Martyrium der Verelendung einer liebeshungrigen jungen Frau als Filmfresko

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Manon Lescaut Giacomo Puccini Besuch am 28. September 2025 Premiere

Oper Köln Staatenhaus Deutz

Martyrium der Verelendung einer liebeshungrigen jungen Frau als Filmfresko

Im Januar 1884 kommt in der Pariser Opéra-Comique die Oper Manon von Jules Massenet nach dem Roman Die Geschichte des Chevalier Des Grieux und der Manon Lescaut von Abbé Prévost heraus. Massenet ist gegen Ende des Jahrhunderts mit seinem der lyrischen Tradition verpflichteten Stil der führende Opernkomponist Frankreichs und gefragt in ganz Europa. Gegen vielerlei Einwände – auch des Verlegers Giulio Ricordi – vertont ein knappes Jahrzehnt später Giacomo Puccini unter Mithilfe von gleich sieben Librettisten ebenfalls den rührseligen Stoff Prévosts, wohl auch aus dem Kalkül, dass Massenets Manon bis dahin kaum auf italienischen Bühnen aufgeführt wird.

Puccini, der Vollblutdramatiker, lässt sich nicht beirren, nimmt die Konkurrenz an und erreicht mit seiner dritten Oper, die im Februar 1893 am Teatro Regio in Turin uraufgeführt wird, seinen ersten bahnbrechenden Erfolg. „Massenet fasst Manon auf wie ein Franzose mit Puder und Menuetten“, erklärt Puccini das, was ihn von seinem Rivalen unterscheidet. „Ich werde es so auffassen wie ein Italiener: mit verzweifelter Passion.“ Die Tiefgründigkeit dieses Martyriums, das zwei junge Menschen erleiden, die jenseits der gesellschaftlichen Konventionen leben wollen, ist jetzt mit der Neuinszenierung an der Oper Köln zu erleben. Carlos Wagner inszeniert es als ein Fresko menschlicher, primär chauvinistischer Phantasien und Niederungen.

Wagners Inszenierung, die zuvor an Madrids Teatro Real gezeigt worden ist, spürt in der Ausgestaltung der Bühne den Elementen des Films nach, die in den vier höchst unterschiedlichen Schauplätzen des Werks bereits angelegt sind und Puccini spätestens mit La fanciulla del West 1910 in die Nähe Hollywoods bringen. Sein Stil, das kinoreife Melodrama eines jungen Mädchens – bei Prévost ist Manon 15 –, das ihren Lebenssinn in der Liebe sucht und am Machismo der Männer zerbricht, in einer kühlen Bildsprache zu inszenieren, zeigt den aus Venezuela stammenden Regisseur in Korrespondenz zu Filmgrößen wie Fellini, Resnais, Visconti.

Frank Philipp Schlößmanns Bühne, unterstützt von der klugen Lichtregie Nicol Hungsbergs, bringt die Vergeblichkeit eines Lebens im einfachen, aber wirkungsvollen Bild des Kreises auf den Begriff. Ein von Zirkuslichtern geflutetes Karussell fungiert in den ersten beiden Akten als durchgängiges Element der Ausstattung. Als Ort von kindlicher Seligkeit, als Glücksrad, als Metapher einer sinnlosen Flucht, da ein Karussell sich zwar bewegt, ohne jedoch irgendwo hinzuführen. Auf einem Karussellpferd reitet Manon Lescaut in das Geschehen ein. In der Rotation des Karussells stößt sie ihr überraschtes Tu qui?! aus, woraus sich ihr von Angst und Fluchtgedanken gezeichnetes impulsives Duett Manon te solo brama mit Des Grieux entwickelt.

In den zwei weiteren Akten wandelt sich das Rund des Karussells einmal zu den Gitterstäben eines Gefängnisses am Hafen von Le Havre, in dem Manon mit einigen Prostituierten aus Paris festgehalten wird, bis das Schiff mit den Verbannten nach Amerika ablegt. Zum anderen im vierten Akt zu einer in die Wüstenerde eingelassenen Scheibe, einem Erdloch, in dem die Liebenden einen elenden Tod sterben.

In der Zeichnung der Figuren nimmt Wagner Prévost ernst, ernster als manchen Besuchern im fast ausverkauften Staatenhaus lieb gewesen sein mag. In seiner Sicht ist Manon lediglich im Amiens-Akt das betörende Mädchen im weißen Kleid, in das sich der verkrachte Student Renato Des Grieux unsterblich verliebt. Mit dem er die Flucht plant, um ihr das Kloster zu ersparen, das ihr Bruder, der Sergant Lescaut, nach dem Willen des Vaters für sie bestimmt hat. Das der reiche Steuerpächter Geronte entführen will, der anderen Plänen folgt.

Im goldenen Käfig, dem Pariser Palais Gerontes, wird die Denaturierung der jungen Frau zur Maitresse des Machos in der repressiven Männergesellschaft zur Zeit des Rokoko plakativ vorgeführt. In den typgerechten Kostümen Jon Morrells agiert sie als femme fatale. Mal als Kopie einer Tänzerin mit Zylinder aus den Folies Bergère, von der laszive Posen bis zum pole dance erwartet werden, die sie liefert. Mal als Sado-Maso-Aktrice mit Reitgerte und schwarzem Lederoutfit – eine Folie, bei der sich nicht zuletzt die andere, die gewalttätige Seite des Des Grieux offenbart. Ein Absturz, den auch die scheiternde Flucht nicht verhindern kann, letztlich nur eine Zwischenstation bis zur tödlichen Grausamkeit der Wüste.

Überragt, getragen, gekrönt wird die Passion der Demütigung von Carolina López Moreno, die mit einer phantastischen spielerischen und sängerischen Performance ihr Rollendebüt gibt und die Figur der lebenshungrigen Frau, der das Leben entgleitet, vor platter Entwürdigung bewahrt. Eine frühe Wesensverwandte von Mimi, Cio-Cio-San und Liu. Ihr in der Höhe anstrengungslos erscheinender sowohl lyrisch wie hochdramatisch famoser Sopran zeichnet jede Facette der Manon. Kokett in Dispettosetto questo riccio! zu Beginn des zweiten Akts, flehend in Oh, sarò la piu bella, als sie die Veränderung in Des Grieux wahrnimmt, ergreifend in Sola, perduta, abbandonata, in der sie ihre Verlorenheit vor dem Tod beschreibt. Mit López Moreno erfährt die Aufführungsgeschichte der Puccini-Manon eine Interpretation der Titelgestalt, der die erotische wie menschliche Ausstrahlung einer Vision von Weiblichkeit zu eigen ist, die keineswegs auf frühere Jahrhunderte beschränkt sein muss.

Über sie insbesondere wie auch alle weiteren beteiligten Künstler einschließlich des Regieteams bricht nach dem trostlosen Schlussbild in der Wüste der Jubel des Publikums herein, der wie eine Befreiung aus der emotionalen Anspannung zuvor wirkt. Die Oper Köln hat mit López Moreno eine Attraktion gewonnen, von der auch künftig zu reden sein wird.

In der Ausstrahlung blieb Gaston Rivero als Des Grieux leider hinter der Manons zurück, was weniger am stürmisch-vehementen Spiel liegt, mit dem er die Figur anlegt. Vielmehr an dem einem überzogenen Vibrato vertrauenden Fundament seines Tenors, was angesichts des Potentials dieser Stimme ein Stück verwunderlich ist. Es gelangt in seine Liebesbeteuerung Donna non vidi mai vokalselig strömend vor Glück im ersten, sich todesnah verzehrend mit Tutta su mi ti posa im vierten Akt eindrucksvoll zur Geltung.

Der Bariton Insik Choi zählt in der Rolle des Lescaut zu den vokalen Pluspunkten der Aufführung. Sein Singen ist hörbar besser als sein Charakter als Bruder Manons. Cristian Saitta gibt dem Geronte die treffende böswillige Note, auch wenn sein Part nicht gerade Sympathien generiert. Weitere Rollen sind mit Vasyl Solodkyy als Edmondo, Michael Terada, der den Wirt und Einen Sergeanten gibt, dem Tanzlehrer Wesley Harrison und Adriana Bastidas-Gamboa als Ein Musiker stimmig besetzt. Der Chor der Oper Köln unter Leitung Rustam Samedovs überzeugt. Sein Repertoire von studentischer Unbekümmertheit über das steife Madrigal bis hin zur Eleganz im Menuett ist, sei es als Tutti, sei es in Gruppen von Chorsängerinnen und Chorsängern, durchaus anspruchsvoll.

Seit seinen frühen Opern Le Villi undEdgar hat Puccini mit dem Soupcon zu ringen, er sei im Grunde „nur“ ein Sinfoniker und kein Opernkomponist. Wer hingegen mit dem Puccini-Biographen Edward Greenfield der Ansicht ist, der Komponist habe mit seinem dritten Werk für das Musiktheater zu einer streng konzipierten Opernsprache und so zu einer eigenen, eigenständigen Ausdrucksform unabhängig von Wagner und Verdi gefunden, kann sich unter dem Eindruck der Kölner Aufführung bestätigt fühlen.

In seiner ersten Opernproduktion als Kölns GMD gelingt Andrés Orozco-Estrada mit dem Gürzenich-Orchester Köln ein großartiger Einstand. Auch da er mit den problematischen akustischen und räumlichen Bedingungen im Staatenhaus, das keinen Graben für das Orchester aufweist, sehr gut zurechtkommt. Puccinis Kunst, die musikalischen Instanzen von Sängern und Orchester zu verschmelzen, hat in Orozco-Estrada einen kompetenten Sachwalter gefunden. Der freundliche Beifall des Publikums, der schon vor dem ersten Takt ihm gilt, steigert sich gleichsam in Etappen. Über Jubel vor dem sinfonischen Intermezzo im Übergang zum dritten Akt noch einmal im ausgedehnten Schlussbeifall.

Ein insgesamt prächtig gelungener Auftakt in die neue Spielzeit, der Erwartungen weckt.

Dr. Ralf Siepmann

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