Der Unaufhaltsame: Johann Adolf Hasse oder ein Leben wie ein Filmstoff

Xl_johann_adolf_hasse-komponisten-biographien © Johann Adolf Hasse

Der Unaufhaltsame: Johann Adolf Hasse oder ein Leben wie ein Filmstoff

Gekrönte Häupter suchen seine Nähe, fragen um Kompositionen bei ihm an. Die Impresarii der bedeutendsten Theater reißen sich um seine Werke. Mitte des 18. Jahrhunderts ist er einer der einflussreichsten Opernkomponisten in Europa und mit seiner Ehefrau Faustina Bordoni das Glamourpaar Dresdens und Venedigs. Heute ein Filmstoff. Seit einiger Zeit sind Bestrebungen zu beobachten, Johann Adolf Hasse stärker im Opern- und Konzertbetrieb wahrzunehmen. Ralf Siepmann stellt den Bergedorfer Komponisten vor, der vor 300 Jahren in Neapel studiert und sich danach aufmacht, um die Musikwelt zu erobern.

Das oberste Stockwerk im ehemaligen Organistenhaus der Kirche St. Petri und Pauli in Bergedorf. Eine Oase in einer Fußgängerzone, um die ringsum städtisches Leben brodelt. Hier ist in engen Räumen mit zahlreichen Büchern, Broschüren, Tonträgern und Mikrofilmen das Hasse-Institut untergebracht. „Es ist der ideale Ort“, sagt Wolfgang Hochstein, „um Hasse, seinem Werk und Begegnungen in seinem Geiste eine Heimstatt zu geben.“

Hochstein ist Musikwissenschaftler, Cembalist und Dirigent sowie Vorsitzender der Hasse-Gesellschaft Bergedorf. Engagiert und faktenreich erklärt er dem Besucher die Bedeutung von Johann Adolf Hasse. „Es kann kein Zweifel bestehen“, betont Hochstein, „dass Hasses heutige Bedeutung in keinem Verhältnis zu seiner Relevanz als Wegbereiter der frühen Klassik steht.“

1699 wird Hasse im damals eigenständigen Bergedorf geboren. Er macht in Italien und Dresden eine steile Karriere und ist bald einer der erfolgreichsten Opernkomponisten überhaupt. Aufführungen seiner Werke im Stil der italienischen Oper finden sich in ganz Europa, in Venedig, St. Petersburg, London, Wien, Madrid und La Valletta.

Nach Hasse-Kompositionen im aktuellen Opern- und Konzertbetrieb zu suchen, ist aufschlussreich. Zeigt das breite Genrespektrum, in dem sich Hasse bewegt. Ouvertüre und Arien aus seiner Oper Demofoonte, 1748 in Dresden uraufgeführt, sind Teil des Programms mit Philippe Jaroussky am 22. November im Konzerthaus Dortmund. Seine Trio-Sonate e-Moll op.2/1 ist im Rahmen eines Kammerkonzerts am 17. Dezember im Neuhaussaal Regensburg zu hören. Das Händelfestspielorchester bringt am 4. April 2024 in der Universität Halle Auszüge aus seiner Oper Romolo ed Ersilia, 1765 in Innsbruck uraufgeführt. Eine Auswahl seiner Sonaten und Kantaten steht im Mittelpunkt eines Kammerkonzerts am 12. Dezember im Lichtwarksaal neben dem Hamburger KomponistenQuartier.

Per questo dolce amplessoaus der Oper Artaserse, bei der Uraufführung 1730 in Venedig von dem Kastraten Farinelli gesungen, zählt zu den melodischsten und gefühlstärksten Vokalstücken Hasses. Heutige Interpreten bauen es gern in ihre Konzertprogramme ein. Der Countertenor Franco Fagioli singt es mit Vehemenz und Emphase. Berückend interpretiert es die Mezzosopranistin Vivica Genaux in der auf CD erschienenen Sammlung Arias for Farinelli. Der gradlinige Charme des Stücks scheint auch über der Biographie eines Mannes zu liegen, der aus einem norddeutschen Städtchen mit wenigen Tausend Bewohnern aufbricht, um die Welt Schritt für Schritt zu erobern, jedenfalls die Welt der Musik. Was ihm, dem Unaufhaltsamen, auch gelingt mit einem Leben, das heute einen Filmstoff abgäbe.

Hasse entstammt einer Familie, die über drei Generationen das Organistenamt an St. Petri und Pauli versieht. „Das ungeheure musikalische Talent schon des jungen Hasse“, schwärmt Hochstein, „lässt sich an der Tatsache festmachen, dass er nach einem Gesangsstudium in Hamburg 1718 als Tenor an die Oper am Gänsemarkt empfohlen wird.“ Ein Jahr später wechselt er nach Braunschweig. Im dortigen Opernhaus wird 1721 sein Erstling Antioco aufgeführt. „Händel dirigiert zahlreiche Aufführungen seiner Werke selbst“, erläutert Hochstein. „Mozart leitet Aufführungen seiner Opern vom Cembalo aus, auf dem er Rezitative begleitet. Hasse singt die Titelrolle seines Antioco höchst persönlich. Ein echtes Alleinstellungsmerkmal.“

Italien, Hasses anschließende Station, wo er von 1722 bis 1725 in Neapel Komposition bei Nicola Porpora und möglicherweise kurz bei Alessandro Scarlatti studiert, stellt sich als entscheidende Weichenstellung heraus. Nach Sesostrate 1726, seinem erfolgreichen Debüt am Teatro San Bartolomeo in Neapel, folgt in dichter Reihenfolge Oper um Oper. Sie machen in anderen Städten und außerhalb Italiens Furore.

Rasch verbreiten sie den Ruhm des Komponisten, der nach seinem Tod mit dem Beinamen Divino sassone geehrt wird, in Deutschland. Eine Kuriosität, rühmt sich doch Georg Friedrich Händel, in London als Il caro sassone geschätzt zu werden. Anders als sein Hallenser Landsmann, der die Rivalität etwa mit Giovanni Bononcini und Carl Heinrich Graun geradezu herbeikomponiert, sucht Hasse nicht die Konfrontation mit Händel. Beide vertonen die damals populäre Geschichte um den Perserkönig Cosroe. Händels Siroe wird 1728 uraufgeführt, Hasses fünf Jahre später. Einladungen nach London schlägt Hasse aus. Am Ende summieren sich seine Opernkompositionen auf rund 60, nicht wenige davon in zwei Fassungen. Eine erstaunliche Zahl neben seinem weit gefächerten Kanon an Oratorien, geistlicher und Kammermusik.

In dem jungen Deutschen heißen die Größen der italienischen Oper nicht nur einen aufgeschlossenen Schüler willkommen. „Er bezauberte alle, auch die Frauen,“ notiert Moritz Fürstenau, ein Flötist und Chronist des Dresdner Musiklebens, in einem Artikel zu Hasse. Den stärksten Eindruck macht Hasse auf Faustina Bordoni, eine als La nuova Sirena umschwärmte Mezzosopranistin, erfolgreich in Händels Londoner Operncompany. Durchsetzungsstark auch im Wettbewerb mit der Händel-Favoritin Francesca Cuzzoni, ihrer Nebenbuhlerin auf der Bühne wie im small talk der Aristokratie. Nach Zwischenstationen in Mailand und München ist sie zurück in Venedig, wo sie Hasse kennenlernt.

Ab Juli 1731, ein Jahr nach ihrer Heirat, geben die Hasses ein dreimonatiges Gastspiel in Dresden Die Uraufführung seiner Oper Cleofide wird ein Erfolg, von dem auch Johann Sebastian Bach Zeuge wird. Der Aufenthalt ist mit weitreichenden Folgen für die Laufbahn des Komponisten verbunden. August III., der Sohn Augusts des Starken, ernennt ihn zum Leiter der Hofkapelle, damals eine der einflussreichsten Positionen im europäischen Musikleben. Er verleiht ihm den Titel eines Königlich Polnischen und Kurfürstlich Sächsischen Kapellmeisters.

In den dreißig Jahren in diesem Amt profiliert Hasse die Musiker und das Sängerensemble zu einer ersten Adresse des kultivierten Musizierens in Europa. „Das Orchester galt als so vorbildlich,“ berichtet Hochstein, „dass Jean-Jacques Rousseau es als das Beste in Europa rühmt und den Sitzplan des Klangkörpers in seinem Dictionnaire de musique als Musterbeispiel veröffentlicht.“

Auch zum Dank gewährt der Dresdner Hof Hasse viele Freiheiten. Er kann mit seiner Frau zwischen Dresden und Venedig - auch in eigener Kutsche - so selbstverständlich pendeln, wie heute gefragte Sänger und Dirigenten von Kontinent zu Kontinent fliegen. Paris, Berlin, München, Wien sowie mehrere italienische Städte gehören ferner zu seinen Stationen. Da das Königreich Sachsen nach dem Siebenjährigen Krieg am Boden liegt, siedelt Hasse 1764 nach Wien über. Dort hält das Kaisertum noch gegen die Reformer um Christoph Willibald Gluck am Stil der von Hasse vollendeten Opera seria fest. Doch ist auch Hasses Werk von mancherlei Neuerungen erfüllt.

Die letzten vier in Wien im engen Miteinander mit seinem Librettisten und Freund Pietro Metastasio entstehenden Opern bilden zusammen mit dem tragischen Intermezzo Piramo e Tisbe den Schlussstein seiner Komponistenkathedrale im Seria-Fach. Danach komponiert er überwiegend Sakralmusik, darunter drei große Orchestermessen. 1783 stirbt Hasse in Venedig. Er überlebt Faustina, die sich bereits 1751 nach einer Aufführung von Hasses Oper Ciro riconosciuto von der Bühne zurückzieht, um zwei Jahre.

Hasses Stil lässt sich als elegant und gleichwohl schlicht beschreiben, als wirksam, aber frei von den pompösen Effekten, die Händel gelegentlich bevorzugt, um sein privatwirtschaftlich geführtes Opernunternehmen auf Kurs zu halten. Gibt es dann überhaupt einen Hasse-typischen Stil? „Seine Musik“, findet die Blockflötenvirtuosin Dorothee Oberlinger, Gründerin des Ensembles 1700, „ist sehr italienisch inspiriert. Man merkt, dass er neapolitanische Luft geatmet hat und sängerisch denkt. Er hat einen ungeheuren melodischen Einfallsreichtum, der die ganze Affektskala zu bedienen weiß.“ Sie selbst, sagt sie, schätze insbesondere die Seria Ezio. Und verrät: „Wenn ich ‚einen Hasse‘ dirigieren würde, stünde das Oratorium La Conversione di Sant’ Agostino auf dem Programm.“


(c) Hasse Institut

Es ist keine Überraschung, dass der Musikliebhaber auf Spuren Hasses in dessen Heimatstadt stößt. Nicht unbedingt spektakulär, solange nicht der trutzige „Hasse-Turm“ bereits als spektakulär empfunden wird. Aber durchaus von Bedeutung. So sind seine Kompositionen ein, wenn auch nicht ausschließliches Element bei den jährlichen Bergedorfer Musiktagen. Sie werden seit 2002 von einem eingetragenen Verein veranstaltet. Ihr Gründer ist der Arzt Farhang Logmani. In den zwanzig Jahren seines Bestehens, heißt es in den Materialien zur Hasse-Gesellschaft, habe sich der Verein ständig weiterentwickelt, „von anfangs nur wenigen Konzerten in Bergedorf bis hin zu über 20, auch in so großartigen Konzertsälen wie der Elbphilharmonie“.

Heute ist Hasse bei weitem nicht so populär wie Händel, in dessen Namen allein in drei europäischen Städten Festspiele organisiert werden. Könnte ein Grund hierfür sein, dass er nicht das Werk komponiert hat, das eine so große Verbreitung gefunden hat wie Händels Messias? „In der Tat“, findet Hochstein, „hat Hasse keinen Messias komponiert, dessen ungemeine Popularität nicht zuletzt den großen Chorsätzen zu verdanken ist.“ Seine Werke lebten hingegen von der Faszination des solistischen Gesangs. Hochstein nennt unter diesem Aspekt Oratorien wie Pellegrini oderConversione und vor allemPiramo e Tisbe, ein Werk, das Hasse auf dem Höhepunkt seiner Kunst zeige. „Stücke wie dieses“, ist der Musikwissenschaftler überzeugt, „könnten eine Wiederbesinnung auf den Komponisten fördern.“

Für eine stärkere Präsenz von Opern Hasses in Musiktheatern und Konzertsälen macht sich Oberlinger stark. „Man muss etwas dafür tun, dass Komponisten wie Hasse und Telemann wieder neu entdeckt werden. Die Musik des Übergangs zwischen Barock und Klassik benötigt viel Input.“ Hasses Musik fordere und beglücke zugleich. Sie benötige „große Könnerschaft in der Ausführung. Man muss Farben und Affekte, Dynamik, Artikulationen, Ornamente sehr geschmackvoll herausarbeiten.“

„Toll“ findet es die Spezialistin im Fach Alte Musik, Hasse an „originalen Schauplätzen“ wiederzuentdecken. So hätten anlässlich der Wiedereröffnung des Markgräflichen Opernhauses Bayreuth 2018 Werke von Hasse im Mittelpunkt des Festprogramms gestanden, vor allem sein Artaserse und eine Rekonstruktion des prunkvollen Bühnenbildes von Ezio.

2024 ist Anlass, Hasses 325. Geburtstag zu feiern. 2033, 250 Jahre nach seinem Tod, könnte ein echtes Hasse-Jahr werden. Zeit genug, bis dahin für das Talent aus Bergedorf, das zum Star der Musikwelt seiner Zeit aufstieg, die relevanten Podien und die zugkräftigen Anlässe zu schaffen, die sein Werk allemal hergibt.

Dr. Ralf Siepmann

copyright: Hasse-Institut

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