt

Zum dritten Mal präsentiert das Theater Bonn ein Werk des zeitgenössischen englischen Komponisten Jonathan Dove. Nach der Familienoper Pinocchios Abenteuer 2014 und der Uraufführung der Oper Marx in London 2018 nun also Flight. Ein auf dem Text der britischen Autorin April De Angelis beruhender Dreiakter. Ein Drittel Boulevard-Komödie, ein Drittel Reality-Soap, ein Drittel Fantasy. Die von Adriana Altaras besorgte Inszenierung darf sich gar mit dem Etikett der Deutschen Erstaufführung schmücken. Geht es nach dem begeisterten Publikum, könnte dieser Flug noch auf manchen deutschen Bühnen landen.

Das Auftragswerk Flight gehört nach seiner Uraufführung im September 1998 durch das Glyndebourne Festival zu den wenigen Opern im 21. Jahrhundert, die sich in den Spielplänen weltweit zu behaupten wissen. Das Ensemblestück knüpft an Alltagserfahrungen von vielen Menschen mit Flugreisen und Terminals an. Es greift zudem mit dem Schicksal des Flüchtlings Mehran Karimi Nasseri einen bekannten Fall auf, der betroffen macht. Und es verlässt nie mit seinem tonalen, immer bekömmlichen Musikstil, der gelegentlich die Sprache des Musicals touchiert, die Grenzen eines Terrains, auf dem sich ein auf Unterhaltung erpichtes Publikum wohlfühlt.

Vor und nach der Jahrhundertwende geht die Geschichte Nasseris durch die Weltpresse. Der seiner Heimat Iran verwiesene Flüchtling strandet ohne Papiere im August 1988 auf dem Flughafen Charles de Gaulle in Paris und verbleibt dort 18 Jahre. Dove und seine Librettistin betten das Schicksal Nasseris, des Refugees, in eine Geschichte von Gestrandeten auf einem Flughafen ohne Namen ein. Infolge eines Unwetters fallen Flüge aus und die Lebensplanungen der geschlossenen Gesellschaft in sich zusammen, sei es bis zur Wiederaufnahme der Flüge, sei es für immer. Auf einige wirkt der Geflüchtete wie ein Katalysator, wodurch diese neue Erkenntnisse erlangen. Anderen bleibt er gleichgültig.

Im Kern wird das Flight-Personal von vier weißen Paaren gebildet, die jeweils zu etwas aufbrechen, was ihnen neue Erfahrungen bringen oder alte schöne Erinnerungen zurückbringen soll. Zu erleben sind Bill und Tina, verheiratet und in der Sackgasse ihrer Beziehung so gefangen, dass sie ihr Leben nach einem Ratgeberbuch ausrichten. Ferner ein Diplomat und seine Gattin, hier Minskmann und Minskfrau genannt, weil der Diplomat auf dem Weg zu einer neuen Verwendung in die Hauptstadt von Belarus reisen will, wohin ihm seine hochschwangere Frau nicht folgen mag.

Dazu eine Frau von Anfang 50, die auf ihren sehr viel jüngeren Verlobten wartet, was sich aber als Illusion erweist. Fluglinie und Flughafen werden von einer Controllerin alias Fluglotsin und einer Flugbegleiterin sowie einem Flugbegleiter repräsentiert, die sich als sexbesessenes Pärchen durch die Kulissen knutschen, weil sie den Kitzel der Öffentlichkeit brauchen. Eine Schlüsselrolle fällt dem Beamten der Einwanderungsbehörde zu. Er drückt am Ende ein Auge zu und erlaubt dem Flüchtling die Fortsetzung seines Aufenthalts auf dem Flughafen.

Frei nach Vicki Baums Roman Menschen im Hotel könnte das Episodenstück auch unter dem Titel Menschen am Boden laufen, räumlich wie emotional. Plötzlich und unerwartet in eine Grenzsituation katapultiert, verfallen die Gestrandeten in planlosen Aktionismus und eskapistische Abenteuer. Als wäre die dünne Schicht der westlichen Zivilisation bereits eingerissen, folgen sie den Augenblicksimpulsen ihrer Triebstruktur, insbesondere der Aussicht auf erotische Ablenkung. Der Gipfel dieser Eskapaden ist der nächtliche Spontansex Bills mit dem Flugbegleiter, der deutlich ausgespielt wird.

Die Regisseurin, in Bonn insbesondere seit ihrer Inszenierung der Oper Li-Tai-Pe von Clemens von Franckenstein innerhalb des Projekts Fokus `33 bekannt, zieht Doves Stück als Kammerspiel der großen Fluchten und kleinen Tragödien auf, in dem es in jedem Augenblick zu einer Katastrophe kommen kann. Dafür haben Christoph Schubiger (Bühne), Nina Lelipina (Kostüme) und Rasmus Rienäcker (Video) ein realistisches Terminal kreiert. Es erlaubt den Blick auf die Flugsteige und in einer Traumszene auf eine Startbahn, von der aus eine Maschine mit robustem Lärm abhebt.

In dieser Kunstwelt vom Ankommen und Abreisen laufen die einzelnen Handlungsstränge wie ein Kinofilm ab, der Realität und Fiktion nach dramaturgischen Gesichtspunkten mischt. Banales, wenn Bill aus der Ratgeberfibel zitiert, und Elementares, wenn die Hochschwangere in der Simulation einer Geburt ihr Baby zur Welt bringt, verbinden sich zu einem Fresko von Liebe und Tod, Gemeinsamkeit und Trennung, Flirt und Sex. Ironische bis satirische Überhöhungen inklusive.

Altaras lässt zur Huldigung der Geburt die heiligen drei Könige einziehen, mehr eine Karikatur als ernsthafte Adaption. Als der Flüchtling von seinem Bruder erzählt, auf den er wartet, ohne von seinem Tod zu wissen, schwebt hinter der Glaswand des Wartesaals ein Kosmonaut im Video vorbei, was für Sekunden Metaphysisches andeutet. An die vermeintliche Kraft des magischen Steins, mit dem der Flüchtling die Reisenden zu gewinnen sucht, glaubt im Publikum allerdings schon lange keiner mehr, als immer noch einige Passagiere sich von ihm Trost und die Erfüllung ihrer Wünsche erhoffen.

Bei den Sängerdarstellern folgt Dove einer bemerkenswerten Korrelation von Rolle und Stimme. Die Figur des Refugees ist mit einem Countertenor besetzt, um die Fremdartigkeit dieses Charakters zu betonen. Benno Schachtner gibt ihm mit schlanker höhensicherer Intonation eine zutiefst menschliche Kontur. Seine Schilderung des Todes seines Zwillingsbruders, der „wie ein gefrorener Stern, der fällt“ auf der Flucht aus einem Flugzeug stürzt, zählt zu den großen Momenten diese Aufführung.

Die Partie der Controllerin, die auf einem Podest über allen schwebt, ist mit der höchsten Stimme ausgestattet. Die Koloratursopranistin Sophia Theodorides erfüllt die Vorgabe Doves bis zum hohen F mit Vehemenz und klangschöner Souveränität. Die tiefste Stimme ist dem Immigration Officer zugeordnet. Christopher Jähnig schenkt der Rolle mit sonorem Bass Profil. Als Liebespaar Tina und Bill sind Ava Gesell und Samuel Levine eine gerade in ihren Streitigkeiten überzeugende Besetzung. Tina Josephine Jäger als Stewardess und Carl Rumstadt als Steward machen aus ihren Obsessionen das Beste. Susanne Blattert mimt die ältere Singlefrau mit kapriziöser Leichtigkeit. Mark Morouse ist ein Respekt erheischender Minskmann, der im Finale Sympathie gewinnt, nachdem er sich endlich zu seiner Frau bekannt hat.

Als Minskfrau ist Sarah Mehnert mit ihrem in die Schwärze tendierenden Mezzo von betörender Eindringlichkeit. Im Spiel, in Sonderheit in der Geburtsszene, dringt sie bis an die Grenze des Darstellbaren vor. Zusammen mit Schachtner hebt sie die Aufführung phasenweise über das vorherrschend Boulevardeske hoch hinaus. Daniel Johannes Mayr am Pult des Beethoven Orchesters Bonn führt das Orchester sicher durch die Partitur.

Doves Spirit hat sowohl die Künstler im Graben wie die auf der Bühne vollauf angesteckt. Die Leistung aller Beteiligten honoriert das Publikum mit anhaltendem Beifall, durchsetzt von Jubelrufen. Darunter sind auffallend viele junge Leute, die auf das Spektakel nicht minder fröhlich reagieren. Ein Fingerzeig für Dramaturgen und Intendanten?

Dr. Ralf Siepmann

Copyright Foto: Sandra Then

 

| Drucken

Mehr

Kommentare

Loading