La Juive - Fluch des religiösen Fanatismus: „Weltwunder“ der Grand Opéra visuell im Miniaturformat

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Theater Dortmund

Fromental Halévy La Juive Besuch am 17. November 2022 Premiere am 6. November 2022

Fluch des religiösen Fanatismus: „Weltwunder“ der Grand Opéra visuell im Miniaturformat

La Juive des jüdischen Komponisten Fromental Halévy ist die einzige seiner 36 Opern, die dem Sohn des Kantors der jüdischen Gemeinde von Paris schon zu Lebzeiten Ruhm einbringt. Das auf Spektakel im Genre Grand Opéra versessene Publikum spricht nach dem Spektakel der Uraufführung mit 20 dressierten Pferden auf der Bühne von einem „achten Weltwunder“. Der von der Musik begeisterte Richard Wagner würdigt Halévy als einen „wahrhaft dramatischen Komponisten“. In seinem Werk entfalte sich „der volle Zauber der Romantik“.

In Deutschland ist dieser „Zauber“ mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten jäh verflogen. 1933 wird das Werk verboten und aus seiner sicheren Position im Repertoire von Musiktheatern verstoßen. La Juive teilt die Rezeptionsgeschichte von zahlreichen Opern jüdischer Künstler, die das Theater Bonn in seinem Programm Fokus ´33 aufarbeitet. Erst 1988 erlöst John Dew in Bielefeld den Fünfakter aus dem Vergessen. In der Folgezeit bringt eine Reihe von Bühnen Die Jüdin – so der Titel im deutschsprachigen Kontext – heraus, zuletzt 2014 München.

Halévys Librettist, der jüdische Erfolgsautor Eugène Scribe, thematisiert gesellschaftliche Verhältnisse zur Zeit des Konzils 1414 in Konstanz aus einer kritischen Sicht gegenüber der Institution der Kirche. Auf eine Verbindung von Christen und Juden steht den Normen der Staatskirche zufolge die Todesstrafe. Eine Direktive, die zum Verständnis der Handlung essentiell ist. Sie nimmt am Tage der Konzilseröffnung ihren Lauf. Der Goldschmid Éléazar stört durch sein Handwerk im Verständnis der Christen die Ruhe des Feiertags und soll als Ketzer zur Rechenschaft gezogen werden. Ruggiero, der Stadtvogt, fordert in einem kurzen Prozess für ihn und Rachel, die als seine Tochter gilt, den Tod.

Rachel ist in einen Mann verliebt, der vorgibt, Jude zu sein. Tatsächlich ist er der christliche Reichsfürst Léopold, obendrein mit der Prinzessin Eudoxie, Nichte des römisch-deutschen Kaisers Sigismund, verheiratet. Voller Eifersucht denunziert Rachel ihren Geliebten als Verführer. Ein von Kardinal de Brogni angeführtes Tribunal verurteilt das Liebespaar und Éléazar zum Tode. Durch die Bitte von Eudoxie lässt Rachel sich zur Zurücknahme ihrer Anschuldigung gegen Léopold überreden, der daraufhin begnadet wird. Rachel könnte zum Christentum konvertieren, entscheidet sich aber für den gemeinsamen Tod mit Éléazar. Dieser offenbart im Augenblick ihrer Hinrichtung dem Kardinal, zuvor im Amt eines Magistrats, Rachels wahre Identität.

Sie sei dessen verloren geglaubte Tochter, die Éléazar seinerzeit unbemerkt aus einem Feuer gerettet habe. Éléazar geht frohlockend in den Tod, de Brogni bricht zusammen. Ein Finale, das an das Schicksal des Grafen Luna in Giuseppe Verdis Oper Il Trovatore erinnert, die knapp zwei Jahrzehnte später uraufgeführt wird.

Halévys und Scribes Wahl der christlich-jüdischen Thematik ist vorrangig aus den Verhältnissen zur Zeit der Entstehung der Oper zu begreifen. 1835 ist der Einfluss der Religionen auf den Staat in der Folge der Juli-Revolution von 1830 zurückgedrängt, die Diskriminierung von Juden offiziell durch Gleichstellung der Religionen aufgehoben worden. Ein in Noten gefasster Protest gegen die Unterdrückung, die das Land gerade hinter sich lässt, ist so von vornherein willkommen.

2022 muss die Konstellation des Librettos nicht zwingend interessieren. Um den Gräuel des religiös begründeten oder getarnten Fanatismus zu verstehen, hat es allein seit September 2001 genügend schreckliche Beispiele gegeben. Also sollte ein Besuch von La Juive primär der Musik wegen erfolgen? Was naheliegend erscheint, stimmt im Dortmunder Fall des Theaters freilich nicht. Der aus politischen Gründen erfolgte Wechsel des Regisseurs zwei Wochen vor der Premiere lenkt die Aufmerksamkeit automatisch auf die Inszenierung.

Das Textbuch Scribes enthält Hassaufrufe und Szenen eines Pogroms gegen Juden. Au bûcher, au bûcher les Juifs, deklamiert der Chor alias Das Volk. Grausame Ausschreitungen gegen die von der kirchlichen Obrigkeit zu Sündenböcken gestempelten Juden gibt es seit Jahrhunderten. Zur Zeit des Konzils wie danach.

Wie allerdings der ursprünglich verpflichtete Regisseur Lorenzo Fioroni diese Szenen zur Darstellung bringen wollte, hat – im Sog der Documenta-Debatte um Antisemitismus in Kassel – einen Konflikt mit der Theaterleitung und am Ende seine Entlassung ausgelöst. Die Umstände sind mangels ausreichender Transparenz bis heute nicht umfänglich nachvollziehbar. Jedenfalls soll Fioronis geplante Umsetzung -auch für das Verständnis Kundiger aus christlich-jüdischen Organisationen - eine Linie überschritten haben, die mit Grundwerten des Dortmunder Theaters nicht vereinbar sei. Ob dies in der Öffentlichkeit auch so empfunden worden wäre oder ob nicht vielmehr die Sorge vor Angriffen auf das Theater von außen die Entscheidung wesentlich beeinflusst hat, bleibt offen.

In der Konsequenz ist jetzt im Haus mit der hochgewölbten Betonschale über dem Zuschauersaal eine Inszenierung von Sybrand van der Werf zu erleben, die nicht als Guss aus einer Hand zu bewerten ist. Die Ausstattung, die der Niederländer zusammen mit der Bühnenbildnerin Martina Segna verantwortet, reduziert das Erscheinungsbild insbesondere in den ersten drei Akten auf ein Minimum. Zu sehen ist ein dunkel gehaltener einfacher Bühnenraum mit Vorhängen an den Seiten. Schlichte Stuhlreihen bieten Platz für das Publikum, das die Verurteilung der Angeklagten verfolgt.

Erst mit dem vierten Akt stellen sich Schauwerte ein. An erster Stelle eine steile Treppe auf blutrotem Hintergrund, die in einen Kerker führt, an dessen Wand Rachel lange Zeit lehnt. Am Ende wird sie, das Opfer des fundamentalistischen Starrsinns zweier Männer, gekreuzigt im Bühnenhintergrund gezeigt, hell ausgeleuchtet. Ein Schockbild nach all der Feindschaft und der Verweigerung von menschlichen Reaktionen zuvor!

Die nach Entwürfen von Annette Braun entstandenen Kostüme transportieren das Geschehen in eine Überzeitlichkeit, also auch in unsere Tage. Dies gilt speziell für Rachel in Hosen und Regenmantel, später in einem merkwürdig-bauchigen Gewand, verwandt einem Federkleid. Ansonsten sind die Juden in schwarze Anzüge gehüllt. Einige tragen eine Kippa. Wie ein Kontrapunkt wirken der Kardinal in seiner roten Robe und die elegante Erscheinung der Prinzessin in einem prunkvollen Abendkleid samt goldener Schuhe.

Ein kurioser, ambivalenter Einfall des Videodesigners Alexander Hügel ist im Rahmen eines Festes der Christen die Video-Einspielung einer Stummfilmsequenz unter dem Rubrum „Die Heimkehr der Helden“. Ambivalent, weil es in dieser Geschichte keine „Helden“ gibt, sondern unerbittliche Starrköpfe, die würdelos scheitern und Unschuldige wie die empathische Rachel in den Tod treiben.

Halévys Komposition zeichnet sich durch die Verwendung der vielfältigen stilistischen Elemente aus, die die Grand Opéra zur dominanten Gattung der französischen Oper um 1830 werden lässt. La Juive steht zwischen den Hauptwerken Les Huguenots und Le Prophète Giacomo Meyerbeers, des Exponenten des Genres. Optischer Prunk, Theatereffekte, Massenszenen, melodische Ideen, prätentiöse Vokalpartien und – last not least – Balletteinlagen finden sich auch in der Partitur Halévys. Prunk und Pomp sind zwar diesmal Fehlanzeige. Doch die Ballettmusik darf sein. Die glänzend aufgelegten Dortmunder Philharmoniker spielen sie unter der Leitung Philipp Armbrusters mit frankophiler Einfühlsamkeit. Dabei ragen die Ecksätze, das Andantino con gracie sowie das schwungvolleAllegro marziale e vivo besonders heraus.

Die Besetzung weist in den zentralen Partien Besonderheiten auf. Die Rolle des Éléazar ist mit einem Tenor besetzt, wobei eher ein Bariton wie bei Verdi-Opern in ähnlichen Partien zu erwarten wäre. Die Partie der Rachel ist wie die der Eudoxie mit einem Sopran besetzt. Im Duettino Le Cardinal Madame en ce lieu doit se rendre des vierten Akts tritt die stimmliche Homogenität der beiden besonders in Erscheinung. Vielleicht ein Schachzug des Komponisten zur Unterstreichung der Austauschbarkeit wie Übereinstimmung der beiden in der Liebe, obwohl sie fast bis zum Finale Rivalinnen sind.

Barbara Senatorist mit ihrem ausdrucksstarken und leidenschaftlichen Sopran, der sie mühelos durch alle Höhen und Tiefen des Geschehens wie ihrer Stimme führt, eine auch in der Darstellung beeindruckende Erscheinung. Als Eudoxie ist Enkeleda Kamani stimmlich wie in der Anmutung verführerisch.

Ist Rachel die Titelpartie der Oper, so ist die Figur des Éleazar die zentrale Gestalt des Historiendramas. Der aus Dortmund stammende Mirko Roschkowski gestaltet sie stimmlich mit Vehemenz und großer Bühnenpräsenz, darstellerisch ergreifend. Er bestimmt auch den dramatischen Höhepunkt der Oper im vierten Akt. Es ist die Szene, in der Éleazar, der Rachel durch Enthüllung ihrer wahren Identität retten könnte, in der Arie Va prononcer ma mort, ma vengeance est certaine den aufgewühlten Ozean seiner Gefühle artikuliert. Als Kardinal wirkt Denis Velev zwar etwas steif, beeindruckt aber mit seinem dunkel grundierten markanten Bass.

Der sanguine Tenor Sungho Kims als Léopold ist deutlich integrer als der Charakter seiner Rolle. Mandla Mndebele als Ruggiero, Daegyun Jeong als Albert, Hiroyuki Inoue als Haushofmeister und Carl Kaiser als Henker arrondieren den vorzüglichen Eindruck des Sängerensembles. Der Chor, einstudiert von Fabio Mancini, hat abgesehen von einer weinseligen Beschwörung der Festtagsfreude im ersten Akt seine stärksten Auftritte als Furcht einflößender Mob.

Legt sich das Publikum im durchaus ansprechend besetzten Saal beim Szenenapplaus keine Schonung aus, bricht sich die Begeisterung nach der fast dreieinhalbstündigen Aufführung Bahn. Weitere Ansetzungen sind für den 23. November sowie im Mai terminiert. Anhänger der Grand Opéra können mithin planen.

Dr. Ralf Siepmann

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