Beginn einer Reise der Bewusstseinserweiterung verführt mit französischem Esprit

Xl_eroeffnungskonzert_1901 © Copyright Sonja Werner

Johann Sebastian Bach Orchester-Suite C-Dur Jean-Baptiste Lully Miserere Georg Philipp Telemann Deus Judicium Tuum Grand Motet Besuch am 17. September 2022

Festival Alte Musik Knechtsteden Klosterbasilika Knechtsteden

Beginn einer Reise der Bewusstseinserweiterung verführt mit französischem Esprit

 

In den Dezennien vor und nach 1700 ist Paris, präziser: der royale Musikbetrieb am Hof in Versailles, das Zentrum der barocken Instrumental- und Theatermusik. Sein unbestrittener Regent ist der von König Ludwig XIV. zum Surintendant de la musique du roi ernannte Florentiner Jean-Baptiste Lully. Seine Ballettmusiken, auch in diversen Konzertformaten, und seine Barockopern, speziell die sie eröffnenden Ouvertüren, schwingen sich zur dominierenden europäischen Kompositionsform auf. Wie weit ihre Verführung und Strahlkraft reichen, demonstriert Hermann Max, der Gründer und Inspirator des Festivals Alte Musik Knechtsteden, exemplarisch mit dem Konzert, das die 31. Ausgabe in der Klosterbasilika am Rande der rheinischen Stadt Dormagen eröffnet.

Intendant Max, durch jahrelange systematische Auseinandersetzung Johann Sebastian Bach und Georg Philipp Telemann besonders verbunden, stellt das aktuelle Festival unter die Maxime, verborgene Wirklichkeiten in der Musik hör- und sichtbar zu machen. Im Auftaktkonzert mit den beiden von ihm ins Leben gerufenen Hausensembles Rheinische Kantorei und Das Kleine Konzert ist der französische Stil des barocken Musizierens, speziell die Suite und die Motet, die instrumental und vokal üppig gestaltete Kirchenmusik, im Fokus.

Eine programmatische Entscheidung, die einmal mehr den Ruf des Festivals bestätigt, ein Experimentierfeld und Impulsgeber für Alte Musik zu sein. Ein, wie Max es nennt, Erfüllungsort. Ein Konzept, das ihm das erfreulich zahlreich in dem romanischen Bauwerk erschienene Publikum mit herzlichem Beifall dankt. Der ganz überwiegend der musikalischen Leistung gilt und nicht als Mittel, die wegen der massiv gefallenen Temperaturen draußen klamm gewordenen Finger zu wärmen.

Die erste von Bachs populären vier Orchestersuiten, die Suite C-Dur, mutmaßlich in seinen Köthener Jahren um 1720 entstanden und wahrscheinlich erstmals in seiner Zeit als Leiter des von Telemann gegründeten Leipziger Collegium musicum zwischen 1730 und 1740 aufgeführt, belegt speziell in ihrem dreiteiligen Kopfsatz die große Affinität des Komponisten für die französische Suite. Instrumentiert für Streicher, Continuo, Fagott und zwei Oboen, die in Unisono-Führung zumeist der ersten Violine auf der Spur sind, offenbart sie im weiteren Verlauf ihren französischen Formenkern freilich nach und nach erst dem, der in den folgenden Tanzsätzen die Eleganz und leichte Noblesse der Lullyschen Tonsprache erkennt oder zu erspüren vermag.

Das Orchester geht den „französischen Bach“ nach dem verhaltenen Auftakt des Eingangsportals mit Vehemenz und Spielfreude an, wobei sich die angestrebte organische Verflechtung der unterschiedlichen Instrumente nach und nach einstellt. Womöglich ein raumbezogener Effekt, der sich durch den jeweiligen Platz des Besuchers im Mittelschiff oder seitlich einstellen mag. Das Ensemble unter der engagierten Führung von Max verwandelt die anschließende quirlige Tanzfolge – die trunkene Fröhlichkeit der Courante, das Jagdfieber von Gavotte zwei, das Volkstümliche der Forlane, das Zerimonielle der beiden Menuette, schließlich Bourrée und Passepied – mit Spielfreude und barocker Könnerschaft in einen Klangsalon der Stile.

Sollte das Publikum als zweites Stück des Abends nach Bachs französischer Suite, nun eine „echte“, nämlich eine von Lully, erwartet haben, setzt Max dieser Überlegung eine vokale Komposition gegenüber. Eine Grand motet, wie sie ab 1725 zum engsten Repertoire der im Louvre veranstalteten Concerts Spirituels gehört. Lullys Miserere für Soli, Chor und Orchester, eine Vertonung von Psalm 51 nach der Lutherbibel, wartet mit komplexen, bisweilen vertrackten Strukturen auf, kniffligen Dialogen zwischen Solisten und Instrumentalisten, nicht zuletzt unter den Solisten. Bei der ersten Aufführung 1663 soll das Werk, dessen Struktur später zur Richtschnur für die französische Kirchenmusik auf viele Jahrzehnte wird, die Zuhörer förmlich in ihren Bann geschlagen haben.

Die Ausführenden des Miserere mei, deus, die Instrumentalisten, die als Doppelchor agierende Kantorei und die Solisten, finden unter dem empathischen, niemals fordernden Dirigat von Max recht bald die Balance zwischen der reuigen Stimmung des in Deklamation gefassten Luthertextes und dem prachtvollen Tableau des strahlenden Lully-Sounds. In rund 20 Minuten, dem Standardzeitmaß der Musikstücke des Eröffnungskonzerts, zieht ein Panorama wechselnder Gefühle vorbei, eine große Oper des beschworenen Glaubens im Kleinen.

Der dritte und letzte Flügel dieses Knechtstedener Musikaltars, Telemanns Deus, judicium tuum - Grand Motet nach Psalm 71/72 der Lutherbibel für Soli, Chor und Orchester, verdankt seine Entstehung dem acht Monate umfassenden einzigen Besuch des Direktors des Hamburger Musiklebens 1737 in Paris. Die Motette, Utopie einer idealen Königsherrschaft, ist eine Abfolge von Chorsätzen, der sich diverse Solosätze anschließen. Ist die majestätische Einleitung samt fröhlicher Triller verklungen, setzen abwechslungsreiche vokale oder instrumentale Solosequenzen ein, bei denen Flöte, Violine und Fagott brillieren. Die Soloflöte vor allem bei der ersten Sopranarie Suscipiant montes pacem, die Fagotte bei der springlebendigen Tenorarie Descendet sicut pluvia in vellus, deren Botschaft des herabfahrenden Regens auch großartig in den aktuellen Dürresommer gepasst hätte. Benedictus Dominus, die abschließende Lobpreisung, vereint mit einem prächtigen Fugato-Teil am Ende alle vokalen und instrumentalen Stimmen zu einem akustischen Festgelage.

Aus dem Sängerensemble ragen die Sopranistin Veronika Winter und der Tenor Markus Schäfer heraus. Winter, regelmäßig Gast des Knechtstedener Festivals, vielen unter den Besuchern noch von der Aufführung von Bachs h-Moll-Messe im September 2019 in Erinnerung, beeindruckt durch ihre klangschöne, nuancenreiche und gleichmäßig fließende Stimme. Schäfer, den eine für Passionen und Kantaten des Barocks vorzüglich geeignete Tessitura auszeichnet, meistert die Architektur, die Linien und Sprünge seiner solistischen Passagen, souverän. Matthias Vieweg bringt seinen kernigen Bass mit raumfüllendem Volumen höchst passabel zur Geltung. Die beiden weiteren Sängerinnen, die Sopranistin Pia Davila, und die Altistin Julie Comparini, arrondieren den vorzüglichen Gesamteindruck des Ensembles. Comparini erlebt in der Telemann-Motette unverdientermaßen den Nachteil, überhaupt nur eine ganz kurze Gesangsstrecke zum Zuge zu kommen, wobei dieser Auftritt durch die kräftige Paraphrase Viewegs auch noch geschmälert wird.

Die Rheinische Kantorei, seit 45 Jahren im Bereich der historisch intendierten Aufführungspraxis ein Begriff, glänzt in allen vier Stimmen durch eine professionelle Intonation und Diktion sowie klangschöne Homogenität. Das Kleine Konzert beeindruckt durch die barocke Seele, die diesem Ensemble zu eigen ist. Unter den solistischen Musikern stechen Leonard Schelb und Cordula Breuer, Flöte, sowie Hans-Peter Westermann und Annette Spehr, Oboe, hervor. Johannes Liedbergius absolviert seinen Part an der Orgel mit der gebotenen Einfühlung und Subtilität.

Das Festival Alte Musik Knechtsteden 2022 verspricht nach diesem verheißungsvollen Auftakt eine „bewusstseinserweiternde Reise“ zu werden, wie sie Max vorschwebt. Bis zum 24. September stehen noch acht Konzerte auf dem Programm.

Dr. Ralf Siepmann

Copyright Sonja Werner

 

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