Komödie der Infamie: Funkensprühendes Barockjuwel spielt mit der dekadenten Elite des antiken Rom

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Agrippina Georg Friedrich Händel Besuch am 29. Januar 2023 Premiere

Theater Bonn Opernhaus

Komödie der Infamie: Funkensprühendes Barockjuwel spielt mit der dekadenten Elite des antiken Rom

Unter den 42 vollständigen Opern von Georg Friedrich Händel wird allein Serse dem komischen Metier, der opera buffa, zugeordnet. Das Dramma per musica kommt 1738 am Londoner Haymarket Theatre heraus und avanciert mit seinen buffonesken Elementen in der Folge zu einer der erfolgreichsten Schöpfungen des Vollenders des Barock. Unter dem Eindruck der aktuellen Neuinszenierung von Agrippina in der Bonner Oper könnten an der Genre-Alleinstellung des Xerxes indes begründete Zweifel entstehen. Als arbeite Leo Muscato immer noch an seiner Serse-Inszenierung von 2018 in der Bundesstadt, verwandelt der Regisseur den Dreiakter um Roms intrigante Kaiserin in eine satirische Komödie, die ihr frivoles Spiel mit der dekadenten Elite treibt. Allerdings geht dies auf Kosten des politisch-moralischen Kerns des Stücks.

Muscatos Konzept kommt zwar, um es gleich zu verraten, beim Publikum an, wird aber Wesen und Stellenwert des Werks des jungen Händel nur bedingt gerecht. Zum Zeitpunkt der Uraufführung 1709 am Teatro San Giovanni Grisostomo in Venedig, dem größten von 14 Theatern in dem damaligen Stadtstaat, ist der nach einem eigenen Stil suchende Komponist gerade 24 Jahre alt. Man darf sich in Bonn durchaus vergnügen und zeitgleich wie im falschen Film vorkommen. Derjenige, der so empfinden sollte, wird es aushalten müssen, als Purist belächelt oder verunglimpft zu werden. Die deutsche Spaßgesellschaft kann bekanntlich gnadenlos sein, gerade gegenüber jenen Minderheiten, die auf die Kunst in ihrer authentischen Verfassung pochen, bisweilen unter dem Begriff Werktreue debattiert.

Die Sonderbarkeiten rund um Agrippina beginnen schon mit dem Libretto, das Vincenzo Grimani, zunächst habsburgisch-kaiserlicher Botschafter beim Heiligen Stuhl in Rom, später Kardinal und Vizekönig Neapels, nach den Schriften von Tacitus und Sueton verfasst. Julia Agrippina, vierte Ehefrau des Kaisers Claudius und Schwester Caligulas, ist im Jahr 54 n. Chr. dem Plan verfallen, ihren aus einer früheren Ehe stammenden Sohn Nero auf den Thron Roms zu bringen. Im Stile Machiavellis ist der Machtpolitikerin dafür jedes Mittel recht, sei es Betrug, Verleumdung, Verrat. Ihr Kalkül geht auf, weil die Schwächeren aus der Politik ausscheiden oder verdrängt werden.

Für die Kurtisane Poppea, anfänglich von Claudio und Nerone umworben, wenn nicht bedrängt, hält Grimani dank ihrer Schönheit und ihres Geschicks einen sozialen Aufstieg bereit. Sie ehelicht Ottone - den General, mit dessen Rettung Claudios aus den Fluten vor Britannien das Drama seinen Lauf nimmt. Agrippina, wenn man es so sehen will, eine Oper des erwachenden weiblichen Selbstbewusstseins.

Die Premiere im nahezu komplett besetzten Haus am Boeselagerhof ist – eine weitere Sonderbarkeit – die zweite Stufe eines unfreiwillig verzögerten Veröffentlichungsprozesses. Im Juni 2021 wird die Oper als Stream in einer speziell als Corona-Format inszenierten und gefilmten Version gezeigt. Nun können die klassizistisch adaptierte Ausstattung von Federica Parolini auf der Drehbühne und insbesondere die phantasievollen Kostüme Silvia Aymoninos ihre wahren Schauwerte entfalten. Die Kostümbildnerin hat eine Vielzahl von Ideen und handwerklichen Fähigkeiten investiert, um das dekadente Personal am Hof Claudios zu verfremden oder auch ins Ridicule zu zerren.

In der Titelpartie wechselt Louise Kemény nicht nur das leichte wie das schwere Outfit, sondern auch Haarfarbe und -frisur von Auftritt zu Auftritt. Der Bass Pavel Kudinov gibt als Donald-Trump-Karikatur Claudio eine treffliche wie bizarre Note. Er wirft dabei das Spielerische stärker als das Vokale in die Waagschale der Partie. Noch eine Spur krasser treiben die quirlige Sopranistin Lada Bočková als Nerone und die kecke MezzosopranistinCharlotte Quadt als Narciso ihr Spiel. Sie stecken in kugeligen Fettanzügen, die sie als Frauen fast unkenntlich erscheinen lassen. Die Poppea der Sopranistin Marie Heeschen zeigt im himmelblauen Kleid mit weißen Tupfen viel Bein und Anklänge an Pin-up-Girls im Spind von Soldaten. Benno Schachtner agiert als Ottone im kaiserlichen Gestühl wie in der Pflanzenkulisse mit Hang zur Selbstironie, martialisch im Kampfanzug. Der Pallante des Baritons Carl Rumstadt ist mit weiten Hosen und Embonpoint ein köstliches alter ego Nacisos. Martin Tzonev gestaltet den Lesbo, den Diener und amourösen Sekundanten Claudios, mit nobler Komik und differenziert geführtem Bass.

Typisch für die Barock-Oper im Allgemeinen und für Händels Werke im Besonderen ist das Strukturelement der Arie zu dramatischen Gipfelpunkten. In ihnen schildert der Protagonist seine Gefühlswelt, um danach in die angestammte Rolle und Standesfunktion wieder einzutauchen. Für die Bonner Inszenierung, in der auf den Part des Giunone sowie den Chor und etliche Sequenzen zur Kürzung der Aufführungsdauer verzichtet wird, mag sich Muscato nicht uneingeschränkt mit der Dacapo-Arie, dem Kern der neapolitanischen Oper, und den Rezitativen in Serie anfreunden. In das Fadenkreuz gerät so die Personenführung.

Muscato, der Komödiant, lädt sie mit einer Variante jener Idee auf, die schon bei seiner Serse-Inszenierung für ungewöhnliche Effekte sorgt. Klatscht eine der Figuren in die Hände, gefrieren die anderen förmlich zu Statuen. Ein genialer Kniff, der latenten Sehnsucht der Handelnden, besser noch: ihrem prinzipiellen Anspruch auf absolute Aufmerksamkeit einen Ausdruck zu verleihen. In Muscatos Menschheitstheater der Commedia dell’Arte funktioniert sie verblüffend. Jetzt – ein déja-vu? – setzt der Regisseur sie ein, um die aus der Corona-geprägten Produktion übernommenen Abstände zwischen den Protagonisten durch choreographierte Bewegungsmuster und eine humorvolle Mimik zu dynamisieren.

Die auf Distanz ausgeteilten Ohrfeigen und die wie geometrisch ablaufenden Körperdrehungen wirken eine Weile witzig. Der Einfall läuft sich indes nach einiger Zeit durch die raschen Wiederholungen tot. Vergleichbar den Blitzlichtgewittern über dem Rednerpult an der einen Bühnenseite und dem Klopfen am Mikrophon, zu dem sich jeder der noblen Redner alias Sänger anschickt, sobald er an der Reihe ist. In der Lust am Klamauk, am Slapstick, am Spiel der Körperformen geht so die Agenda einer Oper ein Stück unter, in der mit Grimanis Anspielungen auf die Machenschaften und Perversionen im Alltag der herrschenden Klasse sehr viel Ernsthafteres erzählt wird. Immerhin haben wir es in Nero mit einem antiken Herrscher zu tun, dessen Regentschaft sich durch zahllose Grausamkeiten auszeichnet, vorrangig gegenüber den zu Feinden Roms erklärten Christen,

Die Besetzung von Händel-Opern, so sie auf den Spuren der historisch informierten Aufführungspraxis unterwegs sein möchte, ist für jedes Musiktheater mittlerer Größe und finanzieller Spielräume eine spezielle Anforderung. Verfügt das Besetzungsbüro über opulente Möglichkeiten, werden die Partien Nerones, Ottones und Narcisos mit Countertenören besetzt. Die Bonner Besetzungsliste weist erfreulicherweise auch einen Counter auf, den Ottone Schachtners. Der Barock-Virtuose, in Bonn in bester Erinnerung als Endimione in Francesco Cavallis La Calisto in der Spielzeit 2020/21, avanciert in dem insgesamt überzeugenden Ensemble der Sängerdarsteller zur positiven stimmlichen Überraschung der Aufführung. Tacerò purché fidele undPur ch’io ti stringa al sen, seine Arien im dritten Akt, bringen mit ihrer intrinsischen Tiefe Augenblicke des Glücks von Händel-Opern auf die Bühne, das ihnen in ihren besten Momenten immanent ist.

Kemény knüpft mit ihrem alle disruptiven Sprünge meisternden Sopran an ihren überzeugenden Part als Romilda in Serse an. Die Tessitur ihrer Stimme erlaubt Ausflüge in die steilsten Höhen und atemberaubende Wanderungen fast in die tiefsten Schluchten. Im Spiel lotet sie die wesentlichen Facetten zwischen dem kaiserlichen Luder und der durchtriebenen femme fatale genussvoll aus. Heeschen scheint auf dem besten Weg, ihr Fach, das komische Repertoire, zu finden. Ihre Gestaltung der Poppea steigert ihre Serse-Performance als Atalante um eine weitere Drehung. Wie sie mit glockenhellen Eskapaden die Männer lockt, die sie in Wahrheit hereinlegt, ist vom Feinsten.

Die für die Aufführung verkleinerte Formation des Beethoven Orchesters Bonn (BOB) agiert unter der musikalischen Leitung des Barock-Spezialisten Rubén Dubrovsky wie im Serse etwas höher positioniert als üblich. Zu den Arien steht Dubrovsky, auffällig underdressed, etwas oberhalb der Begrenzung des Orchestergrabens, um zu den Rezitativen wieder abzutauchen. Diese werden im Übrigen von Felix Schönherr auf Cembalo und Orgel einfühlsam begleitet. Der aus Argentinien stammende und als Leiter des Bach Consort Wien tätige Dirigent ist seit seinem Operndebüt mit Antonio Vivaldis Orlando Furioso (2008) und Händels Tamerlano (2011) mit den Usancen des Hauses am Rhein sehr vertraut. So legt er mit großer Affinität zu den Raumverhältnissen sein Dirigat auf Transparenz und leuchtende Barockfarben an.

Das Publikum schließt in seinen streckenweisen frenetischen Beifall alle Akteure ein. Auch das Regieteam, in dessen Gesichtern sich immer noch die gute Laune spiegelt, die ihm diese Produktion bereitet haben muss. In psychisch belastenden Zeiten wie gerade wieder gilt – zumal in der Karnevalssaison – jede perlende Unterhaltung als willkommen. Auch dann, wenn sie ein Stück weit der Kunst nicht wohl will, der Händels Welterfolg zu danken ist.

Dr. Ralf Siepmann  

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