In der psychiatrischen Klinik: Die von Glyndebourne inspirierte Regie fokussiert auf die Intimität der Tragödie

Xl_ok_luisa_miller3_3071m_-_kopie © Thomas Aurin

Luisa Miller Giuseppe Verdi Besuch am 4. März 2023 Premiere

Oper Köln Staatenhaus

In der psychiatrischen Klinik: Die von Glyndebourne inspirierte Regie fokussiert radikal auf die Intimität der Tragödie

Luisa Miller, demMelodramma tragico, bleibt der Erfolg vorenthalten, den Guiseppe Verdi mit seinem zwei Jahre zuvor in Florenz uraufgeführten Macbeth erreicht. Das in der Blütezeit der italienischen Oper durch neue Werke in Serie verwöhnte neapolitanische Publikum vermisst die kühne gestische Form der Oper nach Shakespeares Drama, in dem der Komponist dem Chor neben Primadonna und Bariton die „dritte Hauptrolle“ zuweist. Die Neuproduktion der Luisa Miller jetzt an der Oper Köln erlaubt eine kritische Überprüfung dieser Reserve gegenüber dem Werk, die bis heute anhält. Die Inszenierung von Christof Loy unter Mitarbeit von Georg Zlabinger, eine Produktion des Glyndebourne Festivals vom August 2021, bietet dafür beste Voraussetzungen.

Die Tragödie der Kölner Luisa Miller ereignet sich in einem neutralisierten Ambiente, das die volle Konzentration auf die Musik und ihre Akteure forciert. Der prasselnde Schlussapplaus im fast ausverkauften Staatenhaus für alle Akteure, auch das Regieteam, lässt erkennen, dass das Konzept auf Zustimmung stößt. Verdis dreizehnte Oper hat sehr viel mehr zu bieten als die wehmütige Tenorarie Quando el sere al placido, auf die sie häufig in Konzertprogrammen verkürzt wird. Sie ist das Tor zu jener Intimität, mit der Verdi auch künftig den Charakter seiner Bühnenfiguren ausmalen wird.

Luisa Millerist eine der zwölf Opern, die Verdi zwischen seinem Durchbruch mit Nabucco 1840 und Rigoletto 1851, dem ersten Gipfelpunkt, auf dem Weg zu einer eigenen Musiksprache komponiert. Das Libretto von Salvatore Cammarano, mit dem ihm bei der Genese der Oper ein intensives Werkstattgespräch verbindet, beruht auf dem bürgerlichen Trauerspiel Kabale und Liebe von Friedrich Schiller. Der Dichter des Sturm und Drang thematisiert im Geiste der Aufklärung den Antagonismus von Adel und Bürgertum in der erstarrten Ständegesellschaft. Dieser vorrevolutionäre Geist ist dem Textbuch des Werks, das am 8. Dezember 1849 im Teatro San Carlo in Neapel uraufgeführt wird, allerdings nur noch in Spurenelementen immanent.

Die rigide neapolitanische Zensur verlangt tiefe Eingriffe in Schillers Stück. Die Handlung wird in das Tirol des 17. Jahrhunderts verlegt. Stand und Name einzelner Personen werden verändert. Schillers komplexes Handlungsgewebe wandelt Cammarano, auch Dirigent am San Carlo, in ein Geflecht von Bildern und Musiknummern um. Er lässt sich von den potentiellen Effekten einer Opernaufführung des Stoffes leiten, von Möglichkeiten der Theatralisierung und Emotionalisierung. Diese „Unterwerfung“ unter die Regeln des neapolitanischen Opernspiels wird anfänglich als Rückschritt empfunden. Tatsächlich stellt Luisa Miller in späterer Sicht den Entwicklungsbeginn eines melodischen Katalogs dar, der die Ausgestaltung der Psyche individueller Bühnenfiguren erlaubt.  Die beiden Germont, Vater und Sohn Alfredo, Philipp, Jago sowie Violetta, Elisabetta und Desdemona werden hier vorgezeichnet.

Das Dorfmädchen Luisa Miller, Tochter eines alten Soldaten außer Diensten, liebt den Adeligen Rodolfo. Dessen von Standesdünkel und Ehrgeiz besessener Vater, Graf von Walter, unternimmt zusammen mit dem Untergebenen Wurm den Versuch, seinen Sohn mit der von ihm ausgesuchten Federica, Herzogin von Ostheim, zu verheiraten und so die Liebenden auseinander zu bringen. Davon verspricht sich Walter Aufstieg und wachsenden Einfluss. Wurm, den Luisa abweist, erpresst von ihr einen Brief, in dem sie bekennt, sich mit Rodolfo nur aus Gründen des gesellschaftlichen Emporkommens eingelassen zu haben. Der Geliebte glaubt sich betrogen und vergiftet Luisa und sich. Im Angesicht des Todes erfährt er von ihr die Wahrheit, ersticht Wurm und wünscht seinem Vater die Hölle. Ein Scherbenhaufen gescheiterter Existenzen.

Clou der Produktion ist die radikale Reduzierung des Schauplatzes auf einen sich verjüngenden weißen Einheitsraum mit einem Minimum an Mobiliar, einer Tür im Hintergrund und einer Neonlichtzeile an der Decke. Die Tiroler Landschaften mit stereotypischem Lokalkolorit ersetzt Johannes Leiacker durch ein unterkühltes, fast steril anmutendes Ambiente, das die Assoziation einer psychiatrischen Klinik hervorruft. Hier könnten sich Versuchsreihen mit Psychopharmaka abspielen. Die hermetische Abgeschlossenheit des Raumes unterstreichen die einheitlich schwarzen Kostüme, zumeist Alltagsanzüge, die Ursula Renzenbrink für die Sängerdarsteller wie den Chor der Bauern und Dorfbewohner erdacht hat. Einzige Ausnahme ist das Weiß, das Luisa zugestanden wird, zunächst als Bluse, im dritten Akt dann als Kleid an der Schwelle zum Tod. Federica darf zwar in einem rosafarbenen Ballkleid auftreten, was aber nicht als optischer Effekt, sondern als ständischer Kontrast zu der einfachen Erscheinung Luisas zu verstehen ist. Bunt sind die Blumen, die die Aussparung an Requisiten nicht mildern, dies wohl auch nicht sollen. Achtlos werden sie auf den Boden gestreut und zertreten.

Verzichten Loy und Leiacker auf jegliche Schauwerte, richtet sich der Fokus des Betrachters automatisch auf die Sängerdarsteller. Die Personenregie rückt sie mit fast schon analytischer Gnadenlosigkeit in das Zentrum der Betrachtung, verfolgt wie unter dem Brennglas die Machtgier Walters und Wurms, die sich zum Scheitern einer ganzen Generation auswächst. Kreist um den alten Miller, der geradezu blind der Utopie des Glücks folgen will, ohne den eigenen Anteil an seiner Zerstörung zu sehen, geschweige zu verstehen.

Zu beobachten sind Menschen, die Intimität als Ausnahmesituation erfahren, die Nähe allenfalls im Angesicht des Sterbens erleben. Sie krallen sich verzerrt vor Angst an Wände, winden sich ekstatisch am Boden. Diese wie von einer versteckten Kamera ermöglichten Momentaufnahmen aus einer Psychiatrie werden noch dadurch verstärkt, dass die Bühnenwand rechts in tiefes Schwarz verwandelt wird, als die Ausweglosigkeit der Liebe von Luisa und Rodolfo offenbar wird.

Liegt die Wucht der Tragödie bei Schiller in der Kraft der Sprache, baut sich ihre Wirkung bei Verdi aus der Kraft der Musik auf. Um die „Megagitarre“ des Verdischen Orchesterapparats und den weiteren musikalischen Aufwand im rechteckig geschnittenen Saal des Staatenhauses effektvoll zu positionieren, unterliegt die Aufführung einer speziellen Raumordnung. Das Gürzenich-Orchester Köln ist links von der Bühne postiert, was den Dirigenten Roberto Rizzi Brignoli um die direkte Sicht auf die Bühne bringt. Parallel zu seiner Videoeinblendung für Sänger und Choristen ist ein Zweitdirigentenpult vor der Bühne eingerichtet, das auf die Koordination von Instrumentalisten und Sängern ausgerichtet ist.

Der von Rustam Samedov präzise einstudierte Chor der Oper Köln agiert zu einem kleineren Teil auf, zu dem größeren neben der Bühne, im Rücken des Dirigenten. Im Gesamteindruck entwickelt sich aus den verschiedenen Quellen ein mächtiger, vom Orchester bestimmter Raumklang, der von den tiefen Streichern grundiert, vom Blech, der Pauke und der einfühlsamen Klarinette akzentuiert wird. Großer Verdi-Kino-Sound an der Grundlinie der Motivzelle entlang, die sich von der Ouvertüre an durch die ganze Oper zieht. Es ist der Vorläufer der Leitthemen in den späteren Werken Verdis.

Das Sängerensemble ist spielerisch hingebungsvoll unterwegs. Es ist aber nicht frei von Kritikpunkten, weil die drei tiefen Männerstimmen nicht vollständig überzeugen können. Dario Russo als Walter irritiert zunächst, da er mit allzu jugendlicher Erscheinung auftritt. Seine Stimme ist alles andere als aristokratisch, klingt phasenweise gepresst und frei von den stilistischen Feinheiten dieser Gesangslinie. Der Miller des Ólafur Sigurdarson berührt stärker mit seinem Spiel als mit seiner vokalen Performance, der es an der nötigen Tessitur mangelt. Der Bariton erklimmt die Höhe sicher, lässt aber im Abstieg zum tieferen Register regelmäßig abreißen, bis hin zum Parlando.

Noch am gefälligsten zieht sich Krzysztof Bączyk in der undankbaren Bass-Rolle des Wurm auf der Affäre. Verdi lässt seine Abneigung gegenüber diesem devoten Widerling offen spüren. Doch verleiht Bączyk der Rolle vor allem in den Ensemblenummern eine markante Präsenz. Als Rodolfo zeigt sich Rodrigo Porras Garulo mit seiner packenden, expressiven Tenorstimme in bester Verfassung. Ein zweiter Höhepunkt neben der Bravourarie ist seine aus Verzweiflung geborene Cabaletta L’ara, o l’avello, apprestami.

Sie sei „wie ein Engel, nur auf Erden“, wird Luisa im Libretto charakterisiert. In der Gestaltung der Titelrolle trifft Mané Galoyan die Fragilität und Zerrissenheit dieser Figur famos. Dazu wirklich kompatibel ist das Furioso an Koloraturen nicht, das der Komponist der Gesangsrolle auf Geheiß von San Carlo beizugeben hatte. In diesem artifiziellen Überbau stößt die Virtuosität der Sopranistin dann auch an ihre Grenze, was aber die weitere Entwicklung nicht in Frage stellen sollte. Zumindest erreicht Verdi mit dieser besonderen Stimmanforderung eine Divergenz zur Nebenrolle der Federica, die die Mezzosopranistin Adriana Bastidas-Gamboa mit bewährter Vehemenz profiliert.

Wie weit Verdi im Übrigen seine eigene Musiksprache schon vorausdenkt, ist in dem Quartett a cappella Come celar le smanie zu erahnen, bei dem der Atem der Zuhörenden zu stocken beginnt. Einen fabelhaften Eindruck macht die Sopranistin Laura Maria Koroleva aus dem Opernstudio in der Rolle der Laura.  Ihr gemeinsamer idyllischer Auftritt Ti desta Luisa, regina de cori mit dem Chor in der ersten Szene lässt für kurze Zeit die Illusion zu, es könne ein vergnüglicher Abend werden.

Unter dem Strich: Die gewisse Reserve dem Musikdrama gegenüber ist heute nicht wirklich nachvollziehbar. Verdis dritte Auseinandersetzung mit einem Schiller-Drama verbindet Unterhaltung mit Anspruch. Sie ist bedeutender als eine Zwischenetappe auf dem Weg zu den kommenden Meisterwerken.

Dr. Ralf Siepmann 

Copyright Thomas Aurin

 

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