Der Kuss meines Inquisitors

Xl_fullsizeoutput_115a © Matthias Baus

Staatsoper Stuttgart

Giuseppe Verdi

Don Carlos

Premiere am 27. Oktober 2019  

Besuchte Aufführung: 8. November 2019

Die Staatsoper Stuttgart nimmt sich zum Spielzeitbeginn mit Verdis fünfaktiger (1867) für Paris geschriebener Grand Opera Don Carlos schwere Fracht vor. Sie wagt diese Neuproduktion mit fast ausnahmslos Debütanten in allen großen Gesangspartien. Selbst Massimo Giordano, der mit der Titelpartie schon zuvor vertraut war, singt diese hier zum ersten Male in der französischen Fassung.

Kein Don Carlos ohne eine Diskussion über die sieben vorliegenden Fassungen des Werkes. In Stuttgart entschied man sich für die fünfaktige Variante, einschließlich des Fontainbleau-Aktes. Dadurch wird der Abend einerseits sehr lang, fast fünf Stunden, andererseits wird der Hintergrund der tragischen Verstrickungen der handelnden Personen aus der Vorgeschichte erklärt, die man sonst nur aus der Inhaltsangabe erfährt und szenisch-dramatisch nicht miterlebt. 

Und dann die andere Gretchenfrage: wie halten wir es mit der für die Pariser Oper obligatorischen, auch von Verdi komponierten Balletteinlage? Generalmusikdirektor Cornelius Meister bringt Gerhard E. Winklers Pussy-(r)-Polka aus dem Jahre 2015 zur Aufführung. Ein Stück, das in aberwitzigem Taumel auch die Motive aus eben der von Verdi komponierten Ballettmusik aufgreift.

Die junge, erfolgreiche niederländische Regisseurin Lotte de Beer hat zusammen mit Christof Hetzer, der Bühne und Kostüme geschaffen hat, sowie Alex Brok, der die Lichtregie kreiert hat, die Neuinszenierung auf die Bretter gebracht. Die Szene wird dominiert durch eine sich drehende, riesige, geknickte Wand, den Keil. Dieser Keil dreht sich während des gesamten Abends mithilfe der Drehbühnentechnik und schafft seine eigene, trennende und tödliche Dynamik. Sie separiert die agierenden Menschen unablässig, keiner ist vor ihr sicher. Keiner weiß auch, wie sie in ihre tödliche Schwingung gesetzt wurde, keiner kann sie anhalten. Ein atemberaubendes Sinnbild der unkontrollierbaren gesellschaftlichen Auswirkung von individueller und egoistischer Machtausübung, die von verschiedenen Akteuren reichlich in diesem Werk betrieben wird. Lotte de Beer lässt uns am Schluss ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft zurück, vielmehr mit der Mahnung, dass sich auch heute und auch in der Zukunft diese Mechanismen alsbald zu wiederholen drohen. 

In der Handlung begegnet Carlos in Erwartung auf eine große Liebe Elisabeth, nur um schon in der ersten Begegnung mit ihr zu erfahren, dass diese seinem Vater Philipp versprochen ist. Philipp ist in den Mauern seiner Macht ein in Einsamkeit erstarrter scheinbar endlos mächtiger König, der in Eifersucht um seine jüngere Frau Eilsabeth sich seinem stolzen Gefolgsmann Posa anvertraut und diesen abhält, Carlos und Elisabeth nachzuspionieren. Mit all seiner Macht kann jedoch auch der König einer wiederum weiteren, höheren Instanz, der katholischen Kirche, personifiziert durch seinen Großinquisitor, nicht entkommen. Die Kirche fordert schließlich das Leben seines einzigen Vertrauten Posa und seiner Frau Elisabeth. 

Gezeigt werden Menschen, die durch Machtinstrumente kontrolliert und drangsaliert werden. Jeder Mächtige ist jedoch immer unweigerlich auch Opfer. Der Mahlstrom eines immer mehr aus der Kontrolle geratenden Gefüges verschont Niemanden. Der Keil mäht alle nieder. 

Die Einbeziehung von Kindern in verschiedenen Szenen treibt dieses Prinzip auf die Spitze. So spielen diese von ihrer Sozialisation geprägten Jungen und Mädchen in der Polka eine Ketzerverbrennung nach und nehmen schließlich durch die Ermordung von Karl V. in der Schluss-Szene dem Werk jede Aussicht auf eine Stimme der letzten Vernunft. Eine erschütterndes Bild, das einem das Blut in den Adern gerinnen lässt.

Szene und Kostüme sind in einer unbestimmten, eher heutigen Zeit verortet. Es geht dem Inszenierungsteam nicht um eine historische Aufarbeitung als vielmehr um das Aufzeigen der interdependenten Mechanismen der Macht, die auch heute gelten. Auch den Versuch der Bewusstseinserweiterung auf Gefahren, die aus der leichtfertigen Aufgabe von Freiheit - von der im Werk viel die Rede ist - entstehen können. 

Der Abend wird von einem grandiosen, überwiegend jungen Sängerensemble getragen, welches keinen Wunsch offen lässt. Der Kroate Goran Juric gibt keinen versteinerten, alten Philipp, sondern einen impulsiven Mann, der das Treiben um sich kopfschüttelnd begleitet oder trotzig auf den Tisch hauen kann. Umso bitterer sein unausweichlicher Kotau vor seinem Großinquisitor. Der durchsichtige, kerngesunde Bass vermag all die Schattierungen seines Leidensweges bei rundum eindrucksvoller Technik und perfekter Phrasierung zu vermitteln.

Olga Busuioc als Elisabeth ist eine Idealbesetzung. Den Entwicklungsweg von einer noch jungen Frau im ersten Akt über all die Erschütterungen und Herabsetzungen, die sie im Lauf der Handlung erfährt, vermag sie stimmlich unendlich differenziert umzusetzen. Die Herausforderungen von Technik und Kantilene sind gar kein Thema, so perfekt kommt ihr Gesang zur Geltung. Die Darstellung ihrer inneren Zerrissenheit in der großen Arie im letzten Akt gelingt tief bewegend.         

Ksenia Dudnikova ist Eboli. Mit ihrem ausdrucksstarken Mezzosopran und ihrer jugendlich-frischen Darstellung geht sie – wie schon Elisabeth – einen stimmlich und darstellerisch packenden Entwicklungsweg von einer leidenschaftlich nach Liebe und Anerkennung suchenden, noch unbekümmerten jungen Frau hin zu einer schuldbewussten, die Königin mit Philipp betrogenen Büßerin. Die feinnervige Personenregie der beiden Frauen unterstützt die Wirkung ihrer in Düsternis endenden Begegnung.    

Massimo Giordano als Don Carlos überzeugt mit seiner großen Stimme und makelloser Technik. Es wird immer eine Herausforderung bleiben, die stimmlich anspruchsvolle Partie mit dem darstellerischen Gegenbild eines gehemmten (einige wissenschaftliche Quellen sagen: geisteskranken), verzweifelt nach Anerkennung suchenden Charakters zu verbinden, ohne dass der Gesamteindruck relativiert wird. Giordano hat dieser Herausforderung durchwegs auf höchstem Niveau gerecht werden können.   

Björn Bürger gibt mit seinem durchsichtigen, schmiegsamen Bariton den ebenso geschmeidigen Politguerilla vom Dienst. Wir wissen nicht, für welche NGO oder Aktivistenkampagne er sich gerade engagiert. Er weiß es umso genauer, erst recht seine Umorientierung zum Hof als Zentrum der Macht, nachdem Philipp ihn zum Vertrauten erhoben hat.  Vom Kampfanzug mit Springerstiefeln zum perfekt gestylten, smarten Anzug - alles kein Problem. Die junge, sich entfaltende Baritonstimme Bürgers kommt – wie schon sein Wolfram im Amsterdamer Tannhäuser - eindrucksvoll zur Geltung. Mit Spannung erwartet man die weitere Entwicklung dieses jungen Sängers, der diese Partien im Laufbahn seiner weiteren Entwicklung und Karriere sicherlich noch weiter ausprägen wird. Die Voraussetzungen sind alle gegeben.  

Falk Struckmann, gewissermaßen als Grandseigneur des Ensembles, muss seinen jüngeren Kollegen nicht zeigen, wie sie singen müssen – das wissen sie alle selber nur zu gut. Die Kombination seiner gewaltigen Bassstimme mit der unheimlich ruhigen und scheinbar gelassenen Darstellungskunst stellt allerdings bei seinen Küssen, die er als Großinquisitor seinen sterbenden Opfern lustvoll-innig aufdrückt, einen grausig-zynischen Höhepunkt bei der Umsetzung des Regiekonzeptes dar.     

Michael Nagl vermag stimmlich dem Mönch das notwendige Gewicht zu verleihen. Aus dem Internationalen Opernstudio der Oper Stuttgart überzeugten Carina Schmieger als Thibault, Claudia Muschio als Stimme vom Himmel und Christopher Sokolowski als Lerma.   

Der Staatsopernchor und der Extrachor der Staatsoper Stuttgart unter der Leitung von Manuel Pujol verstehen die Ausdrucksskala zwischen hungerndem Volk, der Scheingloriole des Autodaféglänzend auszufüllen.

Der Stuttgarter Musikchef Cornelius Meister und das Staatsorchester Stuttgart bewältigen das schwierige Werk mit großer Spielfreude. Es gibt an dem langen Abend keinerlei Spannungsverlust im Graben oder auf der Bühne. Schlank, in allen Instrumentalgruppen durchhörbar, und auch in den Solopartien im Orchester sensibel ausgespielt, gelang ein durchwegs differenziertes Klangbild, welches mit der Szene hervorragend korrespondierte. Diverse Wackler über den Abend mögen vielleicht davon herrühren, dass Verdi mit diesem Werk eine französische Oper mit französischem Text komponiert hat, das sich von seinen anderen, in der Regel für Italien geschriebenen Partituren und unseren Hörgewohnheiten unterscheidet und deshalb eben auch besondere technische Anforderungen stellt.        

Meister war sich sicherlich des inhärenten Risikos des Fontainbleau-Aktes bewusst, dessen Partitur zwar durch sehr feinstufige, dunkle Farbschattierungen fasziniert, jedoch für den Chor und für den Tenor des Carlos gleich zu Beginn des Abends intrikate Anforderungen an Stimmführung und Dynamik zwischen Orchestergraben und Bühne stellt. Dass dies in der Tat nicht durchwegs gelang, stellt die Aufführung in eine Reihe ebenso ehrgeiziger wie nur teilweise gelungener Umsetzungen nicht minder großartiger Ensembles.

Große Zustimmung des Publikums bei der dritten Aufführung nach der Premiere, die erfreulicherweise von nicht wenigen jungen Leuten besucht wurde. Nur die Polkaszene mit den eine Ketzerverbrennung nachspielenden Kindern wurde schon auf offener Szene mit Buhrufen bedacht.

Grandiose Spielzeiteröffnung in Stuttgart!

Achim Dombrowski

Copyright Photos: Matthias Baus, http://www.matthiasbaus.com

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