Die bei der Uraufführung verkannte Azione tragica entfaltet beim Belcanto-Festival ihr Format

Xl_ermione_ppp_7397 © Patrick Pfeiffer

Gioachino Rossini Ermione Besuch am 16. Juli 2022 (Premiere am 10. Juli 2022 in Krakau)

Rossini in Wildbad Trinkhalle in Bad Wildbad

Die bei der Uraufführung verkannte Azione tragica entfaltet beim Belcanto-Festival ihr Format

A così trista immagine. Mit einemDuettino von knapp drei Minuten, das Pilade, einen Tenor, und Fenicio, einen Bassbariton, zusammenbringt, unterbricht Gioachino Rossini in seiner Azione tragica die Gran Scena, die nach gut zwei Stunden brachialischen Geschehens die Auflösung in der Tragödie der nachtrojanischen Antike bringen muss. Es ist ein dramaturgischer Kunstgriff mit dem Ziel, das Publikum noch einmal Atem holen zu lassen und zugleich die Spannung nach oben zu treiben. Nach diesem Intermezzo ereilt die Protagonisten ihr Schicksal, dessen Grundlinien sich in dem Epos Andromache des Euripides finden, die der Librettist Andrea Leone Tottola indes der Andromaque von Jean Racine aus dem Jahr 1667 entnimmt.

Auf der Bühne der Trinkhalle bei Rossini in Wildbad ist die Bilanz am Ende Schrecken pur. Ein Lieto mortale, mit anderen Worten. Zwei blutbefleckte Heroinen liegen danieder. Und ein Held ist außer sich und von Sinnen, weil er den an ihm verübten Verrat nicht überstehen kann und will.

Die Uraufführung von Ermione findet 1819 im Teatro San Carlo in Neapel statt. In jenem nach seiner Zerstörung wiedererstandenen Haus, dem er zwei Jahre zuvor auf Drängen des umtriebigen Impresarios die ebenfalls bei Rossini in Wildbad gezeigte Opera seria Armida und wenige Monate zuvor das Dramma Ricciardo e Zoraide zueignet. Das Ermione-Debüt wird vom traditionell empfindenden Publikum zurückhaltend aufgenommen, um nicht zu sagen: mit Gleichgültigkeit. Es fühlt sich vom Genie der leichten Unterhaltung hintergangen.

Die Kühnheit der Partitur in ihren teils radikal neu gedachten Formen und Formaten muss Rossini selbst als Überforderung seiner Zeitgenossen erschienen sein. Wird ihm doch die Bemerkung zugeschrieben, er habe Ermione für die Nachwelt geschrieben. Tatsächlich wird das aus dem Desaster des Kriegs um Troja entwickelte Schauerstück mit der Rossini-Geliebten Isabella Colbran in der Titelrolle nicht ein zweites Mal gegeben. Und zu Lebzeiten des Komponisten auch nie wieder gespielt.

Im Schatten des Krieges in der Ukraine, den Jochen Schönleber, Intendant des Festivals und Regisseur der Produktion, im Hintergrund seines Regiekonzepts gehabt haben dürfte, haftet dem Stoff etwas Bedrückendes an. Es ist die zeitlose Gewalterfahrung mit Menschen, die ihre Ziele ohne jegliche Bereitschaft zum Kompromiss verfolgen. In der Ilias des Homer wie unter den Militärs des Kremlherren.

Der Stoff kennt vier Hauptcharaktere. Es sind Pyrros, Sohn des Achilles und König von Epirus im Nordwesten des heutigen Griechenlands, seine Geliebte Ermione, Tochter von Menelaos und Helena, ferner unter den überlebenden Trojanern Andromache, die Witwe Hektors mit ihrem Söhnchen Astianatte, schließlich Orestes, Sohn Agamemnons, als Abgesandter anderer griechischer Herrscher in Epirus anwesend. Pirro, wie der König in der Oper heißt, wendet sich von Ermione ab und überredet Andromaca durch Erpressung zur Heirat. Die gekränkte Ermione fordert - von Rache getrieben - Oreste auf, Pirro zu töten. Nach der Tat verweigert sie ihm jedoch den Liebeslohn.

Schönleber lässt das Drama in einem ahistorischen Raum mit einem schräg geführten Laufsteg spielen, der von weißen Quadern links und rechts begrenzt ist und im grauschwarzen Hintergrund eine rot illuminierte Toröffnung aufweist. Zu Beginn werden Videosequenzen auf die Quader projiziert, die eine durch Krieg zerstörte Welt zeigen, sei es die Trojas, sei es die heutiger Städte in der Ukraine.

Cennet Aydogan fokussiert bei ihren Kostümen für die Hauptcharaktere auf die Gegensätze von Hell und Dunkel. In einem schwarzen Gewand spielt und singt die Sopranistin Serena Farnocchia Ermione. Blendend weiß ist die an Despoten gemahnende Uniform des Pirro, in der der Tenor Moisés Marín eine stattliche Figur macht. Weiß das Kostüm, in dem die Mezzosopranistin Aurora Faggioli als Andromaca zu allem bereit ist, um das Leben ihres Sohnes zu retten. Zerfleddert schwarz ist die Uniform des Oreste. Schwarz ist im Übrigen auch der Ledermantel des Pilade, in dem Chuan Wang mit seinem markanten Tenor Oreste beisteht.

Im Sinne des Sujets - Azione tragica - entscheiden sich Rossini und Tottola früh, ihre Oper nach der Tochter Helenas zu nennen. Zwar hat zu Beginn Faggioli das Sagen, die in der Introduktion mit Chor Troia! qual fosti un dì! das beklagenswerte Dasein der gefangenen Trojaner herzzerreißend deklamiert, was in den sich stürmisch steigenden Part des Orchesters übergeht. Auch in ihrer Kavatine im ersten Akt sowie ihrem Duett mit Pirro Ombra del caro sposo! im zweiten breitet sie die große Spannweite ihrer Stimme aus, einerseits Furie, andererseits empathische Liebende.

Doch sind es Pirro und eben Ermione, die die Handlung voranbringen. Schon in ihrem Duett im ersten Akt mit Chor Non proseguir! comprendo! offenbart Farnocchia ihre vokalen Qualitäten, Wut, Entrüstung, selbst Süffisantes auf engstem vokalem Raum auszudrücken. Sie beherrscht schließlich den zweiten Akt, mit der Kavatine Dì che vedesti piangere als solistischem Gipfelpunkt.

Zeichnet sich die Wildbader Ermione schon durch zwei Virtuosinnen mit allen Raffinessen in disruptiven Sprüngen und atemberaubenden Koloraturen aus, so stehen die beiden männlichen Kontrahenten ihnen nicht wirklich nach. Marin ist als Pirro energisch und kraftvoll, durch das strenge Korsett seiner Rolle freilich ein Stück daran gehindert, die weichere Seite seiner Stimme jenseits der martialischen Strenge auszuspielen, die diesen Herrscher des Unbeirrbaren ausmacht. Als Oreste ist Publikumsliebling Patrick Kabongo ein tenorales Glanzlicht. Reggia abborrita!, seine Kavatine im ersten Akt, die sich zum Dialog mit Pilade ausweitet, besticht durch die zarte Lyrik ihrer Melodik und die Haute-contre-Anteile der Stimme.

Aufhören lässt Bartosz Jankowski, Stipendiat der Akademie BelCanto, als Atttalo mit seinem silbrig-leichtem Tenor. Er ist der Diener des Fenicio, Pirros Erzieher, dem Jusung Gabriel Park Statur verleiht. In weiteren Rollen sind Mariana Poltorak als Cleone und Katarzyna Guran als Cefisa stimmige Ergänzungen.   

Wie am 27.März 1819 im San Carlo lastet auch in Wildbad die Tragödie aus Unterdrückung und Verrat schwer auf den Gemütern. So ist es fast schon ein Wunder, wie Rossini dieses Trauma mit seiner meisterlichen Musik weitgehend wieder auflöst, was auch diesmal funktioniert. Für dieses „Wunder“ zeichnet in erster Linie Antonino Fogliani, seit 2011 Musikalischer Leiter des Festivals an der Enz und Maestro der Aufführung, verantwortlich. Sein Dirigat mit energischem physischem Einsatz lässt in jeder Sekunde, bei jedem Einsatz Rossini-Kompetenz spüren. Und die Leidenschaft, Musiker wie Sänger zu einem Höchstmaß an Qualität anzuspornen.

In seinem Format – durchaus im doppelten Sinne des Wortes – steigern sich das Philharmonisches Orchester Krakau und seine auch solistisch geforderten Instrumentalisten in eine Performance, die in eine obere Liga der auf Rossini spezialisierten Orchester verweist. In ihrem Schlepptau überzeugt auch der von Marcin Wrobel vorzüglich vorbereitete Philharmonische Chor Krakau. Dessen Sängerinnen und Sänger haben schließlich so unterschiedlichen Rollen wie Würdenträger und Gefolgsleute beider Seiten, trojanische Gefangene und spartanische Mädchen zu entsprechen.

Dreimal beherrschen am Wildbader Premierenwochenende mit Armida, Ermione und Adina starke Frauen die Szenerie des Festivals. Heute dürften sie wohl nicht mehr ohne Weiteres Primadonnen genannt werden (wollen). Drei Virtuosinnen, die die späte neapolitanische Ära Rossinis in Erinnerung rufen. Ein gewolltes Zeichen? Jedenfalls ein Zeichen.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright: Patrick Pfeiffer

| Drucken

Mehr

Kommentare

Loading