Jagdszenen aus Böhmen: Furiose Musik, von der Regie unterlegt mit der Desillusionierung des dörflichen Lebens

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Jagdszenen aus Böhmen: Furiose Musik, von der Regie unterlegt mit der Desillusionierung des dörflichen Lebens

Bedřich Smetana Die verkaufte Braut Besuch am 4. Dezember 2022 (Premiere 12. November 2022)

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen

Jagdszenen aus Böhmen: Furiose Musik, von der Regie unterlegt mit der Desillusionierung des dörflichen Lebens

Ich weiß euch einen lieben Schatz. Zur Mitte des zweiten Akts versucht Marie in einem fast sieben Minuten währenden Duett mit Wenzel, diesen von seinen Heiratsplänen abzubringen, die eigentlich ihr gelten.  Die junge Sopranistin Heejin Kim und der nicht signifikant ältere Tenor Tobias Glagau führen die lange Linie dieser Korrespondenz im Widerstreit mit einer Anmut in den Stimmen aus, die berührt. Das von Wenzels Angst vor der Ehe und von Maries Koketterie geprägte Rendezvous im französisch-melodischen Stil ist eine von zahlreichen musikalischen Kostbarkeiten in der Neuproduktion von Bedřich Smetanas Die verkaufte Braut am Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MIR).

Allein schon diese, Ohrwürmer wie Komm, mein Söhnchen, auf ein Wort – Weiß ich doch eine, die hat Dukaten und die zahlreichen Tänze von der Polka über den Springtanz bis zum Furiant lohnen einen Besuch des 1866 in Prag uraufgeführten Komischen Singspiels. Weitere Aufführungen sind bis in den April geplant, also auch in der Karnevalszeit. Auf die machen Wanderzirkus und Komödianten im dritten Aufzug einfach Lust.

Smetana, in seinen Entwicklungsjahren als Leiter einer Musikschule, Dirigent und Komponist entscheidend von Franz Liszt gefördert, wird zum Schöpfer einer tschechischen Nationaloper. Schlüsselwerke sind Prodaná nevěsta (Die verkaufte Braut) und im ernsten Fach Dalibor. Beide Kompositionen sind Ausdruck eines Befreiungsprozesses. Politisch-gesellschaftlich ein Reflex auf die graduelle Ablösung der späteren Nachfolgeländer des Habsburg-Imperiums vom Machtzentrum Wien und musikalisch eine Abkehr von der Kompositionsweise Richard Wagners, den der Komponist von insgesamt acht Opern anfänglich verehrt. Ziel ist die Herausbildung einer eigenen Gattung des Musiktheaters, wozu die traditionelle Musik Böhmens und Smetanas melodische Phantasie eine einmalige Grundlage bilden.

Jede Aufführung der Verkauften Braut ist seit jeher eine Neu- und Wiederbegegnung mit dieser Musik in der Tradition der böhmischen Volksmusik. Wie die berauschende Ouvertüre könnte sie sich auch eigenständig behaupten, etwa im Konzertsaal. Smetana unterlegt mit dieser Musik zahlreiche Gesangsnummern, schiebt sie als instrumentale Zwischenspiele in Form von Volkstänzen in das Gefüge der Komposition ein, gibt ihr als Movens gruppendynamischer Prozesse eine autonome Bedeutung. Unter der Leitung ihres Dirigenten Peter Kattermann nimmt die bestens aufgelegte Neue Philharmonie Westfalen das Geschenk der Partitur mit Vehemenz und jener eleganten Leichtigkeit an, die den Charakter böhmischer Traditionsmusik ausmacht und offen ist für die Durchlässigkeit von Elementen der Roma-Musik in diesen Landstrichen.

Die Handlung spielt in einem Dorf Böhmens um 1860 an einem Tag, an dem der durchziehende Zirkus für Furore sorgt. Zu sehen sind Begebenheiten, die an den Kinofilm Jagdszenen aus Niederbayern von Peter Fleischmann aus dem Jahr 1969 erinnern. Freilich wechseln sie sich mit teils rührenden, teils tollpatschigen Liebesszenen ab. Smetanas Librettist ist der jungtschechische Literat Karel Sabina, der später kurioserweise wegen erwiesener Spitzeldienste für das Haus Habsburg des Landes verwiesen wird. Ob er es darauf anlegt, das ländliche Leben mit seiner Vorliebe für Trachten, Volkstänze, derbes Brauchtum und Macho-getriebenen Rauheiten zwischen den Geschlechtern in einem leicht romantisierenden Licht zu zeichnen oder ihm seinen märchenhaften Charakter zu nehmen, darf offenbleiben.

Bis sich die Händel und Intrigen nach und nach wie ein Knoten auflösen, sind allerlei Verirrungen und Geheimnisse zu enträtseln. Treffen doch der narzisstische Heiratsvermittler Kecal, dem seine Selbstüberschätzung zum Verhängnis wird, Marie, die Tochter des Bauern Kruschina und seiner Frau Kathinka, der Knecht Hans mit unbekannter Herkunft sowie der wohlhabende, aber infolge seines Stotterns aus der Dorfgemeinschaft ausgegrenzte Wenzel aufeinander. Die Liebesbeziehung zwischen Marie und Hans wird erst auf die Probe gestellt. Dann endet sie glücklich, weil sich der fremde Tagelöhner als Sohn des Gutsbesitzers Micha herausstellt. Ende gut, alles gut? Wohl nicht. Kennt die Geschichte doch auch ihre Verlierer. Darunter Wenzel, dem allein die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verbleibt.

Im Regiekonzept von Sonja Trebes, am MIR seit ihrer Inszenierung von Paul Hindemiths Neues vom Tage ein Begriff, geht es recht derb, bisweilen brutal zu. Wenzel, die zentrale Figur dieser Inszenierung, wird gehänselt und geschlagen. Ein Waterboarding überlebt er scheinbar nur mit Glück. Trebes lässt Hans mit Marie in coram publico kopulieren. Im Wirtshaus beim Polka-Tanz haben die strammen mutmaßlich trinkfesten Burschen nichts anderes im Sinn, als eines der jungen Mädchen im Saal sexuell zu missbrauchen. Wie von geheimer Hand geführt löst sich das drohende Verhängnis in der nächsten Polka-Drehung auf. Kruschina ist allzu gutgläubig, seine Kathinka hat ein Verhältnis mit dem Schnaps. Wieso der arme Hans im Finale eine Flasche Champagner kredenzt, bleibt ein Geheimnis dieser Inszenierung.

Dörfliche Enge bestimmt das Bühnenbild von Marialena Lapata. Ein Entrinnen aus der dörflichen Idylle, die keine ist, gibt es nicht. Lediglich Marie und Wenzel ersehnen den Ausbruch. Marie, indem sie mit dem Reisekoffer unterwegs ist und an einer Bushaltestelle wartet, die keinen gültigen Fahrplan kennt. Wenzel, der Realitätsverweigerer, schafft es immerhin auf das Dach seines Hauses. A propos: Das Dorf symbolisieren verschiebbare Häuschen, von denen allenfalls die Seitenwände und die schräg-flachen Dächer zu sehen sind. Jeder im Dorf kann in das Innere schauen. Jeder sieht und weiß vom anderen alles. Vornehmlich von denjenigen, die nicht in die abgeschottete Welt des Dorfes passen, angefeindet werden, wenn nicht mehr. Im dritten Akt wird auch die ganze Bühne zu einem solchen Haus. Jula Reindells Kostüme stilisieren durch ein breites Spektrum an Lederhosen, Hüten mit Gamsbart und Dirndl-ähnlichen Kostümen und mit einer Lust an der Präsentation von Stereotypen den dörflichen Charakter. Ein wahrlich trügerisches Bild.

Es wird in deutscher Sprache gesungen, was angesichts der mangelnden Textverständlichkeit des Sängerensembles allerdings kein wirklicher Vorteil ist. Lydia Karnolskas Übertitel gleichen dieses Manko wieder aus. Der entscheidende Punkt ist indes ein anderer. Die deutschen Gesangs- und Sprechtexte legen die Assoziation nahe, das Geschehen könne sich in gleicher oder ähnlicher Weise auch in einem bayerischen oder sächsischen Flecken abspielen. Ein Eindruck, der durch die krachledernen Volkstänze, superb choreografiert von Andreas Langsch, das Kruzifix an der Wand und Bergglühen noch unterstrichen wird, aber die falsche Spur legt.

In der Titelpartie ist Kim in den lyrischen wie den expressiven, von Enttäuschung und Aufbegehren getragenen Passagen eine vorzügliche Besetzung. Ihre vokale Qualität in der Arie Wie fremd und tot ist alles umher verweist schon jetzt auf große Steigerungen in der nahen Zukunft. Der Tenor Martin Homrich verkörpert als ihr Pendant in der physischen Erscheinung den Hans eine Spur zu robust, zu selbstbewusst. Dieser Knecht trumpft von Beginn an wie der kommende Großbauer auf. Er trägt seine Potenz wie eine Trophäe vor sich her und mit lässiger Selbstverständlichkeit das Bärenkostüm, das ihm als Sieger in der Wette um denjenigen zusteht, der die größte Menge an böhmischem Pils verträgt. Das robuste Momentum prägt auch seine vokale Präsenz, leider auf Grund seines ungesunden Vibrato und seiner nuancenarmen Overdrive-Attitüde zum Nachteil von Stimme und Rolle.

Stimmlich ist ihm der Wenzel Glagaus auf dem anspruchsvollen Weg vom Stotterer zur sprachlich reifenden Seele so weit voraus, dass der Besucher sich wünschen könnte, Marie möge doch ihre Entscheidung noch einmal überdenken und an seinen lyrischen Qualitäten als Sänger ausrichten. Die zeigen sich noch einmal eindrucksvoll in der Interaktion mit der Esmeralda von Dongmin Lee. In der Rolle der Zirkustänzerin sieht sie Kim, ihrer koreanischen Gesangskollegin, außerordentlich ähnlich. Kein Wunder, dass Wenzel sich in der Erfüllung seiner Träume wähnt. Eine kluge Besetzungsregie.

Aus dem Sängerensemble ragt Philipp Kranjc als Kecal heraus. Den geschwätzigen Heiratsvermittler trifft er mit quirligem Parlando trefflich. Im Sextett im Lento-Zeitmaß Noch ein Weilchen, Marie, bedenk es dir des dritten Akts finden sich Haupt- und Nebenrollen in einer verzauberten Stimmung, die entfernt an das Quintett in der Schusterstube in Wagners Oper Die Meistersinger erinnert. Ein Zufall? Oder doch eher kompositorischer Abschied von einem einstigen Vorbild, den sich Smetana quasi zwischen den Zeilen alias Noten leistet. An der Art, wie sich Chor und Extrachor in die beschwingte Folklore Smetanas hereinfinden, lässt sich die intensive Probenarbeit ablesen, die Alexander Eberle seinem Ensemble hat angedeihen lassen.

Alles geht am Schnürchen, versprechen sich Esmeralda und der Zirkusdirektor in ihrem Duettino zu Beginn der Vorstellung. Bei dieser MIR-Produktion geht vieles „am Schnürchen“. Man möge sich ein eigenes Urteil bilden.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright Sascha Kreklau

 

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