
Am 4. September begann das diesjährige Bayreuth-Baroque-Festival mit einer aufwendig in Szene gesetzten Neuausgrabung: Zum ersten Mal seit über 330 Jahren ging Pompeo Magno von Pier Francesco Cavalli über die Bühne des Markgräflichen Opernhauses.
Cavalli – diesen Namen liest man heutzutage noch recht selten auf den Spielplänen der Opernhäuser. Dabei gehörte er zu den Komponisten, die die noch junge Gattung „Oper“ um die Mitte des 17. Jahrhunderts maßgeblich prägten. 1602 in Crema als Sohn des dortigen Domkapellmeisters Giovanni Caletti geboren, wurde er als 14jähriger Junge – offenbar wegen seiner schönen Sopranstimme – vom venezianischen Gouverneur Frederico Cavalli entdeckt und mit nach Venedig genommen. Dort kam er als Chorknabe in die Kapelle von San Marco, die von Claudio Monteverdi geleitet wurde, einem der Pioniere der Operngeschichte. Bald nahm der junge Pier Francesco den Namen seines Förderers an und nannte sich fortan Francesco Cavalli. Er bekleidete verschiedene musikalische Organistenposten in der pulsierenden, musikbegeisterten Lagunenstadt, bevor er 1668 schließlich selbst zum Kapellmeister von San Marco ernannt wurde. Nach der Heirat mit einer wohlhabenden Witwe wagte er sich – finanziell abgesichert – aufs Terrain der Oper, und machte in der Nachfolge Monteverdis aus der vormals höfisch-elitären Kunstform eine breitenwirksame Bühnen-Show. Bis zu seinem Tod im Jahr 1676 komponierte er über 30 Opern, von denen die allermeisten erhalten sind.
Pompeo Magnogehört zu Cavallis letzten Opern und kam im Februar 1666 am Teatro San Salvatore heraus, zu einer Zeit also, als die venezianische Oper längst zu einer der beliebtesten Karnevals-Attraktionen geworden war: In mehreren parallelen Handlungssträngen mischen sich Ernstes und Heiteres, Hohes und Niederes, Erhabenes und Obszönes, und auf der Bühne tummelt sich eine Vielzahl von Figuren aller möglichen Stände und Schichten – in Pompeo Magno sind es insgesamt 17 Protagonisten! Die Handlung spielt zur Zeit des ersten römischen Triumvirats und ist lose an historische Geschehnisse angelehnt: Im Zentrum steht Pompeius/Pompeo, der gerade von seinem siegreichen Feldzug gegen Mitridate von Pontos zurückgekehrt ist. Mit dabei hat er Mitridates Gattin Issicratea und ihren Sohn Farnace, die unter Pompeos Schutz stehen. Farnace wird sogar zu einer Art Adoptivsohn für Pompeo. Doch auch Mitridate selbst befindet sich inkognito in Rom und stellt dort die Treue seiner Frau und seines Sohnes auf die Probe, die er in ein (letztlich gescheitertes) Mordkomplott gegen Pompeo einspannen will. Währenddessen wird Issicratea von gleich zwei Männern nachgestellt: Von Cäsars/Cesares Sohn Claudio sowie von Pompeos Sohn Sesto – eine brenzlige Situation, denn Claudio schreckt selbst vor einer versuchten Vergewaltigung nicht zurück. Und Sestos nächtliches Liebeswerben endet schließlich sogar mit einem Mord: Mitridate bringt Issicrateas illoyale Sklavin Arpalia um. Der Mord wird entdeckt und Sesto in die Schuhe geschoben. Er wird vor seinen Vater Pompeo geführt, der als oberster Richter den eigenen Sohn sogar foltern lassen will. Doch da gibt sich Mitridate zu erkennen und alles klärt sich auf. Plötzlich ist der Mord gar nicht mehr so schlimm – immerhin handelte es sich ja nur um eine Sklavin, und als deren Herr durfte Mitridate sie jederzeit töten. An dem juristisch einwandfreien und zugleich bizarr-menschenverachtenden Richterspruch scheint sich niemand zu stören: Mitridate erhält als Vasall Roms sein Reich zurück, das lieto fine kommt schnell.
Kombiniert wird dieser Haupthandlungsstrang mit einer Dreiecks-Liebesgeschichte: Pompeo wirbt um Cesares Tochter Giulia, die jedoch bereits heimlich mit Servilio verlobt ist. Nun überbieten sich Pompeo und Servilio in immer absurderer Weise darin, Giulias Hand dem jeweils anderen zu überlassen. Das ist zwar urkomisch, letztendlich ist aber Giulia – die bei alldem gar nicht groß gefragt wird – die Leidtragende: Sie liebt Servilio, fühlt sich aber schließlich von ihm verraten und fügt sich als Braut Pompeos resigniert in ihr Schicksal. Abgesehen davon wird die Handlung – wie das für Cavallis Opern typisch ist – immer wieder durch ein komödiantisches Paar unterbrochen: Die verrückte Alte Atrea liefert sich mit dem Diener Delfo grotesk-obszöne Wortgefechte.
Dieses Handlungswirrwarr verlegt Regisseur Max Emanuel Cenčić, gleichzeitig künstlerischer Leiter von Bayreuth Baroque, in das Venedig des 17. Jahrhunderts, und dieser Regieeinfall überzeugt auf ganzer Linie – immerhin schwingt in Pompeo Magno auch ein gehöriges Maß an spöttischer venezianischer Kritik am verhassten bigotten Kirchenstaat mit. Das Bühnenbild (Helmut Stürmer) ist prunkvoll und gleichzeitig pragmatisch konzipiert: Wir befinden uns im Dogenpalast, über allem thront der Markuslöwe. Drei Vorhänge, die schnell geschlossen werden können, trennen die Bühnenrampe vom Hintergrund ab. Auf diese Weise sind rasche Umbauten problemlos möglich, und durch den geschickten Umgang mit dem Bühnenbild wird genügend Abwechslung erzeugt, sodass auch nach über vier Stunden Spieldauer noch kein Überdruss aufkommt. Die Figuren, die da auf der Bühne stehen, sind teilweise von der Commedia dell’Arte inspiriert. So tritt etwa Farnace ganz in weiß als Pagliaccio auf, mit stiltypischer Maske und viel zu langen Ärmeln, und Cesare ist als dicker, schwarzgekleideter Dottore mit übergroßem Hut dargestellt. Wieder andere sind in der Tracht des 17. Jahrhunderts gekleidet, so z.B. die vier Fürsten, deren rote Roben und Kopfbedeckungen an die Tracht venezianischer Würdenträger ebenso erinnert wie an ein (vermutlich) Cavalli darstellendes Portrait (Kostüme: Corina Grămoșteanu). In diesen herrlichen Kostümen bewegen sich die Personen mit ans Barocktheater angelehnten Gesten und guter Körperspannung. Für die Bewegungen der Commedia dell’Arte-Figuren wurde sogar Chiara D’Anna als beratende Expertin hinzugezogen. Ziel ist dabei aber nie eine museale Rekonstruktion des Barocktheaters. Vielmehr dient all dies als Inspiration und historische Basis. Cenčićs Personenführung bleibt durchweg locker, er nutzt alle Möglichkeiten des Markgräflichen Opernhauses – wie beispielsweise auch die Seitenlogen –, und so dominiert die Action auf der Bühne. Vereinzelte übertrieben aktionistische Momente werden durch Ruhepunkte v.a. im zweiten Akt ausgeglichen. Sicher darf man fragen, ob die auftretenden Prostituierten mit geöffnetem Mieder und Fake-Brüsten angebracht sind. Auch der groteske Schluss des ersten Aktes mit den kleinwüchsigen Schauspielern, die im Chor „Bayreuth, Bayreuth!“ singen bzw. schreien – und dabei mit den angeklebten Grübchen-Kinnen und langen Nasen wie Richard-Wagner-Karikaturen wirken –, mag nicht jedermanns Geschmack sein. Im Gesamtgefüge des turbulenten Spektakels überzeugen auch solche Szenen.
Pompeo Magno ist ein Fest der Kastraten – die Partitur fordert nicht weniger als acht hohe Männerstimmen, inkl. einer Travestie-Rolle. In Bayreuth gönnt man sich den Luxus und engagiert dafür acht exzellente und gleichzeitig sehr unterschiedliche Countertenöre. Die Titelpartie übernimmt Max Emanuel Cenčić selbst, dessen Altus genau zum Ambitus der Rolle passt. Er legt seine Rolle zwiespältig an: Staatstragend in Massenszenen, etwas tapsig-unbeholfen beim intimen Liebeswerben um Giulia. Cenčić singt warm und weich, besonders schön etwa in seiner Arie Sonno, placido nume, als er zu sanften Streicherklängen einschläft. Zeitweise wird er aber vom zu dominanten Orchester verdeckt, insbesondere beim Singen aus dem Bühnenhintergrund. Stets stimmlich präsent ist dagegen Nicoló Balducci, der in der höhergelegenen Sesto-Partie zu jeder Zeit über das Orchester strahlt. Mit großer stimmlicher Wandlungsfähigkeit mischt er seine Klangfarben, mal schlank, mal mit etwas Vibrato. Anrührend gestaltet er die klagende Arie Date senso a questi marmi im dritten Akt, als er irrtümlich annimmt, seine geliebte Issicratea sei tot. Obendrein überzeugt sein Schauspiel, etwa zu Beginn des zweiten Aktes, als er über die Bühne torkelt und seinen Liebeskummer zu ertränken versucht. Auch Alois Mühlbacher, der die eher kleinen und dienend angelegten Rollen von Amore und Farnace übernimmt, holt erstaunlich viel aus seinen Auftritten heraus. Die Unterhaltungen mit seinem Vater Mitridate, den er zwar nicht erkennt, zu dem er aber sofort eine intuitive Zuneigung spürt, sind emotionale Höhepunkte. Die Rolle des schmachtenden aber allzu schnell aufgebenden Liebhabers Servilio übernimmt Valer Sabadus. Die komischen Szenen im Wettstreit mit Pompeo gelingen ihm gut, am besten kommt sein weicher Counter aber in intimen Momenten zur Geltung, so in der Arie Che contrasto nell mio core. Die beiden übrigen Countertenöre sind groteske Rollen: Kacper Szelążek spielt die Rolle der Sklavin Arpalia und legt sie dabei herrlich quäkig an – derartige Travestie bei komischen Nebenrollen war im 17. Jahrhundert beim Publikum sehr beliebt. Noch schriller klingt Dominique Visse in seiner Rolle als Diener Delfo, den er im Gezanke mit der verrückten Alten Atrea großartig überzeichnet.
Atrea – ebenfalls eine Travestie-Rolle – wird wiederum vom niederländischen Tenor Marcel Beekman gegeben. Mit grandiosem Schauspiel portraitiert er diese verrückte und geile Alte, die bei ihm trotzdem mehr ist als bloßes Spottobjekt. Dabei fließen Atreas Verrücktheiten auch in Beekmans hervorragenden Gesang mit ein. Wenn er etwa in seiner wilden Arie È la vita un vasto mare sogar kurz ins Belten verfällt, passt dieser wohldosierte Stilbruch fantastisch ins Gesamtbild der Figur. Ganz anders ist da die Rolle des Mitridate, die vom Tenor Valerio Contaldo übernommen wird. Schon mit der lyrischen Interpretation seiner Auftrittsarie Coetaneo con gl’astri, die einen der wenigen Ruhepunkte des ersten Aktes bildet, demonstriert er die Ernsthaftigkeit und emotionale Tiefe seiner Figur, ebenso mit der Arie Che stupor, che pene acerbe. Beklemmend ist auch das Mordkomplott-Duett Deh men rea, cieca dea, das er zusammen mit Mariana Flores in der Rolle seiner Gattin Issicratea singt. Flores‘ wandlungsfähiger Sopran passt perfekt für diese Rolle. Sie meistert alle technischen Herausforderungen brillant, seien es virtuose Koloraturen wie in der Arie La speranza mi tradisce oder ein inniges Legato wie in den beiden Lamento-Arien Sposo, regno e libertá und Tramutatevi in sospiri. Die zweite weibliche Hauptrolle der Giulia übernimmt Sophie Junker, deren Rolle zwar deutlich passiver ausfällt als die der Issicratea, ihr in puncto Virtuosität aber in nichts nachsteht. Wunderbar kokett und frisch singt sie ihre Auftrittsarie Tanto è dir che d’altri rai im zweiten Akt mit all den Koloraturen und hohen Spitzentönen. Noch beeindruckender ist ihre Interpretation der darauffolgenden Arie Alpi gelide, die gleich mehrere Affekte abdeckt und ihr von Koloraturen über Caccini-Triller bis zum innigen Piano viel technisches Können abverlangt.
Getragen werden die Sängerinnen und Sänger vom Residenzorchester des diesjährigen Bayreuth-Baroque-Festivals, der Cappella Mediterranea. Die exzellenten 21 Musikerinnen und Musiker liefern Klänge aus dem Orchestergraben, die man dergestalt nur selten in der Oper zu hören bekommt: Neben Streichern, einem Posaunensatz, Schlagwerk und einer sehr großen Continuo-Gruppe mit mehreren Cembali, Orgeln, Harfe, Theorbe und Basslaute erklingen da auch Blockflöten und Zinken. So klingt das 17. Jahrhundert! Diese Instrumentenvielfalt wird nur möglich, da die Orchestermitglieder mehrere Instrumente beherrschen und immer wieder zwischen ihnen wechseln. Geleitet werden sie von Leonardo García-Alarcón, der selbst durchgehend am Cembalo mitspielt und sein Spezial-Ensemble mit einigen wenigen Gesten dirigiert. Über manche Klangeffekte mag man sich wundern – so erschallt da auch mehrmals ein Glockenspiel, die Posaunen glissandieren fast wie im Swing, das Fagott spielt humoristisch-unsauber –, sie bleiben letztlich aber eine Geschmacksfrage. Etwas ermüdend scheint aber v.a. im ersten Akt das Bestreben, sämtliche Stück- und sogar Szenenübergänge attacca zu gestalten und so den Eindruck einer durchkomponierten Großform zu erzeugen. Ein entspanntes Ausschwingen der Arienschlüsse und so mancher Zwischenapplaus wäre sicherlich eher im Sinne der Affektwechsel und der Dramaturgie gewesen.
Das Premierenpublikum zeigt sich aber weniger kritisch und applaudiert bereits frenetisch, bevor der Schlussakkord überhaupt erreicht ist. Zwar mischen sich auch vereinzelt Buhrufe bezgl. der Regie unter den Jubel, insgesamt bleibt aber der Eindruck einer durch und durch geglückten Wiederbelebung von Pompeo Magno. Bleibt zu hoffen, dass dieses Werk auch andernorts seinen Platz in den Spielplänen findet und Cavalli der verdiente Platz im aktiven Opernrepertoire zukommt!
Stefan Fuchs
07. September 2025 | Drucken
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