Bernsteins: „Candide“ am Theater an der Wien als völlig überzogene, schrille und grelle Revue

Xl_candide-_c_werner_kmetitsch-wien-1-24-1 © Werner Kmetitsch

Am besten kennt man noch die Patchwork - Ouvertüre, durch die die wichtigsten Themen des Werkes jagen, aber sonst ist „Candide“ von Leonard Bernstein dem breiten Publikum nahezu unbekannt. Und man kann eigentlich nicht verstehen, warum? Denn dieses musikalische Drama, ob es sich dabei um eine Oper, ein Musical oder eine komische Operette handelt, ist letztlich egal, enthält eine funkelnde Partitur mit glutvoller Musik und mitreißenden Ohrwürmern. „Es war, als hätten sich Gioachino Rossini und Cole Porter zusammengetan, um Richard Wagners Götterdämmerung neu zu arrangieren“, schrieb der erste Regisseur von Candide. Bernstein nannte das Werk selbst eine „komische Operette“. Oberflächlich betrachtet mag dies auch zutreffen, viele aber meinen, Candide ist eine kunstvolle Opernparodie. Heute wird das Werk dem Genre Musical zugeordnet. Es ist ein reizvolles und unterhaltsames Stück, das sich mit ernsten Dingen beschäftigt und das formal sowohl Elemente der großen Oper als auch des Volkstheaters und des Musicals enthält.

An musikalischer Virtuosität übertrifft die Partitur alles, was je zuvor am Broadway zu hören gewesen ist. Und dabei war die Uraufführung 1956 in New York Bernsteins einziger Misserfolg, denn der Broadway war von dem intelligenten Stück, bei dem man sich doch etwas in Musikzitaten und in der Musikgeschichte zurechtfinden sollte, heillos überfordert.

Jetzt wurde die etwas wirre Geschichte des trotz der unzählig hereinbrechenden Katastrophen wie Erdbeben, Krieg, Autodafé, Schiffbruch immer noch unverbesserlichen Optimisten, die auf den Roman „Candide, ou l’optimisme“ von Voltaire zurückgeht, im Theater an der Wien aufgeführt. Alles beginnt im Schloss eines westfälischen Barons, wo Candide sich die Lektionen des Meisters Dr. Pangloss zu Herzen nimmt, bis er wegen verliebter Vertraulichkeiten mit Cunegonde, der Tochter des Hauses, verjagt wird. Leichtfertig hat Candide seinem Lehrer Pangloss geglaubt, dass die Welt absolut gut sei und alles Geschehen unausweichlich zum besten Ende führen werde. Nun wird er rastlos mit wechselndem Glück von einem Land zum anderen getrieben, lernt Machtgier und Grausamkeiten kennen, erlebt Krankheit und Schiffbruch und muss sich an die Alltäglichkeit von Diebstahl, Vergewaltigung und Mord gewöhnen. Einfallsreich hält das Musical die skeptische Frage wach: Wenn dies hier die beste aller Welten ist, wie sehen dann erst die anderen aus?

Musikalisch erlebt man Bernstein vom Feinsten! Denn es ist ausgesprochen erfreulich, mit wie viel Stilsicherheit und Geschmack sich dabei das ORF-Radiosymphonieorchester Wien und der äußert homogen singende Arnold Schoenberg Chor unter Marin Alsop, die einst eine kompetente Bernstein Schülerin war, der Partitur, die die Zeiten durcheinanderwirbelt und von einem Stil zum anderen springt, widmet. Stark auch mit welch mitreißendem Verve und rhythmischer Exaktheit das Werk umgesetzt wird.

Exzellent sind auch die Sänger, die mit viel Humor dabei sind: Allen voran eine komisch gestaltende Nikola Hillebrand (Cunegonde) mit Brillanz, bombensicheren Koloraturen und perfektem Schöngesang vor allem in dem Hit „Glitter and Be Gay“. Matthew Newlin (Candide) überzeugt mit sicherem und kultiviertem, warmem Tenor. Bei Helena Schneiderman (als schrullige Old Lady) brilliert der Witz. Ben McAteer als Dr. Pangloss ist mit wirrem Haar à la Einstein ausgestattet. Er singt ihn kernig und souverän. James Newby (Maximilian) wirkt eher blass. Dezent serviert die Geschichte auf Englisch der sonorn Erzähler Vincent Glander. Ohne diesem fiele es dem Publikum schwer, die geographischen Sprünge nachzuvollziehen.

In der Inszenierung von Lydia Steier fehlt die feine Klinge gänzlich. Der Plot wird mit großem Aufwand in knallbunten Phantasiekostümen (Ursula Kudmas) als grelle, schrille und völlig überzogene und überspitzte Revue gezeigt. Dazu tragen auch die vielen Tanznummern mit einem grotesken Figurenkabinett bei, von Geistlichen, von Toreros, die kurze Höschen mit Bildern der Gottesmutter tragen. Getanzt wird auch, nachdem beim Autodafé einige Gehängte in der Höhe herumzappeln. Das parodistische Element dominiert, zudem werden ständig Sexpraktiken in allen möglichen Varianten sehr direkt gezeigt. Cunegonde treibt es zeitweise mit gleich vier Freiern gleichzeitig, noch dazu, wenn sie ihre Bravourarie singt. Der Gouverneur von Buenos Aires (Mark Milhofer) beglückt sich mit einem Lustspielzeug oder lässt sich von Cunigunde mit einem Dildo befriedigen. Und all dies spielt sich in vier Varieté-Rahmen mit Lämpchen (Bühne: Momme Hinrichs) ab. Die Ideen sprudeln nur so und werden ständig auf die Spitze getrieben.

Es ist eine Produktion, die das Publikum zu Begeisterungsstürmen hinriss.

Dr. Helmut Christian Mayer

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