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Die Ameise Peter Ronnefeld Besuch am 14. Dezember 2025 Premiere
Theater Bonn Opernhaus
Famose Wiederentdeckung: Wahn und Liebe in einem Künstlerdrama der Moderne
Franz Kafkas Novelle Die Verwandlung erscheint 1915. Der Handlungsreisende Gregor Samsa wird darin in ein ungeheures Insekt verwandelt. Die Groteske über Identität, Entfremdung und Isolation gilt als eine der erfolgreichsten Erzählungen Kafkas. 1961 wird an der Deutschen Oper am Rhein Die Ameise von Peter Ronnefeld uraufgeführt. Die Oper, für die der Komponist gemeinsam mit Richard Bletschacher das Libretto verfasst, schildert die Wahnvorstellung des Gesangslehrers Salvatore. Unter der Anschuldigung, die Studentin Formica, lateinisch und italienisch für Ameise, umgebracht zu haben, sitzt er im Gefängnis, wo er in einem Kästchen eine Ameisenkönigin aufbewahrt, die ihm zugeflogen ist. Er hält sie für Formica, hofft mit ihr eine Beziehung unter Künstlern führen zu können. Eine neuerliche Verwandlung?
Das Stück, ein Künstlerdrama über einen Mann, der an seiner Kunst, seiner Schülerin und schlussendlich an sich selbst scheitert, ist jetzt, 56 Jahre nach der letzten Inszenierung am Landestheater Linz, in einer Neuproduktion am Theater der Bundesstadt im Rahmen des Schwerpunkts Fokus `33 zu erleben. Dieser greift Opern auf, die aus den Spielplänen verschwunden oder ganz vergessen sind. Sie wartet mit Bezügen zu Bonn und der Opernhistorie der Stadt auf.
Bonn ist eine Station in dem kurzen Leben Ronnefelds, der 1935 in eine Dresdner Künstlerfamilie hineingeboren wird und 1965 nach einer Krebserkrankung in Kiel stirbt, wo er am dortigen Opernhaus als jüngster deutscher Generalmusikdirektor tätig ist. 1961, 26jährig, wird er in Bonn Chefdirigent nach einer dreijährigen Tätigkeit an der Wiener Staatsoper als Assistent von Herbert von Karajan sowie als Kapellmeister. Als Dirigent setzt Ronnefeld sich insbesondere für die Neue Musik ein, hat Anteil an Aufführungen von Isang Yun und Bernd Alois Zimmermann.
Zentrale Figur der Oper ist der unglückliche Gesangslehrer Salvatore. Der Prozess gegen ihn endet mit einem Schuldspruch. Im Gefängnis hält er sich eine Ameise in einem Kästchen. Mit künstlerischer Besessenheit gelingt es ihm, der Ameise das Singen beizubringen. Nach seiner Haftentlassung gelangt Salvatore in ein Varieté. Als er entdeckt, dass dem Ensemble dort die Königin fehlt, sieht er die Chance für seine Ameise, ihr Talent als Sängerin zu offenbaren und einzuspringen. Doch dazu kommt es nicht. Die Ameise wird von den Tänzerinnen achtlos zerquetscht. Ihr Lehrer und Schöpfer überlebt diesen Schock nicht.
Die Ameise ist ein surreales Werk, das zwischen Farce, Krimi-Handlung, romantischer Überdehnung und Satire pendelt. Die Oper ist eine Tragödie, insofern sie den Künstler unaufhaltsam in den Untergang treibt, der vorhersehbar ist. Sie ist ein Scherzo der Gefühle und der Lust an Absonderlichkeiten, weil sie das Theater als einen öffentlichen Ort ausweist, der sich bürgerlicher Normen zu entziehen weiß und daher von diesen Bürgern honoriert wird. Sie ist nicht zuletzt ein Lehrstück über das Absurde, eine Ameise auf der Opernbühne Wirklichkeit werden zu lassen, und seine Überwindung, wobei Bletschacher als Lösung den Glauben anbietet, der den Gesangslehrer beseelt. Ob dieser Glaube durch die Figur des Gefängnisgeistlichen, wie im Libretto ausgeführt, eine christliche Ausdeutung erfahren muss, erscheint nicht zwingend.
Die aus der Ukraine stammende Regisseurin Kateryna Sokolova, mit Regiearbeiten aus dem klassischen wie dem modernen Repertoire hervorgetreten, ist mit ihrer Inszenierung dem Stück dicht auf den Fersen, was im Prinzip nicht falsch sein kann. Nur eine winzige Minderheit der Opernbesucher dürfte das Werk kennen oder hinreichend vorbereitet sein. Sokolova bevorzugt einen ahistorischen Stil. Hinweise auf Ort und Zeit fehlen. Die Bezeichnung Music Hall für das Varieté könnte ein Indiz für London sein. Denkbar wären auch Paris oder Wien, wichtige Stationen im Leben Ronnefelds, auf die im Textbuch angespielt sein könnte. Eine Abbildung oder Stilisierung der Ameise durch Videobilder, immerhin des den Titel ausmachenden Wesens, ist nirgends zu sehen. So krabbelt sich das zur Obsession des Gesangslehrers gewordene Insekt nach und nach in die Gedankenwelt der Besucher, um dort ein weiteres Eigenleben zu entwickeln.
Für den Mordprozess hat der Bühnenbildner Nikolaus Webern einen Gerichtssaal mit links und rechts steil ansteigenden Tribünen geschaffen. Luken und diverse Türen ermöglichen allerlei Bewegungen zur Seite und in den Bühnenhintergrund. Lautstark und parteiisch mischen sich Zeugen und Prozessbesucher in die Verhandlung ein. Für sie hat Constanza Meza-Lopehandia bunte Kostüme geschaffen. So hoffen sie, in der TV-Show, als die der Prozess angelegt ist, ins Bild zu kommen. Es ist ein Vorgeschmack auf das leider arg gedehnte Schlussbild im Stil einer Revue, für das der Gerichtssaal in ein Theater verwandelt wird. Theater im Theater, ein Standard des Operngenres seit Jahrhunderten, der auch in Bonn funktioniert.
Im zweiten Akt wird der Gerichtssaal in das Gefängnis transformiert. Weitere Ebenen werden durch Gitter und Wände eingezogen, die je nach Situation vom Schnürboden heruntergleiten oder dorthin zurückgezogen werden. Das Gitter dient Salvatore als Trennwand, hinter der er sich einerseits seinen Träumen hingibt, in denen ihn furchterregende Insekten heimsuchen, vor der er andererseits in teils akrobatischem Körperspiel seine Obsessionen von Kunst und Freiheit ausagiert. Zugleich fungiert die Wand als Schauplatz für Schattenspiele und Eskapaden, die Carl Rumstadt als Fassadendieb und Tae Hwan Yun als Taschenkletterer weidlich zelebrieren. Ihre Begleitung ist mehr als skurril, auf Küchentöpfen zu Walzerklängen der eine, durch Fagott, Kontrafagott und Klavier der andere.
Wir besuchen regelmäßig Prozesse, wir können uns ein Urteil erlauben, skandiert der Chor zu Beginn, um zugleich aus der Vorverurteilung Salvatores keinen Hehl zu machen: Unerhörtes Verhalten. Er ist irrsinnig. Gemeint sind Gerichtsprozesse wie der gegen Maestro Salvatore. Gemeint sind allerdings auch Urteile, die über einen Menschen gefällt werden – wie eben den Gesangslehrer, der von einem Wahn befallen scheint, indes auch zu wahrer tiefgründiger Liebe fähig ist.
Wahn? Obsession? Perversion? Sokolova wertet nicht, insbesondere nicht moralisch. Sie sucht wie ein Reporter die in der Farce versteckten Themen auf, den Einfluss der öffentlichen Meinung auf den Prozess, die Liebe in ihrer Unergründlichkeit. Den Ausweg im Metaphysischen. Die Choreografie, die Sebastian Eilers für die szenische Führung der Protagonisten gefunden hat, korrespondiert mit diesem Ansatz.
Ronnefelders Musik verbindet Carl Orff, Paul Hindemith, Boris Blacher mit der Nachkriegs-Avantgarde. Die Partitur zur Ameise weist in die Zukunft, ist mit ihrem Material aus Klangbildern, Rhythmen und origineller Instrumentierung ein Unikat, das Neues beansprucht und schafft. Sie bietet Zwölf-Ton-Sequenzen mit ariosen Stellen im Stil des Verismo, A-cappella-Chorpassagen mit Jazz-Elementen, etwa des Blues, wozu das Saxophon zu hören ist. Es gibt versteckte Verweise auf Alban Berg und Richard Wagner, so in Rumstadts Kapriole Fassaden sind mein Element, speziell im Jugendstil sowie im Terzett des dritten Aktes, die an die Meistersinger erinnern.
Am Pult des Beethoven Orchesters Bonn erweist sich Daniel Johannes Mayr als ein ebenbürtiger Sachwalter von Ronnefelds Musikideen und inspirierender Motivator des Geschehens im und über dem Graben. Seine Tempi und seine Steuerung des Klangvolumens lassen den Sängern Zeit und Raum im erforderlichen Maße, ganz besonders dem von André Kellinghaus akribisch einstudierten Chor, der sich zwischen diffizilen Rhythmen und gregorianischen Chorälen bewegt.
Die Rolle des Salvatore bedeutet für Dietrich Henschel eine Wiederbegegnung mit Bonn, wo er 2023 in Arnold Schönbergs Moses und Aron als Moses zu erleben war. Das Drama eines innerlich zerrissenen Künstlers gestaltet der auch physisch enorm präsente Bariton äußerst beweglich und einfühlsam. Im ständigen Wechsel von hoch und tief, laut und leise, Belcanto und Parlando. Als Formica erfüllt Nicole Wacker die geforderte Stimmakrobatik einer Koloratursängerin famos. Sie bewegt sich in einem eigenen Klangprofi, flirrend, dissonant, mit Ornamenten gespickt wie bei einer Operndiva. Als ihre Mutter beherrscht Susanne Blattert alle Facetten des klagenden Weibes, wie sie uns etwa aus Fellini-Filmen vertraut sind.
In weiteren Rollen fügen sich Ralf Rachbauer als Diener Salvatores, Mark Morouse als Professor Mezzacroce, Ján Rusko als Gefängniswärter Melter sowie Roland Silbernagl in das überzeugende Gesamtformat ein. Letzterer hat sich gleich in drei Partien zu bewähren, als Verteidiger, Gefängnisgeistlicher, Gefängnisdirektor. Das Publikum feiert mit wachsender Vehemenz die Leistung aller Beteiligten, auch die des Regieteams. Mit großem Jubel besonders bedacht werden Henschel, das Orchester und der Chor.
In der Rhein-Ruhr-Opernszene geschieht gerade Merkwürdiges. Wie in Bonn, nur eine knappe Autostunde entfernt, vermag sich im Aalto-Theater Essen ein Künstler nicht von dem zu trennen, was er als sein ureigenes Werk betrachtet. Dort geht Cardillac in der gleichnamigen Oper von Paul Hindemith für seine Bestimmung, an die er glaubt, in den Tod. Zufall? Oder sind doch Mächte im Spiel? Hierfür hätte sich Ronnefeld gewiss interessiert.
Dr. Ralf Siepmann
Copyright Foto: Bettina Stöß
16. Dezember 2025 | Drucken

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