© Matthias Baus
Gleich zu Beginn stürzt Alice von ganz oben spektakulär in einem durch Licht simulierten Schacht eines Kaninchenbaus ins Bodenlose. Dort trifft sie das stets gehetzte, weiße Kaninchen, landet dann mit seltsamen Tieren im Tränenmeer. Sie erhält einen Rat von der Raupe, nimmt an einer Teeparty des verrückten Hutmachers teil und wird von der Herzkönigin, die am liebsten alle köpfen lassen will, vor Gericht gestellt: Das ist die Handlung der Oper „Alice in Wonderland“, die mit einem Traum beginnt und endet. Librettist David Henry Hwang folgt in den acht Szenen weitestgehend der Handlung des berühmten Kinderbuchs von Lewis Carroll und veränderte nur den Schluss in eine Traumszene, in der Alice Blumen sät, die sich in ein strahlendes Licht verwandeln. Das Stück wurde von Unsunk Chin, einer Schülerin von György Ligeti und 2024 mit dem Ernst von Siemens Preis ausgezeichnet, vertont und 2007 in München erfolgreich uraufgeführt, wobei die Frage „Wer bin ich?“ zum zentralen Element wird. Jetzt erlebt der Opernerstling der koreanischen Komponistin am Theater an der Wien, das soeben als Opernhaus des Jahres ausgezeichnet wurde, seine österreichische Erstaufführung.
Dieses Wunderland ist eine Traumwelt, wo alle Gesetze aufgehoben sind. Und zugleich eine spielerische, verrückte Welt, in der alles möglich ist. Alices Begegnungen werden von Regisseurin Elisabeth Stöppler fernab von allem Märchenhaften in surrealen, teils absurd verwirrenden, teils spektakulären Traumbildern ideenreich gezeigt. Sie greift die Traumlogik des Werkes auf und erzählt die Geschichte als Panoptikum der entfesselten visuellen Fantasie. Zu sehen gibt es mehr als genug: Man delektiert sich an den einfallsreichen Kostümen und Masken von Su Sigmund und der Bühne von Valentin Köhler, einer Kunstwelt mit einer anfänglich grünen Hügellandschaft, einem Spiegellabyrinth und einer drehbaren Scheibe.
Unsuk Chin hat keinerlei Hemmungen, die verschiedensten Stile zu benutzen: Ihre teils extrem klangfeine, oft kammermusikalische Musik entzieht sich bewusst allen stilistischen Einordnungen und stellt stattdessen Klangfarbe, Licht und Traum in den Mittelpunkt. Herrlich das sechsminütige Bassklarinettensolo der Raupe (Teresa Doblinger). Chin spielt mit den musikalischen Formen von der Opernarie über reine Geräusche bis zum puren Klangchaos gibt es alles.
Als Alice, der auch ihr eigenes Kinder-Ich beigegeben ist, imponiert die Isländerin Álfheiður Erla Guðmundsdóttir mit exzessiven Intervallen und kaum singbaren Höhen. Die Herzkönigin wird von Mandy Fredrich expressiv gesungen. Artistische Gesangsleistungen vollbringen meist in mehreren Rollen der exzessive Countertenor Andrew Watts, der auch schon bei der Münchner Uraufführung und weiteren Produktionen dabei war (Weißes Kaninchen), Ben McAteer (Verrückter Hutmacher) und Juliana Zara (Grinsekatze), wie auch Marcel Beekman, Helena Rasker neben einigen anderen. Homogen und spielfreudig wie immer der Arnold Schoenberg Chor wie auch die Gumpoldskirchner Spatzen.
Dirigent Stephan Zilias gelingt mit hervorragenden Musikern des ORF-Radiosinfonieorchester Wien mit reichem Schlagwerk eine fantasievolle und die Traumatmosphäre treffende exzellente Interpretation der diffizilen Partitur.
Großer Jubel auch für die anwesende Komponistin!
Dr. Helmut Christian Mayer
20. November 2025 | Drucken

Kommentare