Das Musical "The Wave" als Uraufführung in Linz: Ein beinahe verhängnisvolles Experiment

Xl_wave-linz-3-21-1 © Reinhard Winkler

Es war 1967, da wollte ein engagierter aber ziemlich unkonventioneller Geschichtslehrer namens Ron Jones an einer High School in Palo Alto, Kalifornien, seine Schüler über totalitäre Regimes, wie den Nationalsozialismus oder die Stalin-Ära unterrichten. Da er jedoch bei seinen Schülern auf Unwissen und Unglauben stieß, dass ein solches System heute noch möglich wäre, begann er zuerst mit ein paar scheinbar unverfänglichen Vorgangsweisen, die jedoch auf Disziplinierung und Gleichschaltung sowie elitäres Selbstbewusstsein abzielten, in der Klasse zu experimentieren. Doch schneller und extremer als er es sich hätte vorstellen können, gelang es ihm, seine Klasse zu einer quasi faschistischen Gemeinschaft zu formen. Ohne sein Zutun schlossen sich noch Schülerinnen und Schüler aus anderen Klassen an. Bald grüßten sie sich mit dem von Jones angeordneten „Third Wave“ Armzeichen und begannen, sich aggressiv gegen Nichtteilnehmer an dieser „Bewegung“ zu verhalten. Fast zu spät wurde dem Lehrer sein pädagogisch-psychologisches Experiment unheimlich und er beeilte sich, es abzubrechen.

Darüber verfasste Ron Jones eine Kurzgeschichte unter dem Titel „The Third Wave“, die er 1972 veröffentlichte. Johnny Dawkins erstellte daraus das Drehbuch für den US-amerikanischen Fernsehfilm aus 1981 in der Regie von Alex Grasshoff. 2008 erschien eine Neuverfilmung als deutscher Kinofilm. Jetzt entstand daraus ein Musical von Or Mathias, Mitarbeit an der Original-Konzeption und Consulting Chloe Treat, Deutsch von Jana Mischke, dessen Uraufführung nun am Landestheater Linz allerdings nur im Stream und ohne Publikum stattfand.

Die Musik von Or Mathias klingt zwar manchmal etwas trivial, kann sich jedoch von den heute üblichen flachen Musical-Idiomen deutlich distanzieren. Anreize erhält sie überwiegend vom Jazz der 1950er Jahre, aber auch Anklänge an Kurt Weill sind zu vernehmen. Unter der Leitung von Juheon Han, der auch die Keyboards bedient, wird sie von der siebenköpfigen Band mit Drive und Spannung umgesetzt.

Die Entindividualisierung der Schüler mit allen Konsequenzen wird von Christoph Drewitz in einem sich drehenden Glaskubus mit Schiebetüren und verschiedenen Räumen sehr lebendig, nachvollziehbar sowie emotionsreich im Heute in Szene gesetzt. Störend am Text ist jedoch das extrem norddeutsch ausgeprägte Idiom. Die Figuren sind alle charakterlich gut gezeichnet und auch als Sänger gut besetzt. Christian Fröhlich ist ein dynamischer und lässiger Lehrer Ron. Hanna Kastner ist die brave, aber dann auch glaubhaft standhafte Ella, die als einzige aus dem Experiment aussteigt. Celina dos Santos ist die korrumpierbare Jess. Lukas Sandmann als Robert demonstriert erschreckend die Wandlung vom „Underdog“ zum Fanatiker, sobald er durch das Regelsystem die Macht bekommt, seinen angestauten Frust an anderen auslassen zu können. Tadellos auch Samuel Bertz (James), Malcolm Henry (Stevie) und das gute Ensemble der nach und nach dazukommenden Anhänger. 

Dr. Helmut Christian Mayer

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