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Orfeo ed Euridice Christoph Willibald Gluck Besuch am 6. Dezember 2025 Premiere
Musiktheater im Revier Gelsenkirchen
Defokussierung: Epochale Reformoper mutiert zu einem Theater der Körper
1787 stirbt Christoph Willibald Gluck in Wien. Anlässlich seines Todes schreibt Christian Friedrich Daniel Schubart in seiner Deutschen Chronik: „Was Lully für Frankreich, Jomelli für Italien, Händel für Engelland, Graun und Carl Philipp Emanuel Bach für Deutschland taten, das tat Gluck für das ganze musikalische Europa.“ Was Schubart, der Journalist und Komponist, unter Glucks „Tat“ versteht, ist die Überwindung der italienischen opera seria auf Basis der Libretti von Pietro Metastasio durch den weiter entwickelten Stils Gluck, der ihm den Beinamen des Reformers einträgt. Die Ablösung der herkömmlichen Ausdrucksformen, des vom Cembalo begleiteten Secco-Rezitativs und der von Musik erfüllten Arie oder Ensemblenummer zugunsten höchster Wahrhaftigkeit und Menschlichkeit. Die Aufhebung der Trennung von Inhalt und Form, um es auf eine einfache Formel zu bringen.
Orfeo ed Euridice, Glucks erste von drei Reformopern in Zusammenarbeit mit dem Literaten Ranieri de’ Calzabigi, liegt in drei Versionen vor. Das Wiener Burgtheater erlebt die Uraufführung der italienischen Erstfassung 1762. Die der französischen Fassung findet 1774 in der Académie Royale de Musique in Paris statt. Eine von Hector Berlioz geschaffene Neufassung gelangt 1859 auf die Bühne des Pariser Théâtre-Lyrique, ein Mix von veränderten oder übernommenen Teilen der beiden Fassungen zuvor. Das Musiktheater im Revier (MiR) spielt die Wiener Fassung mit dem lieto fine, der glücklichen Vereinigung der beiden Liebenden dank des göttlichen Erbarmens, ohne sich freilich diesem Versprechen völlig zu ergeben.
Angekündigt ist keine stilreine Inszenierung. Auf die Bühne im fast ausverkauften großen Saal gelangt der antike Mythos von Orpheus und Eurydike in der inszenatorischen Choreografie des Direktors der MiR Dance Company, Giuseppe Spota, der damit seine letzte abendfüllende Arbeit mit und für die Company erbringt. Sprechen wir überwiegend von einer Ballettproduktion mit dem Stoff einer Oper? Oder vornehmlich von einer Opernproduktion mit massiven Ballettanteilen? Was die Corporate Identity von Spotas Annäherung an Glucks Opus tatsächlich ausmacht, wird ziemlich schnell klar.
Die Akteure der MiR Dance Company, die die Hirten und Nymphen, Schatten, Furien und in aufsteigender Art und Weise die Gefühle der beiden Hauptprotagonisten darstellen, sind während aller drei Akte auf der Bühne präsent. Die drei Sängerinnen sind Teil dieser Aktion und interagieren mit den Tänzern, spielen aber wie in einer Opernproduktion ihre jeweiligen Rollen. Spota weist den Tänzern dabei die Aufgabe zu, die Rolle der Eurydike stärker zu betonen und ihre Emotionen in den Mittelpunkt des Geschehens zu rücken.
Der mystische Stoff spielt laut Textbuch an Eurydikes Grabmal, in einer grauslichen Höhlengegend jenseits des Flusses Cocytus, in Erebos, dem finstersten Bereich der Unterwelt, und im Tempel des Gottes Amor. Spota, der auch Bühne und Kostüme verantwortet, lässt Sänger und Tänzer in einer drehbaren hohen Wand mit mobilen Gerüsten spielen, die vorn, zu einer Kletterwand gerundet, wie eine Staumauer symbolisch den Fluss der Zeit und des Lebens blockiert. Die Hinterseite zeigt unterschiedliche Ebenen des Hades, auch das Feuer der Hölle, sobald ein Spalt in der Wand den Blick freigibt. Während Orpheus anfänglich vor dem Hintergrund der Kletterwand den Verlust Eurydikes beklagt, dienen die Ebenen des Hades als Schauplatz für das eigentliche Drama. Effektvoll ausgeleuchtet von der Lichtregie Andreas Gutzmers.
Der Chor, einstudiert von Alexander Eberle, ist links und rechts im Rang platziert. Er agiert mit Vehemenz, so in Chi mai dell’Erebo fra le caligini, womit er sich an die Furien wendet, Orpheus den Zutritt zum Hades zu verwehren. Die gewohnte Homogenität erreicht der Chor freilich diesmal nicht, was aber zu einem großen Teil an seiner Aufstellung in getrennten Formationen liegen kann.
Mit Glucks Reformoper, bei der die Musik nicht mehr der Selbstdarstellung bis zur narzisstischen Überhöhung der Sänger wie in der italienischen Barockoper dienen soll, rücken Chor und Tanz in das Zentrum des Musikdramas. Avancieren sie in Glucks Azione teatrale per musica zu Dialogpartnern der Handlung und der Akteure. Eben dies, im Idealfall eine organische Einheit aller beteiligten Instanzen, leistet Spotas zur Tanzoper stilisierte Inszenierung gerade nicht. Die Company bewegt sich barfüßig, was eine zusätzliche akustische Ebene einzieht. Sie kreiert durch totalen, manchmal schwerelos erscheinenden, bisweilen akrobatischem Körpereinsatz, sei es im abgestimmten Ensemble, im Duett oder im empathischen Solo, phantasievolle Bilder von den seelischen Qualen Eurydikes und dem grenzenlosen Leid des Orpheus.
Ihre Körper kreisen zu Beginn in weißen, später, im Hades, in vom Feuer angesengten Trikots umeinander, lösen sich wie polarisierende Materie voneinander, rennen gegen die Wand, krallen sich an den Kletterösen dort fest, um unmittelbar danach mit schlierendem Geräusch zu Boden zu rutschen. Eine von Spota bevorzugte tänzerische Gebärde scheinen Stakkato-gleiche, abrupte Bewegungen zu sein, durch die Verzweiflung und Aussichtslosigkeit der Protagonisten ausgedrückt werden sollen. Sie nutzen sich indes im ohnehin begrenzten Repertoire der Körperbewegungen recht schnell ab.
In dem Maße, wie dieses Theater der Körper immer massiver, optisch wie akustisch immer präsenter wird, desto mehr nimmt es den Charakter eines eigenen Universums an. Dominanz statt Ergänzung, Aufmerksamkeit verlangende Attitüde anstatt Partnerschaft im Dialog. Das Resultat lässt sich als Defokussierung von Glucks Oper fassen, die Regie als Instanz, die nicht primär der Frage folgt, warum und wie heute Oper zu inszenieren ist. Aus der Sicht des Anhängers moderner Ballettchoreografien, die die klassische Oper nicht aus ihren kulturellen Vorlieben ausklammern, dürfte diese Inszenierung ein Gewinn sein. So lassen sich auch die stürmischen Jubelstürme für die Dance Company zum Schluss erklären, insbesondere von jüngeren Besuchern. Sie sind zweifellos nachvollziehbar und gerechtfertigt, wenn sie der großen Kunst der jungen Tänzer gelten. Aus der Sicht von Anhängern der Oper, speziell traditioneller Aufführungsstile, die Balletteinlagen in der Oper allenfalls tolerieren, ist die Produktion gelinde gesagt eine Zumutung.
Der besondere Charme und die Spiritualität des Werks werden im Haus am Kennedyplatz durchaus, aber nicht voll umfänglich erlebt. Das liegt zu einem Teil an Giuliano Betta am Pult der Neue Philharmonie Westfalen, der Glucks subtile Seelenlandschaften nicht selten in allzu großer Lautstärke ersticken lässt. Ob der Verzicht auf das Bühnenorchester hierbei eine Rolle spielt, mag offenbleiben.
Über die Entscheidung des MiR, die Rolle des Orpheus einer Sängerin aus dem Mezzo-Fach zu übertragen, ließe sich diskutieren. Glucks Vorstellung von einem idealen Klangbild kommt die Besetzung mit einem Countertenor wohl am nächsten. Hieran knüpft die Referenz-Aufnahme mit Jochen Kowalski unter der Leitung von Hartmut Haenchen an, die 1988 in der Berliner Christuskirche entsteht. In der Wiener Uraufführung gibt der Altkastrat Gaetano Guadagni den Orpheus. Für spätere Aufführungen mit anderen Besetzungen, so in Parma und Paris, sieht der Komponist einen Kastraten-Sopran oder einen sehr hohen Tenor vor.
Mit Ende des 19. Jahrhunderts erlischt der Stern der Kastraten, übernehmen Bariton und Frauen-Alt den Part der Figur, die für den Sänger in der Oper schlechthin steht. In neuerer Zeit wird es üblich die drei Hauptrollen mit Frauen zu besetzen. Dem folgt auch Spota, der die Mezzosopranistin Constanze Jader zu „seinem Orpheus“ macht und auch die Partien von Eurydike und Amor mit Sängerinnen besetzt.
In ihrem weißen Anzug, der charakterliche Reinheit andeutet, findet Jader mit ihrer gefühlvollen Gestaltung vom Kummer und vom Aufbegehren des Orpheus zu einer beeindruckenden Linie, im vokalen und im dramatischen Ausdruck. In der populär gewordenen Arie Che faro senza Euridice, die sie zu einem Gipfel der Intimität aufsteigen lässt, findet ihre Leistung den adäquaten Höhepunkt.
Heejin Kim gewinnt der Partie der Eurydike mit ihrem ansprechenden Sopran vor allem die lyrischen Farben ab, zeigt indes auch auf, wie schwer sie der Verlust des Geliebten und das Schicksal getroffen haben, so in der Arie Che fiero momento. Tamina Biber vom Opernstudio NRW ist ein Amor, der Botschaften der Warnung wie des Glücks temperamentvoll zu verkünden weiß. Seine Arie Gli sguardi trattieni zum Ende des ersten Aktes lässt schon früh erkennen, dass Hoffnung besteht.
Stürmischer Beifall, phasenweise Jubel, der allen Mitwirkenden am Ende gilt. Es dürfte viele in Gelsenkirchen geben, die Spota vermissen werden.
Dr.Ralf Siepmann
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08. Dezember 2025 | Drucken
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