In der Holzschachtel: Radikale Vereinfachung fordert das Publikum und engt die Sänger ein

Xl_ec27e9da-4795-410c-ac75-38734ae6a349 © Copyright Fotos: Andreas Etter

Eugen Onegin Peter Iljitsch Tschaikowsky Besuch am 9. März 2024 Premiere am 25. Februar 2024

Deutsche Oper am Rhein Theater Düsseldorf

In der Holzschachtel: Radikale Vereinfachung fordert das Publikum und engt die Sänger ein

Zwischen Bonn und Düsseldorf liegen nicht mehr als 70 Kilometer. Innerhalb von einer Woche bringen die Opernhäuser beider Städte mit Eugen Onegin, Peter Tschaikowskys Lyrische Szenen nach Alexander Puschkins Versroman, dasselbe Stück in Neuproduktionen auf die Bühne. Ob die Musiktheater am Rhein ihre Spielpläne stärker koordinieren sollten, ist hier nicht die Frage. Einige Opernafficionados schätzen sogar die Chance, ein bestimmtes Werk orts- und zeitnah in unterschiedlichen Bühnenkonzeptionen vergleichen zu können. Im Fall des Onegin könnte ein solches Unterfangen sogar sehr reizvoll sein. Liegen doch zwischen beiden Inszenierungen Welten.

In Bonn zeigt der aus Moskau stammende Vasily Barkhatov pralles und lebendiges Musiktheater. Seine Sicht auf die Episoden im zaristischen Russland um 1825 speist sich aus einer pulsierenden Erzählkunst und einem tiefen Gespür für die Möglichkeiten eines lebendigen Theaters. Sie geht einher mit einer ansprechenden Ausstattung unter Verzicht auf Dorfkitsch der Landbevölkerung und Palastdekor des Großbürgertums, mit genau ausgearbeiteter Personenregie und einer besonderen Aufwertung des Chores. In Düsseldorf verfolgt Michael Thalheimer die Idee einer Reduzierung des Geschehens auf den Nenner einer plakativen Vereinfachung.

Das Landgut wie der Salon in der St. Petersburger Oberschicht werden in Düsseldorf durch eine aus Holz gezimmerte orange-braune Schachtel mit beweglicher Rückwand ersetzt, deren räumliche Dimension nicht einmal die Hälfte der Bühne in Anspruch nimmt. Offenkundig eine Allegorie für die Enge der Lebensverhältnisse der bornierten Dörfler wie der beiden Töchter der Gutsbesitzerin Larina, die mit ihren Träumen und Sehnsüchten vergeblich gegen die Wand laufen. Ein Wendepunkt in der Arbeit des Regisseurs, der an der Rheinoper zuletzt mit einer eindrucksvollen Inszenierung von Giuseppe Verdis Macbeth Furore macht. Dem er allerdings wiederum am Düsseldorfer Haus einen irritierenden Parsifal von Richard Wagner folgen lässt, der sich jetzt – nach der jüngsten Auseinandersetzung mit Eugen Onegin – besser verstehen lässt. Als eine Vorwegnahme von Thalheimers Mission, Inszenierungen von Opern radikalen Vereinfachungen zu unterziehen und so das Publikum zu fordern.

Beim Parsifal hielt Thalheimer die Besucher expressis verbis an, zu „arbeiten, ihre eigenen Bilder im Kopf zu entwickeln“. Bei Onegin – wiederum mit dem Ausstatter Henrik Ahr und der Kostümbildnerin Michaela Barth – lenkt er das Publikum durch Verzicht auf jegliche Schauwerte und Oberflächenreize in die gleiche Richtung. Worin aber besteht der sinnliche Reiz einer entäußerten Leere in der Oper, die Alexander Kluge einst als „Kraftwerk der Gefühle“ rühmt? Die logische Folge der Reduzierung der Szene ist das begrenzte Bewegungsrepertoire der Protagonisten und die Inkaufnahme von Leerlauf, in dem die Sänger zu Recht kommen müssen.

Anfänglich erscheint es plausibel zu sehen, wie die ungestüme Olga und die von Liebe entflammte Tatjana gegen die Wand anrennen. Nach einer halben Stunde hat sich dieser Effekt aber schon totgelaufen. Auch szenisch bietet Thalheimer wenig. Zu Beginn ist das verlockende Duett von Tatjana und Olga, das sich zum Quartett der Frauenstimmen mit Larina und der Amme Filipjewna weitet, noch einigermaßen lebendiges Theater. Bald darauf entlarvt die textlich und musikalisch ausgreifende Briefszene der Tatjana die Enge des Konzepts drastisch. Existent sind weder ein Federkiel noch ein Tintenfass oder ein Stück Papier, um wenigstens den ersten Entwurf spektakulär zerreißen zu können.

Thalheimers Personenregie bewegt sich im konventionellen Rahmen. Wo die großen Momente auf der Bühne ausgespart sind, soll Aktionismus etwas hermachen. Ständig sucht die Regie ihr Heil in der Bewegung der Akteure, die in die eine Richtung laufen und gleich wieder in der Gegenrichtung zurück. Immerhin sorgt der Chor, sorgfältig einstudiert von Gerhard Michalski, für farbige Akzente. Auch durch Abwechselung in den Kostümen in der Szene des Hausballs und mit der prächtigen Polonaise zum Auftakt des dritten Aufzugs.

Anders als in Bonn und werkgetreu – hier sei noch einmal der Rekurs gestattet – fällt die Duellszene aus. Barkthatov ersetzt das klassische Ritual mit Degen oder Pistole durch einen von der Menge verursachten Sturz Lenskis in einen Teich. Thalheimer lässt es ausspielen, macht damit die Konventionen sichtbar, die in der damaligen Standesgesellschaft für die Demütigung eines Mannes von Stolz und Ehre vorgesehen sind, spürt aber auch die Ambivalenz in den Empfindungen der beiden Männer auf.

Onegin wie Lenski empfinden ja das Sinnlose ihres Zweikampfs. Feinde!, stoßen sie in ihrem tieftraurigen Duett hervor. Um dann sich zu besinnen: Ach, sollten wir nicht lieber lachen, ehe wir unsere Hände mit Blut beflecken, und uns als Freunde trennen? In Thalheimers Sicht ist Onegin derjenige von beiden, der dem Wahnsinn des Duells Einhalt bieten möchte. Lenski stürmt nach Trennung der Rivalen durch Saretzkij (Valentin Ruckebier) auf den vorgeschriebenen Platz, während Onegin seine Position geradezu bedächtig einnimmt und, wie es für Sekundenbruchteile scheint, sich dem Freund als Zielperson anbietet, ehe er selbst schießt.

Auffällig ist das Augenmerk, das der Regisseur der Szene mit Triquet, dem Franzosen aus Larinas Nachbarschaft, schenkt. Den von Ironie getränkten Couplet-Vortrag Sergej Khomovs zu Ehren Tatjanas begleitet die Menge mit immer lauter werdendem höhnischem Gelächter. So wird sichtbar, was der Außenseiterin blühen dürfte, wenn sie nicht die Chance bekäme, in die Stadt zu gehen.

In einer Inszenierung, die sich nicht gerade als Partner der Sängerbesetzung versteht und sie in einzelnen Szenen im Bemühen, packende Emotionalität zu entfachen, im Stich lässt, tritt der Stellenwert der romantisch-melodisch grundierten Onegin-Partitur wie eine tragende Architektur hervor. Besticht sie durch ihre große Bandbreite von der kammermusikalischen Intimität bis zur Tutti-Opulenz. Ob die Düsseldorfer Symphoniker unter Leitung ihres designierten Generalmusikdirektors Vitali Alekseenok aber durchgängig mit überzogener Lautstärke agieren müssen, ist nicht zu verstehen.

Die Tragik der Besetzung dieser Aufführung, wenn man diesem Gedankenspiel folgen will, liegt in dem Umstand, dass den besten Stimmen nicht das dramaturgische Hauptgewicht zukommt und sie im Schlussakt abwesend sind, weil entweder tot oder in der Provinz zurückgelassen. Der mit einem gefühlvollen Timbre agierende David Fischer gibt Lenski in den beiden Polen dieser Figur, dem jugendlichen Übermut wie der Traurigkeit der poetischen Seele, berührenden Ausdruck.Anna Harvey stattet Olga mit erfrischender Koketterie und jugendlicher Empfindsamkeit aus. Als Gremin nutzt Bogdan Taloș mit seinem die melodischen Bögen glutvoll aussingenden Bass den kurzen Auftritt optimal. Verdienter längerer Szenenbeifall hierfür.

Bogdan Baciu macht in der Titelpartie eine glaubwürdige Figur. Den Prozess vom arroganten Dandy zum verzweifelten Außenseiter im letzten Aufschrei Schmach! Scherz! O mein elendes Geschick! gestaltet er mit markanter Stimme und viriler Ausstrahlung. Bei ihrem Hausdebüt zeichnet die Sopranistin Ekaterina Sannikova Tatjana mit technischer Disziplin und sicherer Höhe, aber ohne die Emotionalität, der Onegin am Ende erliegt. Die Stimme neigt dazu, schrill und unruhig zu werden, sich von der lyrischen Farbe Tschaikowskys abzulösen. Katarzyna Kuncio bleibt als Larina mit unruhigen Gesangslinien blass. Die weitere Mezzo-Partie, die Filipjewna von Ulrike Helzel, fügt sich sicher in das Sängergefüge ein.

Wie der starke Applaus des Publikums nach Onegins Zusammenbruch im Schlussbild andeutet, scheint das Publikum, das zu einem großen Teil die Aufführung auf den deutschen Übertiteln verfolgt, dem Regieteam die Empathielosigkeit ihrer Arbeit nicht wirklich übel zu nehmen. Nun ist es in dieser Aufführung auch nicht vertreten, so dass die Begeisterung uneingeschränkt den musikalischen Akteuren im Graben wie auf der Bühne gelten kann. Auch gut. Das Rätsel einer Inszenierung der beschränkten Bilder mag alsbald vergessen sein. Tschaikowskys lyrische Kunst hingegen wird vermutlich im Gedächtnis bleiben.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright Fotos: Andreas Etter

 

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