Maximaler Aufwand an Klang und Technik täuscht nicht über Redundanz des Thinkspiels hinweg

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Die letzten Tage der Menschheit Philipp Manoury Besuch am 29. Juni 2025 Premiere am 27. Juni 2025

Oper Köln Staatenhaus Deutz

Maximaler Aufwand an Klang und Technik täuscht nicht über Redundanz des Thinkspiels hinweg

Bei zahlreichen Produktionen der letzten zehn Jahre gilt das Übergangsquartier der Oper Köln, das Staatenhaus im Stadtteil Deutz, als Handicap. Insbesondere wegen des fehlenden Orchestergrabens und der Drehbühne sowie wegen der eingeschränkten Möglichkeiten für Ausstattung und Bühnentechnik. Nun aber, für die Inszenierung von Philippe Manourys Megakomposition Die letzten Tage der Menschheit nach dem Jahrhundertdrama von Karl Kraus, erweist sich der riesige Raum mit seinen Super-Dimensionen in Breite und Höhe quasi als ideale Spielstätte. Handelte es sich nicht um das Epos schlechthin zu den Grausamkeiten und Absurditäten des Krieges, könnte von einem zirzensischen Spektakel im Breitwandformat gesprochen werden. So aber erzeugt ein maximaler Aufwand an Deklamation und Hochfrequenz-Gesang, Musiktheater und Pantomime, maschinellen und visuellen Effekte, sinfonischen und elektronischen Klangbildern am Ende Begeisterung angesichts des Gesehenen, aber Ratlosigkeit auf Grund der Botschaft.

Kraus, der österreichische Schriftsteller und Satiriker, Herausgeber der Zeitschrift Die Fackel, die mehr als 30 Jahre als Tribüne seiner Sprachkritiken dient, veröffentlicht 1922 als Buch, zuvor in Auszügen in der Fackel, sein zentrales Werk. Sein Drama in fünf Akten und einem Epilog schildert in 220 Szenen unter Verarbeitung von Zitaten aus Zeitungen, Politikerreden, Gerichtsakten und alltäglichen Gesprächen die Schrecken des Krieges, seine fatalen Begleitumstände vom Zynismus der Politik, von der Kriegsbegeisterung der Presse, der Verrohung des Bürgertums und vom Leiden der Soldaten.

Manoury, den französischen Komponisten und Spezialisten der Elektronischen Musik, reizt das Jahrhundertthema, auch unter der von Kraus betonten Maxime, in der Perversion der Sprache Vorboten des Zusammenbruchs der Menschheit zu sehen. Dies nicht zuletzt auch heute ein virulenter Ansatz. Zusammen mit dem Librettisten Patrick Hahn und dem Regisseur Nicolas Stemann entwickelt er ein Thinkspiel. Es soll das destruktive Zusammenspiel von Propaganda, Medien, Religion, Erziehung und unternehmerischer Profitgier offenlegen. Musikalische Basis des Auftragswerks der Oper Köln und Kern von Manourys Klanglaboratoriums ist das Gürzenich-Orchester, für das der Komponist in den vergangenen Jahren eine Trilogie geschaffen hat.

Das Thinkspiel reiht vom Attentat in Sarajewo, dem Staatsbegräbnis für den Thronfolger, über den Kriegsbeginn und Szenen von der Front alltägliche Straßenbegebenheiten und Kriegsberichte wie Perlen an einer Schnur aneinander. Nur dass diese Perlen in den Bildern, die Stemann diesen Szenen zuordnet, in erschreckender Weise deutlich machen, welche Wunden der Krieg und seine Glorifizierung in den Seelen der Menschen reißt, ob auf dem Schlachtfeld oder in der kleinbürgerlichen Welt daheim. Wenn nicht Krieg wär, möchte man glauben, es ist Friede, singen „Patriotische Mädchen“ zur Glorifizierung des Waffengangs. Solche Parolen kontrastieren mit Panzerattrappen, Batterien von Raketenhülsen, Schwerstverwundeten, Toten, Stapeln von Särgen und Zerrbildern von Militärs, die Stemann in dunkelgrünes Licht oder grauen Nebel taucht, wie er sich nach Bombeneinschlägen bildet. Die passenden Kostüme von Tina Kloempken erzeugen eine Atmosphäre des Authentischen.

Zur Groteske wird die Szene, wenn „Frau Kommerzienrat Auguste Wahnschaffe“, die die Frauen um den „Heldentod“ ihrer Männer beneidet, die Kinder Mariechen und Willichen auffordert, Krieg zu spielen: „Papa hat gesagt, ihr dürft Weltkrieg spielen, aber die Grenzen der Humanität müsst ihr einhalten.“ Wenn die Kriegsreporterin Alice Schalek Soldaten noch im Sterben interviewt: „Also, was empfinden Sie jetzt, Sie müssen sich doch etwas dabei denken.“ Wenn der Feldgeistliche nach dem Segnen der Geschütze die christliche Nächstenliebe ignoriert und davon träumt, selbst die Kanone abzufeuern.

In dieses Absurdistan bringt Angelus Novus, dessen Auftritt wie alle weiteren vom Englisch Horn begleitet wird, einen Moment des Verharrens ein, der aber unmittelbar danach von den Meldungen der Zeitungsausrufer von der Front in Galizien abgelöst wird. Anne Sofie von Otter, die schwedische Mezzosopranistin mit dem breiten Spektrum von den großen Mozart-Rollen bis zu zeitgenössischen Werken, gibt diesem „Engel der Geschichte“ in einem langen weißen Kleid einen dialektischen Kontrapunkt. Sie sei hier stellvertretend für die enorme Zahl der außerordentlich engagierten Gesangsdarsteller genannt, die die größtenteils extrem fordernden Partien an der Grenze der Tonalität und darüber hinaus mit Bravour absolvieren. Ebenso wie die Mitglieder des Chors der Oper Köln, die, einstudiert von Rustam Samedov, durch häufige Kostüm- und Positionswechsel und wechselnde spielerische Einsätze ihr Bestes geben.

Zum Wiener Kolorit tragen insbesondere Patrycia Ziolkowska und Sebastian Blomberg bei, die in einer Vielzahl von Sprechrollen die Ereignisse wie Reporter kommentieren und der Tragödie komödiantische bis sarkastische Züge verleihen. Sie treten als Nörgler, Optimisten, Trauergäste, Reporter und in weiteren Partien in Erscheinung. Dies so gekonnt, dass ihnen der besondere Schlussbeifall des Hauses gewiss ist.

Eine Ausweitung der ohnehin schon eindrucksvollen Bühne, die Katrin Nottrodt ersonnen hat, erfährt die Spielfläche durch das wirksame Lichtdesign von Elana Siberski. Verblüffend, mitunter berauschend funktioniert die Mediale Inszenierung von Claudia Lehmann und Konrad Hempel vom Institut für Experimentelle Angelegenheiten. Zeitgleich sind Videobilder zu erleben, die eingespielt werden, und solche, die in der Interaktion mit Darstellern gerade entstehen. Dutzende von Namen weist das Verzeichnis der Akteure in den verschiedenen Sektoren von Technik, Design, Beleuchtung und Ton auf, was den besonderen Aufwand der Koproduktion mit IRCAM Centre Pompidou unterstreicht.

Der sinfonische Orchesterapparat, eingeschlossen Klavier, Akkordeon und Keyboards, ist auf der gesamten Bühne in drei Aktionszentren positioniert. In den Zwischenräumen wird allerlei Gestänge aufgefahren, mit dem Darsteller herein und heraus gerollt werden. Ergänzt wird er um weitere Orchester mit mächtigem Blech im Rücken des Publikums sowie um die Elektronik. Der Chor betritt in einigen Phasen die Bühne von den oberen Parketträngen aus. Peter Rundel, der musikalische „Oberbefehlshaber“ über das „Heer“ an Musikern und Sängern, gelingt es souverän, die vielfältigen Formationen zusammen zu halten. So entsteht ein elektronisch akzentuiertes Klangbild, das in seinen innerlichen Farben emotional packt, aber in seinen bombastischen Erscheinungen stresst.

Rundel, viele Jahre Violonist im Ensemble Modern und Gründer der Remix Academy zur Förderung junger Musiker und Dirigenten, gelingt es nicht, die Extrempole der Partitur besser auszubalancieren und die Lautstärke den Raumverhältnissen intimer anzupassen. Von den beiden Harfen in der Streichergruppe links vom Hauptpodest beispielsweise ist in den mittleren Reihen des Parketts nichts zu vernehmen Etliche Besucher werden beobachtet, die sich immer wieder die Ohren zuhalten.

Manourys Letzte Tage der Menschheit geht nach knapp zwei Stunden und einer Pause in einen zweiten Teil über. Jetzt gestalten Allegorien und tierische Gestalten wie Raben und Hyänen hinzu komplementäre Texte, die freilich nicht viel mehr sind als ein déjà vue. Ist die Musik im ersten Teil ein vielgestaltiger Fluss mit Anleihen aus Klassik, Romantik und selbst der Operette, nähert sie sich nun der Form des Oratoriums an. Eine weitere Stunde Thinkspiel rechtfertigt dies freilich nicht. Immerhin ist noch einmal von Otter als Angelus Novus zu erleben. Etwas überspitzt lässt sich einwenden, dass Librettist und Komponist womöglich ihrem eigenen Werk zutrauen, die elementare Botschaft von der Option einer friedlichen Lebenswelt ohne Krieg gültig zu vermitteln.

Vielleicht aber steckt in dieser Redundanz der Schlüssel zu einer neuen geistigen und ästhetischen Herangehensweise an die Beziehung von Krieg und Frieden. Kann und muss nicht heute, ein Jahrhundert nach Karl Kraus und einer langen Reihe von Antikriegs-Stücken in Theater und Oper, zuletzt Gija Kantschelis Musik für die Lebenden in Bonn, neu gedacht werden, warum Menschen Frieden wollen, aber Kriege führen? Einen exemplarischen Ansatz hierzu haben in ihrer Studie Die Evolution der Gewalt ein Biologe, ein Ärchäologe und ein Historiker im vergangenen Jahr vorgelegt und aufgezeigt, warum der Krieg nicht das Schicksal der Menschen sein muss.

Die kurze Stille im Staatenhaus nach dem irritierenden Finale, in dem die „Ungeborenen Kinder“ darum bitten, nicht in die Welt der Kriege geboren zu werden, geht alsbald in einen anhaltenden Beifall, auch Jubel der Meisten im Saal über. In die gefeierten Mitwirkenden reiht sich sichtlich gerührt auch der Komponist ein. Großer Aufwand, ein noch größeres Anliegen und das kumulierte Potential von Kunst und Technik. Nicht wenig für ein Spiel auf der Bühne, das Denken auslösen will. Und doch nur eine Momentaufnahme im Musikbetrieb sein kann.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright Foto: Sandra Then

 

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