
Tamerlano Georg Friedrich Händel Besuch 18. Mai 2025 Premiere 17. Mai 2025
Internationale Händel-Festspiele Göttingen Deutsches Theater
Göttinger Sieben entfachen ein Barockdrama hinreißender seelischer Abgründe
Ein Mongolenherrscher und ein osmanischer Sultan, die sich eine tödliche Auseinandersetzung liefern. Ein Opernstoff, der die zum Ende des 17. Jahrhunderts einsetzende sogenannte Türkenmode in der europäischen Kunst wie im Brennglas fokussiert. Eine Aufführung, die plastisch unterstreicht, warum uns Heutigen die Opern von Georg Friedrich Händel, zumindest die Seria-Kompositionen, auch drei Jahrhunderte nach ihrer Entstehung viel zu sagen haben. Warum sie uns bewegen und für die Wirrnisse der Gegenwart noch sensibler machen, als wir eh schon sind. Als uns womöglich lieb ist.
Mit Tamerlano, der Kernproduktion der Internationalen Händel-Festspiele Göttingen, erlebt die diesjährige Ausgabe von Deutschlands ältestem Festival für Alte Musik einen starken Auftakt sowie eine Art Wiedergutmachung für ein Werk, das es nicht wirklich in das Kernrepertoire der Musiktheater schafft.
Die Göttinger Entscheidung für Tamerlano – 15 Jahre nach der letzten Aufführung im Haus an der Theaterstraße – zeigt einmal mehr die universale Kunst des Komponisten. Dies ist nicht zuletzt ein Verdienst von Händels langjährigem Librettisten Nicola Francesco Haym. Er passt das italienische Textbuch von Agostino Piovene nach der Tragödie Tamerlan ou la Mort de Bajazet von Jacques Pradon den Londoner Erwartungen an, erhöht die Zahl der Arien und kürzt die Rezitative zusammen, wobei etliche der Accompagnato-Rezitative äußerst wirkungsvoll ausfallen.
Das Dramma per musica in drei Akten thematisiert die Legende um den osmanischen Sultan Bayezid I. 1402 gerät dieser nach einer vernichtenden Schlacht in die Gefangenschaft des mongolischen Heerführers Timur Lenk, italienisch Tamerlano, in der er wahrscheinlich Selbstmord beging.
Die Handlung, die auch Alessandro Scarlatti (1706) und Antonio Vivaldi (1735) zu Opernkompositionen reizt, ist im Kern ein Intrigenspiel Tamerlanos, das eine Stafette von Tötungs- und Selbstmordversuchen auslöst. In seinem Palast in Prusa hält der Mongolenherrscher Bajazets Tochter Asteria gefangen, die sich zu dem griechischen Prinzen Andronico hingezogen fühlt. Aus Gründen der Staatsräson hat Tamerlano sich mit der Prinzessin Irene von Trapezunt verlobt, der er allerdings noch nie begegnet ist.
Tatsächlich begehrt er Asteria, die ihn wie ihr Vater zurückweist. Tamerlano diskreditiert Andronico bei Asteria, die zum Schein auf das Werben des Heerführers eingeht, um ihn zu töten. Ein Giftanschlag auf Tamerlano wird von Irene durchkreuzt. Als sich Bajazet zum Schutz seiner Tochter vor den Augen des Mongolen opfert, wendet sich das Blatt. Tamerlano lässt Milde walten, ehelicht Irene und stimmt dem Bund von Asteria und Andronico zu.
Die italienische Regisseurin Rosetta Cucchi hält den Kampf im Drama zwischen Schwäche und Stärke, freiem Willen und Unterwerfung für einen Ausdruck der menschlichen Leidenschaften, mithin etwas Zeitloses. Folglich lässt sie das Geschehen in einer modernen Zeit spielen, die sie aber nicht definiert. Der Hof im Palast Tamerlanos wie später die Galerie hin zu seinen Gemächern erscheint im Bühnenbild von Tiziano Santi als eine rar möblierte schwarze Box, in der Leuchtstäbe und grelle Seitenscheinwerfer (Licht Ernst Schießl) für Konturen sorgen. Kontraste erzeugen vor allem Schwarz-Weiß-Effekte. Die Kostüme von Claudia Pernigotti verstärken die Vorstellung dieser antagonistischen Welten und der vagen Moderne. Die Titelfigur agiert in einem Outfit, das Karl Lagerfeld nachgezeichnet sein könnte. Einzig Bajazet tritt in Gefangenenkleidung auf. Als er den Kerker in Timurs Gewölben verlässt, trägt er Handschellen. Der Osmane und seine Tochter bewegen sich barfuß, ein Zeichen ihrer Versklavung.
Die Ästhetik des barocken Musiktheaters stellt das Schauspiel des menschlichen Seelendramas in das Zentrum von Szene und musikalischer Gestaltung. Dieser elementaren Auffassung verdankt die singuläre bis solipsistische Stellung des Sängerdarstellers seine Berechtigung, die sich in der monopolistischen Beherrschung von Raum und Bühne ausdrücken kann. Ein Momentum, dem die Barockmusik in der Hochzeit der Kastraten ihre größten Momente verdankt, die heute in exemplarischen Aufführungen dank einer neuen Generation von hochtalentierten Countertenören fortlebt.
Cucchi ist dieser Gedanke offenkundig fremd. Regelmäßig lässt sie in die Soloperformances der Protagonisten Elemente von action einfließen. Sitzmöbel werden hinein- oder hinausgetragen, schweben vom Bühnenhimmel hinunter. Sechs Statisten umkreisen insbesondere Tamerlano als choreographierter Ausdruck der Ängste des Mongolen und der moralischen Skrupel, zu der er auf der Schlussbahn des Geschehens doch noch fähig ist. Sie fordern zum Tanz auf, dessen Grandezza nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass er auf einer dünnen Kruste stattfindet, unter der der Untergang lauert.
Gleich zweimal gibt es eine Szene mit Umkleidung. Irene avanciert dabei via upgrade beim Kostüm zu einer selbstbewussten Frau, die sich ihres künftigen Platzes an der Seite des Mongolen sicher ist. Einige kreative Einfälle mildern den Gesamteindruck wenig. Die Kränkungsszene, in der Tamerlano seine Wut an Bajazet und seiner Tochter austobt, packt und verstört. Drastisch stopft er seinem Gefangenen und Asteria Gemüse und Salatblätter in den Mund.
Mit Giulio Cesare (Februar 1724), Rodelinda (Februar 1725) und dem Musikdrama Tamerlano, das im Oktober 1724 zur Eröffnung der sechsten Spielzeit der Royal Academy im Haymarket Theatre uraufgeführt wird, befindet sich Händel auf dem Höhepunkt seiner Zeit als Opernkomponist. Die Partitur ist von Düsternis und dunklen Farben gekennzeichnet, entwickelt aber eine große dramatische Wirkung. Der Komponist findet zu einer psychoanalytisch geprägten Linie von Arien, die die Verwundbarkeit der Charaktere adäquat ausmalen. Geradezu eine Provokation für das damalige Londoner Publikum ist der in coram publico begangene durchkomponierte Suizid Bajazets unter den Augen Tamerlanos, bei dem sich Schrecken mit Rührung mischt.
Unter Besetzungsaspekten ist Tamerlano ein Wendepunkt. Händel engagiert mit Francesco Borosini für die Rolle des Bajazet einen Tenor. Borosini, der aus Wien kommt, ist der erste herausragende italienische Tenor, den das Londoner Opernpublikum erlebt, und der erste Tenor, dem eine zentrale Rolle in der Opernliteratur zugedacht wird. Bis dahin ist es üblich, dass Sopran-Kastraten und Frauensoprane sowie Kastraten mit Altstimme im Fach der männlichen Heroen für Rollen verwendet werden – angesichts des Siegeszuges des Tenors insbesondere in der Belcanto-Ära aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbar. Borosini bringt zudem spezielle Werkkenntnisse mit nach London. 1719 sang er die Hauptrolle in Il Bajazet von Francesco Gasparini.
Die Göttinger Sieben, die sechs Sängerdarsteller sowie George Petrou am Pult des Festspiel Orchesters Göttingen, entfachen über vier Stunden bei zwei Pausen mit durchgängiger Koloraturenkunst ein Händel-Seelendrama, das in seinen besten Augenblicken Zeit und Raum vergessen lässt. Dies ist um so bemerkenswerter, da seit der Premiere am Vortag nicht einmal 20 Stunden vergangen sind. Der Barock-Spezialist Petrou, künstlerischer Leiter des Festivals seit 2021 und nach Vertragsverlängerung bis 2031, inspiriert die Instrumentalisten zu einer in allen Nuancen überzeugenden Leistung, bestens in Takt und Form gehalten von einem Continuo mit Panagiotis Iliopoulos am Cembalo.
Den Part des Bajazet gestaltet der spanische Tenor Juan Sancho, womit zugleich die Stimme der Aufführung genannt wäre. Ihn zeichnen das Latinotimbre seiner Stimme, die Expressivität im Ausdruck und sein ergreifendes Spiel aus, das profunde Erfahrungen mit Partien in Händel-Opern erkennen lässt, so zuletzt Oronte in Alcina am Theater Bonn. Fast schon überirdisch schön Figlia mia, non pianger, no, sein Arioso in der Sterbeszene.
In der Titelrolle überzeugt der Countertenor Lawrence Zazzo insbesondere durch seine großartige Mimik und die vokale Kraft, die er gegen das sich ankündigende Schicksal setzt. Keine Spur mehr von den stimmlichen Problemen noch in diesem Februar bei den Händel-Festspielen in Karlsruhen, als er der Titelrolle von Rinaldo einiges schuldig bleibt. Als zweiter Countertenor ist Yuriy Mynenko ein Andronico, der stimmliche Virtuosität mit der Wucht des fordernden Aristokraten zu verbinden weiß.
Louise Kemény ist eine Asteria der dramatischen wie der innigen Farben. Die Sopranistin zieht das komplette Register des Ausdrucks von der liebenden Tochter bis zur Intrigantin im höheren Auftrag, die mit frivoler List den Giftmord vorbereitet. Als Irene ist die Mezzosopranistin Dara Savinova mit Vehemenz und flexibler Stimmführung eine veritable Kontrahentin um den ersten Platz im Mongolenreich, die geschickt hinter den Kulissen die Fäden zieht. Der Bass-Bariton Sreten Manojlović komplettiert als Leone den guten Eindruck. Wenn er mit markiger Stimme seine Position vertritt, ist zu verstehen, warum man auf seinen Rat hört.
Das begeisterte Publikum im fast ausverkauften Haus überschüttet alle Mitwirkenden mit anhaltendem Jubel. Zu Recht! Für den 5. September hat die Festspielleitung im Göttinger Freibad Brauweg übrigens unter dem Motto Tamerlano für alle eine Vorführung der Oper auf der Leinwand geplant. So etwas wie eine letzte Chance auch für diejenigen, die die drei Aufführungen bis zum 25 Mai verpasst haben sollten.
Dr. Ralf Siepmann
Copyright Foto: Alciro Theodoro da Silva
19. Mai 2025 | Drucken
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