Theater an der Wien: Weinbergs „Der Idiot“ als faszinierende, aber etwas langwierige Rarität

Xl_idiot-weinberg-wien-rittershaus-4-23-1 © Monika Rittershaus

Die 2010 bei den Bregenzer Festspielen gespielte Oper "Die Passagierin" (Dirigent war Teodor Currentzis, Regisseur: David Pountney), 2016 im Theater an der Wien, 2020 auch in Graz und 2022 in Innsbruck zu erleben, bewirkte eine Wiederentdeckung des 1919 in Polen geborenen, sowjetischen Komponisten Mieczysław Weinberg ein, dessen tragische Biographie allein schon fasziniert. Beim Überfall Deutschlands war der Jude Weinberg aus Warschau nach Osten geflohen, erst Minsk, dann Taschkent, um sich dann in Moskau niederzulassen. Zuletzt geriet er doch noch in die Fänge des Stalin-Regimes und wurde interniert, nur der Tod des Diktators rettete sein Leben. 1986 vollendete er seine letzte Oper „Der Idiot“, die er seinem Leidensgenossen der Stalinära, Freund und Förderer Dimitri Schostakowitsch widmete und die zuerst nur in einer Kammerversion 1991 in Moskau aufgeführt wurde. In der Originalversion wurde sie nach Weinbergs Tode, er starb 1996, erst 2013 in Mannheim uraufgeführt. Es ist ein Werk, das zu Unrecht so selten aufgeführt wird. Eine Rarität, die man sehen sollte, dachte sich auch die Intendanz des Theaters an Wien und führt das Musikdrama nun auf seiner Ausweichbühne im Wiener Museumsquartier auf.

Die Oper ist jedoch alles andere als leichte Kost. Das ist vor allem auf die doch sehr seltsame Geschichte zurück zu führen.Als Vorlage diente dem Komponisten und seinem Librettisten Alexander Medwedew der gleichnamige Roman von Fjodor Dostojewski. Ein weit mehr als 900 Seiten starkes Kaleidoskop über die sprichwörtliche „russische Seele“, die eine völlig zerklüftete Seelenlandschaft der vielen Figuren zeigt. Trotz einer komprimierten Fassung von Weinberg bringt es die Oper immerhin auf eine Spielzeit von knapp vier Stunden (inklusive Pause).

Es geht um den jungen, labilen, unter anderem an Epilepsie leidenden Fürst Myschkin, der von seinem mehrjährigen Sanatoriumsaufenthalt in der Schweiz in die russische Heimat nach St. Petersburg zurückkehrt. Im Zug freundet sich er sich mit dem reichen, skrupellosen Kaufmannssohn Rogoschin an, der seinerseits von der Edelkurtisane Nastassja besessen ist. Auch der aufopferungsvolle Myschkin, der es allen recht machen will, verfällt dieser Frau, will aber die brave, großbürgerliche Aglaja, Tochter eines Generals heiraten. Doch dazu kann er sich auch nicht durchringen. Nach und nach entwickelt sich zwischen diesen Personen – es gibt viele weitere – ein Abhängigkeitsverhältnis. Rogoschins Brutalität richtet sich auch gegen sich selbst, er ritzt sich ständig mit einem Messer die Unterarme und ermordet zum Schluss Nastassja. Letztlich befinden sich die Überlebenden auf dem Abstellgleis des Lebens.

Diese erste Szene der Oper wird bei Regisseur Vasily Barkhatov zum Zentrum des Geschehens: Immer wieder sieht man den engen Waggon, der einzige Schauplatz der Handlung (Bühne: Christian Schmidt), bei dem eine Schneelandschaft vorüberzieht, der durch Veränderungen mittels Drehbühne mit blitzenden Lichteffekten rasche Szenenwechsel ermöglicht. Denn diese erste Szene wird mit kleinen Abweichungen mehrmals wiederholt. Es ist der surreal geprägte Kreislauf von Leidenschaft, Gewalt und Geldgier. Sie wird auch zur Metapher für die Unbehaustheit der Protagonisten. Alle sind irgendwie entwurzelte Getriebene. Die Personenführung ist ungemein detailliert und mitreißend. Faszinierend dabei ist, mit welch‘ eigentümlichen höchstpersönlichen Charaktereigenschaften jede einzelne Figur gezeichnet ist.

Die Musik ist voll Leitmotiven und geprägt durch einen intensiven spätexpressionistischen Stil: Packend, bohrend, grell sind die Klänge, vor allem mit saftigem Blech. Die dramatische Wucht, der expressive Grundton sind geradezu körperlich präsent. Genauso leitet sie der Weinberg-Spezialist und Dirigent der Uraufführung von Mannheim Thomas Sanderling im exzellent disponierten ORF Radio - Symphonieorchester Wien: Bohrend sind die Wiederholungen, dramatisch grell die Steigerungen, zart so manche Traumsequenz.

Fabelhaft wie immer ist der Arnold Schoenberg (Männer) Chor und exzellent sind uneingeschränkt alle Solisten: Der Tenor Dmitry Golovnin ist ein extrem leidender, vokal höhensicherer und intensiver Fürst Myschkin, eine Lichtgestalt, die alle retten will. Der Bassbariton Dmitry Cheblykov ist ein Idealtyp des brutalen Rogoschin und singt ihn kernig sowie kontrolliert ruppig. Er sorgt aber im letzten Akt für die schönsten Töne des Abends. Die Sopranistin Ekaterina Sannikova gibt eine exzellente, expressive Nastassja.  Ieva Prudnikovaité als Aglaja ist ihre wunderbar singende, ebenbürtige Gegenspielerin. Petr Sokolov ist ein omnipräsenter, kommentierender und intrigierender Lebedjew. Valery Gilmanov hört man etwas derben General JepantschinMihails Culpajevs überzeugt als höhensicherer Ganja. Auch das übrige Ensemble ist bis in die kleinsten Partien ideal besetzt.

Letztlich fühlt man sich jedoch etwas von der Länge der Aufführung erdrückt.

Jubel für alle Beteiligten!

Dr. Helmut Christian Mayer

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