Bonn – Ein liebender Kaiser und die Macht der Poesie

Xl_9a56b456-c08a-4a72-adb0-9f52eafb0aac © Thilo Beu

Bonn – Ein liebender Kaiser und die Macht der Poesie

Clemens von Franckenstein LI-TAI-PE Besuch am 22. Mai 2022 (Premiere) Theater Bonn

Zum Beethoven-Jubiläum 2020/2021 Lenore 40/45 von Rolf Liebermann.Jüngst Giacomo Meyerbeers Ein Feldlager in Schlesien. Und jetzt Clemens von Franckensteins dreiaktige Oper LI-TAI-PE, 1920 in Hamburg uraufgeführt. Mehr als 20 Jahre eine Herzensangelegenheit eines nach dem Schrecken des Krieges an purer Unterhaltung interessierten Publikums. Die jüngsten Produktionen des Theaters Bonn im Rahmen seiner Reihe Fokus ’33 zu Werken des Musiktheaters, die unter dem NS-Regime aus den Spielplänen verschwinden und nach dessen Ende dort auch nicht wieder auftauchen, haben eines gemeinsam. Die Werk- und Rezeptionsgeschichte ist mindestens so interessant, wie es die Stücke selbst sind. So auch bei der im China des achten Jahrhunderts spielenden Geschichte des legendären Dichters, der vom Volk geliebt und vom Kaiser belohnt wird, nachdem er diesem zur Erfüllung seiner Liebessehnsucht verholfen hat.

Von Franckenstein ist in der Musikszene als Generalintendant des Münchner Theaters, später des Hoftheaters, bekannt. Die Machtübernahme durch die Nazis führt 1938 zu seiner Demission, nachdem er Josef Goebbels eine eindeutige Ergebenheitserklärung in der Frage des Verbleibs des Deutschen Reichs im Völkerbund verweigert. Von Franckenstein wird nicht, wie der Bonner Operndirektor Andreas K. W. Meyer, Initiator von Fokus ’33 betont, verfemt, seine Musik nicht verboten. Nach 1945 habe sich dieser Umstand eher als Makel herausgestellt. Tatsächlich tauchen die zahlreichen Kompositionen des gläubigen Katholiken Franckenstein, der während der NS-Herrschaft die „innere Emigration“ wählt und 1942 in Hechendorf stirbt, im Musikleben nicht wieder auf. Seine in Noten dokumentierte China-Schwärmerei jetzt erst wieder, rund 80 Jahre nach ihrem Verschwinden von den Bühnen. Dank der Bonner Initiative.

Das Libretto des jüdischen Journalisten und Dramatikers Rudolf Lothar, der allein vier Textbücher für Eugen d’Albert, darunter für Tiefland, verfasst, ruft eine Episode aus der Tang-Dynastie (618-906) in Erinnerung. Der Dichter Li-Tai-Pe, Lebenskünstler und dem Wein verfallener bon vivant, fällt am Hofe des Kaisers Hüan-Tsung fast einer Intrige zum Opfer. Sie wird vom Ersten Minister Yang-Kwei-Tschung und dem Kommandanten der Garden Kao-Li-Tse eingefädelt. Beide wollen sich an Li-Tai-Pe rächen, weil sie ihm in einem Wettbewerb um das schönste Liebesgedicht unterlegen sind, das der Kaiser einsetzt, um die Liebe der koreanischen Prinzessin Fei-Yen zu gewinnen. Yang-Gui-Fe, ein Mädchen aus dem Volke, liebt den Dichter. Als Page verkleidet, greift es entscheidend in die Handlung ein und offenbart Bestechungsaktionen der Intriganten. Diese werden auf Intervention der Prinzessin in die Verbannung verdammt. Als Lohn für die erfolgreiche Liebeswerbung des Herrschers wünscht sich Li-Tai-Pe Freiheit an der Seite von Yang-Gui-Fe und kostenlosen Wein auf Lebenszeit. Es gebe in ihrer Inszenierung China zweimal, beschreibt die Regisseurin Adriana Altaras ihre Grundeinstellung zum Stück. Einmal das alte China der Kaiserzeit, zum anderen das heutige China. „Wir bringen beides auf die Bühne, und die Reibung dazwischen ist das Interessante.“ Das erste Bild lässt die aus Kroatien stammende Tochter ehemaliger jüdischer Partisanen, Autorin sowie Schauspielerin insbesondere in Filmen von Rudolf Thome, in einer heutigen Straße von Verkaufsständen, kleinen Märkten und Garküchen mit der Skyline einer Stadt wie Shanghai spielen. Die „Taverne in Sichtweite von Peking“ aus dem Libretto ist in Christoph Schubigers Bühnenbild in ein quirliges Menschengewimmel verwandelt. Straßenhändler bieten Singvögel und Mädchen mit hochgeschlitztem Rock ihre Dienste an. Ein Fahrrad wird unter freiem Himmel repariert. Ständig tauchen Essstäbchen in allerlei Kulinarisches ein. Die bunten Kostüme Nina Lepilinas unterstreichen die Bilderbuchszene eines exotischen Alltags. Die bekannte Kulisse des Parteitags der KP Chinas mit Hammer- und Sichelinsignien ersetzt den Thronsaal des Kaisers im zweiten Bild. Die steil aufsteigenden Tribünen bieten den Akteuren vielfältige Optionen, sich zu positionieren oder zum Kotau vor dem Regenten. Aus der Höhe kündet auch der Herold in Gestalt des markigen Martin Tzonev von der Schwermut, in die der Kaiser „auf seinem goldenen Drachenthron“ versunken ist. Das Finale der Oper, im Libretto gedacht vor dem Kaiserlichen Palast „der tausend Glöckchen“, spielt wieder in der Welt der Garküchen und Minimärkte, womit der Bogen dieser Zeitreise bis in die Gegenwart geschlagen wird.

Die „Reibung dazwischen“, die die Regisseurin versprochen hat, stellt sich freilich partout nicht ein. Was es aber in Hülle und Fülle gibt, sind wahllos ausgestreute Stereotype der chinesischen Hoch- und Alltagskultur. Vom Drachen über starre Gesichtsmasken, die in diesem Fall nichts mit Corona zu tun haben, rot leuchtende Lampions, sich in Tai Chi-Posen bewegende Arbeiterinnen bis hin zu den vier Mandarinen, die auf dem schmalen Grat zwischen gekonnter Karikatur und bloßem Klamauk trippelnd unterwegs sind. Auch mit Kochgeschirr lärmend im Parkett, was freilich das Publikum amüsiert. Tae-Hwan Yun, Alexander Kalina, Juhwan Cho und Ricardo Llamas Marquez spielen ihre Rollen als subalterne Minister mit Wonne.

Das Beethoven Orchester Bonn unter der musikalischen Leitung von Hermes Helfricht hat mit Franckensteins Partitur keinerlei Mühe. Im Gegenteil. Was aus dem Orchestergraben aufsteigt, auf der Grundlage einerseits einer spätromantischen und post-wagnerianischen Kompositionstechnik sowie anderseits eigener satztechnischer und harmonischer Elemente, die auf kommende Stilrichtungen hinweisen, erfüllt durchaus opulente Ansprüche. Etliche Sequenzen legen Franckensteins Aufgeschlossenheit für die Operette nahe. Es gibt überdies Anklänge an Giacomo Puccinis Madama Butterfly von 1904 und vor allem Ariadne auf Naxos von Richard Strauss, acht Jahre zuvor uraufgeführt, teils epigonal, teils in verblüffender Variation. Die Opulenz der Musik unterstreichen auch Chor und Extrachor in der Einstudierung von Marco Medved.

Franckenstein schenkt dem auftrumpfenden Ensemble einen prächtigen Eingangschor und ein noch prächtigeres Finale. Mit Ich fahr auf meinem Schiffe hinab den Strom wird das Liebes- und Preislied des Dichters noch einmal hymnisch aufgegriffen. Der Bogen schließt sich. Diesen Dichter, den Poeten wie den Trunkenbold, der sich auch als ein Bruder des Falstaff begreifen lässt, interpretiert Mirko Roschkowski mit Spielwitz und raumgreifender Stimme, nur dass er eben in einer anderen Lage singt. Sein Tenor ist ausdrucksstark, flexibel im Parlando und strahlend in der Höhe. Keine 48 Stunden nach seinem prominenten Auftritt als Fernand Cortez in Gaspare Spontinis heroischer Oper in Dortmund macht er die Partie des Li-Tai-Pe zu seiner Rolle, indirekt in den Spuren großer Vorgänger. Julius Patzak etwa gestaltet den Part 1930 in einer Münchner Aufführung. Anna Princeva hat große Auftritte als Darstellerin der Yang-Gui-Fe, die in der Verkleidung als Page die Geschichte in Richtung happy end wendet. Ein Höhepunkt ist Einsam steht und regungslos an des Stromes Ufer, das strophige Lied über den Kormoran, das der Komponist auch als Orchesterlied veröffentlicht hat. Vorzüglich harmoniert sie im Liebesduett mit Roschkowski. Ihre berührende Performance wird leider durch ein gegen Ende zunehmendes Vibrato geschmälert, das strukturelle Gründe haben mag.

Mit dem Bariton Joachim Goltz, Gast vom Theater Mannheim, ist die Partie des Kaisers blendend besetzt, zumal er seine Affinität zur Operette voll und ganz einbringen kann. So seine Erfahrung als Graf Danilo in Die lustige Witwe. Giorgos Kanaris macht seine Rolle als Ho-Tschi-Tschang, Doktor der Kaiserlichen Akademie, sichtlich Spaß. Tobias Schabel als Erster Minister und Johannes Mertes als Kommandant der Garden verkörpern ihre mit Komik gespickten Rollen als Intriganten und verhinderte Poeten famos. Kieran Carrel als Wirt und Pavel Kudinov als Soldat arrondieren das Tableau der Sängerdarsteller bestens. Die Sopranistin Ava Gesell, Fei-Yen, genießt die Win-Win-Situation, die sich für die koreanische Prinzessin an der Seite des Kaisers ergibt, mit samtiger Innigkeit. Ihre Kantilene Über den Fluß, den silbernen Fluß, haucht leise der Wind, die mit dem Chor zum Himmel aufzusteigen scheint, gibt die musikalische Gesamtatmosphäre in nuce wieder. Zum Weinen schön.

Das Publikum reagiert begeistert, auch beim Auftritt des Regieteams. Das Stück wie das Konzept des Neuauffindens kommen an. Zeitversetzt senden WDR 3 am 19. Juni und Deutschlandfunk Kultur am 13. August eine Aufzeichnung der Aufführung. Später, wer weiß, wird man vielleicht von einem Neuanfang für Franckensteins Schöpfung sprechen.

Dr. Ralf Siepmann

Foto Copyright Thilo Beu

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