Janaceks "Jenufa" in Berlin: In der Eiseskälte der Gefühle und des Schicksals

Xl_jenufa-berlin-stream-2-21-4 © Bernd Uhlig

Nachdem sie den Mord am Kind gestanden hat, sitzt die Küsterin verzweifelt in diesem gezackten Loch in der Bühnenmitte, wo das tote Kind zuvor geborgen wurde. Tropfen fallen von oben ständig auf ihren Kopf und Körper herab. Sie stammen von einem gewaltigen Eisfelsen, der sich im Laufe des Abends immer mehr von oben herabgesenkt hat. Eis ist das zentrale Element in der Inszenierung von Damiano Michieletto bei der Neuproduktion von Leoš Janáček Jenufa“ (tschechisch: „Její pastorkyňa“, „Ihre Ziehtochter“) an der Berliner Staatsoper unter den Linden, die jetzt ohne Publikum Premiere hatte aber gestreamt wurde. Dieses Symbol für die Gefühlskälte ist von Anfang an omnipräsent: Denn fernab eines ländlichen, mährischen Dorfmilieus des 20. Jahrhunderts strahlt schon der abstrakt-moderne, vorne offene Kubus mit nur einigen Bänken, einem angedeuteten Altar und den milchigen Vorhängebahnen (Bühne: Paolo Fantin) und der entsprechenden Beleuchtung eine Eiseskälte aus. Als Stewa bei seinem Erstauftritt betrunken nach Hause kommt, schleppt er gleich einen ganzen Eisblock mit, den er mit einem Messer im wilden Zorn schließlich zerstückelt. Oder wenn die Küsterin nach Ablegen des Kindes in einem Eisloch wieder zurückkehrt, hält sie auch Eisbrocken in ihren Händen. Vielleicht ein bisschen zu viel der eisigen Hinweise, damit auch wirklich jeder weiß, worum es hier geht. Die Oper erzählt neben der Kälte in ihrer dramatischen Intensität auch von Leidenschaft, Eifersucht, Leichtsinn, Trunksucht und unerschütterlicher Liebe. Aber der italienische Regisseur greift bei dieser, der dritten Oper des tschechischen Komponisten, eines der packendsten und genialsten Musikdramen des 20. Jahrhunderts, aufgeführt in tschechischer Originalsprache, auch noch zu weiterer Symbolik: Da ist einmal der im Libretto vorkommende Rosamarin-Topf als Sinnbild für Glück, der von der Titelheldin zuerst intensiv gepflegt aber schließlich von ihr ausgerissen wird. Und da ist die gestrickte rote Wolldecke für das Baby mit dem immer wieder kehrenden roten Faden. Ideenreichtum und eine präzise, teils exzessive und drastische Führung der Personen, die in überwiegend dunkle Kostüme aus den 70-er Jahren (Carla Teti) gesteckt sind, und scharf gezeichnete Charaktere sind auch die Verdienste des Regisseurs. Ohne Überfrachtung wird die Geschichte klar, verständlich und nachvollziehbar präsentiert. Erst zum Finale lässt Michelietto als Hoffnungsschimmer die warmen Strahlen der Sonne im Hintergrund scheinen, auf die Jenufa und Laca langsam zugehen.

Mit einem hochgeschlossenen, schwarzen, puritanisch wirkenden Kostüm, aufrechten Ganges, unerbittlich und streng: So erscheint die Küsterin und bereitet dem ausgelassenen Fest ein jähes Ende. Evelyn Herlitzius ist eine atemberaubende, intensive Küsterin, eine Singschauspielerin ersten Ranges. Sie singt sie kühl und scharf wie ein Diamant, hochdramatisch in ihren Ausbrüchen und regelrecht zum Fürchten. Ausdrucksstark, reich an Farben, innig, dann wieder exzessiv so erlebt man bei ihrem Rollendebüt Camilla Nylund in der Titelpartie. Sie ist eine Jenufa, die manchmal lyrisch kindlich, dann wieder als große Verzeihende zu erleben ist. Vor allem im Gebet und ihrem Schlussgesang ist sie exzellent. Stuart Skelton gibt einen höhensicheren, kraftvollen Laca meist in stumpfer Verzweiflung verharrend.Der Stewa des Ladislav Elgr ist sehr viril, klingt in der Höhe allerdings etwas angestrengt. Für die alte Buryia ist immerhin Hanna Schwarz aufgeboten mit einer sehr guten Leistung. Reizend ist die Karolka von Evelin Novak, souverän sind Jan Martiník als Altgesell und David Oštrek als Richter. Nicht immer ganz eines Sinnes aber geballt, hört man den Staatsopernchor, der überwiegend vom Zuschauerraum aus verteilt singt.

Sir Simon Rattle am Pult gilt bereits als ein ausgewiesener Janáček-Experte, der schon die Premieren von „Aus einem Totenhaus“ und „Katja Kabanowa“ begleitete. Man merkt jede Sekunde eine große Affinität zu dieser starken Musik. Fast obsessiv verbohrt sich der britische Dirigent in den Detailreichtum der Partitur. Er liefert mit dem großartig aufspielenden Staatskapelle Berlin eine unglaubliche Farbenpracht, einen brennenden Spannungsreichtum und herrliche lyrische Bögen, die ihresgleichen suchen.

Einmal mehr sehnt man sich diesmal auf eine Live-Aufführung!

Dr. Helmut Christian Mayer

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