Adel der Seele, Adel der Musik: Franco Fagioli im Zentrum eines hinreißenden Barockjuwels

Xl_franco_fagioli_mg_7114__c__julian_laidig_01_-_copy © Copyright: Julian Leidig

Georg Friedrich Händel Ariodante Besuch am 5. November 2022 (Einmalige Aufführung)

Theater Essen Philharmonie

Adel der Seele, Adel der Musik: Franco Fagioli im Zentrum eines hinreißenden Barockjuwels

2012 verleiht Franco Fagioli in der Rolle des Arbace der Referenzeinspielung von Leonardo Vincis Artaserse, die mit fünf Countertenören sowie einem Tenor besetzt ist, ihre besondere Raffinesse. Getragen von Concerto Köln mit Diego Fasolis am Pult, errichtet er mit endlos langem Atem und scheinbarer Mühelosigkeit spektakuläre musikalische Architekturen des barocken Glanzes, die von der Unterkellerung in der Altlage bis in die Dachterrasse olympischer Sopranhöhen reichen, wie sie in dieser Perfektion nicht ein zweites Mal zu erleben sind.

Zehn Jahre später bestätigt Fagioli in der Titelpartie von Georg Friedrich Händels Ariodante in der konzertanten Aufführung des Dreiakters in der Essener Philharmonie diese virtuose Meisterschaft, als ginge die Zeit an diesem Ausnahmekünstler spurlos vorbei. Hätte Fagioli zur Zeit der Uraufführung von Ariodante 1735 im Londoner Covent Garden Theatre das Publikum in seinen Bann geschlagen, hätten die Theaterimpresarios über seine Stimme vermutlich gesagt, sie sei ein zeitloses Geschenk, das unter dem besonderen Schutz der Götter stehe.

Back to the roots- angesichts der Besetzung der Titelpartie mit einem Countertenor schließt die in Essen zur Aufführung gelangte Produktion an führende Standards der Oper zur Zeit ihrer Entstehung an. Händel, der den Kastraten Caffarelli, Nicolini, Senesino großartige Partien auf die Kehle schreibt, vermag dem verwöhnten Londoner Publikum mit dem Kastraten Giovanni Carestini einen der größten Stars seiner Epoche zu präsentieren. Gewiss ein Umstand, warum die Oper in der Premierensaison weitere elf Aufführungen erlebt. Besetzungen mit einem Mezzosopran - beispielsweise Lorraine Hunt Lieberson bei den Göttinger Händel-Festspielen 1996 - mögen ihre Liebhaber finden. Die besondere Aura einer Aufführung im Stil der Londoner Ariodante-Produktion dürften sie kaum auf der Netzhaut der geschlossenen Lider und in den akustischen Räumen des nach Innen offenen Ohres hervorrufen.

Ariodante auf ein Libretto des Florentiners Antonio Salvi, im Hauptberuf Leibarzt der Medici-Fürsten, ist nach Orlando die zweite Oper Händels, die auf Ludovico Ariosts Version des Rolandlieds, dem Orlando furioso von 1516, beruht. Die Handlung ist in ihrer erzählerischen Struktur unprätentiös, aber dramaturgisch eine höchst beliebte Quelle für zahlreiche Bühnenwerke von William Shakespeare bis Antonio Vivaldi und Georg Christoph Wagenseil. Händel, der Komponist mit dem ausgeprägten Instinkt für theaterwirksame Situationen und Effekte, ist von der Vorlage höchst angetan. Bietet sie ihm doch zahlreiche Anlässe für die musikalische Ausgestaltung weiter Gefühlslandschaften, gleichsam die DNA der Barockoper.

Sie erlaubt ihm zudem, jedem der drei Aktschlüsse einen Ballo, eine Balletteinlage, anzuhängen. Zur Mitte der 1730-er Jahre etabliert die französische Tänzerin Marie Sallé in der Zeit ihres Londoner Engagements eine gegen das dominierende statische Ballett an den Opernhäusern in Paris gerichtete neue natürliche Form des Ausdruckstanzes, für das Händel in enger Kooperation mit dem findigen Produzenten John Rich Innovationen in der Kompositionstechnik erschafft. Da sich die Aufführung in der Essener Philharmonie naturgemäß auf eine konzertante Wiedergabe beschränkt, erzeugen die diversen Ballo-Sequenzen - überwiegend in Rondo-Form - im Publikum allerlei Irritationen.

Mit mehr als Irritationen, gar mit Schock- und Gruselelementen ist die Geschichte des fürstlichen Vasallen Ariodante gespickt, der im schottischen Edinburgh gegen Ende des achten Jahrhunderts mit Ginevra, der Tochter des Königs von Schottland, sein Glück sucht. Eine betrügerische Intrige von Ariodantes Widersacher, dem Herzog Polinesso mit Hilfe der Hofdame Dalinda, erschüttert das Vertrauen des Ritters in die Königstochter. Sie wird fälschlicherweise der Untreue bezichtigt, was im erweislichen Fall ihren Tod zur Folge hätte. Polinesso spielt sich als Fürsprecher Ginevras auf und spekuliert auf die Hand der Prinzessin und den Thron. Ariodantes Bruder Lurcanio tötet den verbrecherischen Herzog. Ariodante und Ginevra werden im lieto fine vereint und versichern sich im letzten ihrer drei prachtvollen Duette Bramo aver mille vita/Bramo aver mille cori ihrer grenzenlosen Liebe. Ich wünschte, ich hätte tausend Leben, tausend Herzen, ich würde sie allesamt dir widmen, lautet dieser Wunsch in einer gerafften deutschen Übersetzung.

Annähernd 20 Minuten musizieren die virtuosen Instrumentalisten des Ensembles Il Pomo d´Oro unter Leitung des Barockspezialisten George Petrou, ziehen die ersten Rezitative, Ariosi und Arien das Publikum in die Welt Ariosts, ehe Fagioli mit dem Arioso Quì d`amor, noch dezent, in das Geschehen eingreift. In dem anschließenden Duett Del Fato più inumano mit der Sopranistin Mélissa Petit als Ginevra, in dem sich beide das Feuer ihrer Liebe eingestehen, kristallisiert sich erstmals die stupende Stimme Fagiolis heraus. Irrwitzig sodann die sprudelnden Läufe, grandiosen Koloraturen und heiklen Kadenzen in seiner Arie Con l`ali di constanza und hernach im himmlisch leuchtenden BravourstückDopo notte, altra e funesta.  Ariodante feiert darin seine glückliche Rettung aus einer orrida tempesta, einem schrecklichen Sturm auf See, mit vokalen Ausreißern bis zum Anschlag eines geheimen Paradiesvogels, als hätte sich ein stolzer Pfau unter die Akteure an ihren Notenständern auf der Bühne gemischt.

Überirdische Sphären erklimmt Fagiolis Organ in der Arie Scherza, infida, in grembo al drudo ein gut neun Minuten umfassender Parcours der seelischen Abgründe im Rhythmus der Sarabande, der die Todessehnsucht Ariodantes als Reaktion auf die Nachricht von der vermeintlichen Niedertracht Ginevras zur schmerzlichen Eruption bringt. Brilliant die Register- und Tempiwechsel. Ergreifend die dramaturgisch geistvollen beiden Pausen, die der zum theatralischen Gestus neigende Petrou jeweils einige Sekunden länger hätte gewähren lassen können. Momente, die die Determination des Lebens wie die Hoffnung auf metaphysische Grenzüberschreitung zum greifbaren Erlebnis werden lassen.

Fagiolis Kunst, vokal wie mimisch, bringt den bis dahin stärksten Szenenapplaus beim äußerst disziplinierten Publikum im Konzerthaus hervor. Es ist wahrlich keine üble Idee, die einzige Pause dieser Aufführung nach Scherza, infida anzusetzen, wobei die betörende Arie manchen Besuchern hinreichend Stoff bietet, ihre Händel-Expertise abzugleichen.

Die Typologie des Sängerensembles - die im Original enthaltene Rezitativrolle des Odoardo ist wie der Chor ausgespart - sieht sechs sehr unterschiedlich gefasste Charaktere vor, was sich auch in den stimmlichen Partien manifestiert. Mélissa Petit beweist schon mit ihrer Auftrittsarie Vezzi lusinghe Format und ihre hohe Affinität zur Barockmusik. Sie beeindruckt durch lyrische Empfindsamkeit und makellose Intonation. Eine Entdeckung ist die Mezzosopranistin Luciana Mancini in der Rolle des abgefeimten Polinesso. Technisch spektakulär und gekonnt in den disruptiven Sprüngen an der Abrisskante der Mittellage pointiert sie ihre Qualität in ihrer Arie Spero per voio im ersten und ganz besonders in der Aria Dover, giustizia, amor im dritten Akt, in der sich der Herzog gegenüber dem König zum Verteidiger dessen Tochter aufschwingt.

Alex Rosen ist dieser König mit einem energischen Auftritt. Sein eleganter wie kerniger Bass hat das Zeug, noch lange nach der Aufführung in der Erinnerung mitzuschwingen. Dazu tragen auch die beiden pompös klingenden Naturhörner bei, die in Voli colla sua tromba Rosens Botschaft an Ariodante, er werde Thron und Tochter erhalten, machtvoll begleiten. In royaler Attitüde preist er in seiner Arie Dover, giustizia, amor die Tugenden, die den Ruhm begründen. Und in Rezitativen seine Tochter als „Herz meines Herzens“ und ihren „Adel der Seele“ (Alma Reale). Diesem möchte der staunende Zuhörer das Prädikat „Adel der Musik“ hinzufügen.

Vorzügliche Besetzungen finden sich weiterhin mit Sarah Gilford als Intrigenopfer Dalinda, die ihre Verwundbarkeit schon früh in der Arie Apri l luci,e mir anrührend bekundet, sowie Nicholas Phan als Lurcanio. Sein Einfluss auf die Handlung wächst wie die Präsenz seiner berückend fließenden Tenorstimme von Akt zu Akt. Mit dem Duett Diete spera, e son contento im dritten Akt schenkt Händel den beiden, die schlussendlich aus dem Drama als Liebespaar hervorgehen, quasi ein Hochzeitsgeschenk. Sie machen in wundervoller Innigkeit gleichsam die vokale Schleife darauf.

Das Publikum in der für ein Angebot der Barockmusik ansprechend besetzten Philharmonie überschüttet alle Akteure, die an den Pulten wie die Instrumentalisten und ihren Dirigenten, mit Beifall und Bravi-Rufen. Fagioli und die anderen Künstler halten ihre Präsenz jetzt relativ kurz. Weitere Auftritte warten.

Dr. Ralf Siepmann 

Copyright: Julian Leidig

 

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