Kriegsspiele im viktorianischen Internat – Vivaldis Giustino in Innsbruck

Xl_il-giustino_c_birgit-gufler-6 © Birgit Gufler

Bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik hatte mit Antonio Vivaldis Giustino die zweite Oper der Festspiel-Saison ihre erfolgreiche Premiere. Wie schon in den letzten Jahren bekam der sängerische Nachwuchs – darunter viele Preisträgerinnen und Preisträger des letztjährigen Cesti-Gesangswettbewerbs – die Möglichkeit, in einer eigenen Produktion Bühnenerfahrung zu sammeln. Das Ergebnis überzeugt musikalisch auf ganzer Linie. Die Regie wirft indes Fragen auf.

 

Tatsächlich ist es nicht leicht, bei diesem großen Protagonisten-Tableau den Überblick zu behalten: Acht Personen – mit einer Doppelrolle – stehen da auf der Kammerspiel-Bühne im Innsbrucker Haus der Musik. Die Handlung spielt im Konstantinopel des frühen 6. Jahrhunderts und basiert lose auf historischen Personen. Im Zentrum steht Kaiserin Arianna/Ariadne, die ihren Geliebten Anastasio geheiratet und zum Kaiser ernannt hat. Doch auch Heerführer Vitaliano greift nach dem Thron und nach Ariannas Hand. Zusammen mit seinem zwielichtigen Hauptmann Polidarte zettelt er eine Rebellion an und nimmt Arianna gefangen. Als die sich natürlich weigert, ihn zu heiraten, lässt der beleidigte Vitaliano sie kurzerhand einem Seeungeheuer zum Fraß vorwerfen. Helfen kann ihr da nur ein echter Held: Giustino! Einst ein einfacher Bauer, hatte er auf Fortunas Wink hin bereits Anastasios Schwester Leocasta vor einem wilden Bären gerettet – selbstverständlich hat sich Leocasta bei der Aktion in Giustino verliebt – und war daraufhin zum kaiserlichen Ritter ernannt worden. Aber auch Leocasta wird bereits anderweitig begehrt: Andronico, Vitalianos Bruder, ist in Leocasta verliebt und hat sich als Hofdame Flavia verkleidet in die Hofgesellschaft eingeschleust. Giustino soll also aus dem Weg geräumt werden. Doch als sich die Gelegenheit dazu bietet, erklärt eine Stimme aus dem Jenseits: Giustino, Andronico und Vitaliano sind drei Brüder! Gelöst sind die Probleme damit aber noch nicht, denn Amanzio, General des Kaisers, rebelliert ebenfalls und beansprucht den Thron. Erst in letzter Sekunde kann das Kaiserpaar von den drei Brüdern gerettet werden. Giustino heiratet Leocasta und wird zum Mitregenten Justin I. – Ende gut, alles gut!

 

Was für eine Handlung – selbst für Barockopern-Verhältnisse! Und dabei waren das nur die kuriosen Highlights des Librettos! Für Antonio Vivaldi (1678–1741) bot der verworrene Plot mit seiner Fülle verschiedenartiger Szenen, Schauplätze und Seelenzustände aber die perfekte Grundlage für eine seiner inspiriertesten Opernpartituren. Da stehen ausgedehnte DaCapo-Arien neben kurzen, liedhaften Arietten. Die Harmonik geht immer wieder unerwartete Wege – am krassesten am Ende des B-Teils von Senza l’amato ben –, kann aber auch plakativ schlicht sein. So schläft Giustino zu seiner sanften Arie Bel riposo de‘ mortali ein, begleitet u.a. von Blockflöten und gedämpften Streichern und gebettet auf ruhenden Kontrabass-Orgelpunkten. Überraschende Effekte wie Echo-Wirkungen, wenn Arianna aus Angst vor dem Seeungeheuer um Hilfe ruft, und imitiertes Vogelgezwitscher (Ariannas Arie Augelletti garruletti) sorgen für Auflockerung, ungewöhnliche Instrumente wie etwa das Salterio, eine historische Form des Hackbretts, für klanglichen Reiz. Fortunas Auftritt wird sogar von einem kurzen Zitat der Vier Jahreszeiten begleitet. Und am Ende steht ein Ohrwurm-verdächtiger Schlusschor, der mit seinem Bass-Ostinato so viel Spaß macht, dass er vom Orchester zum Schlussapplaus kurzerhand wiederholt wird.

 

Leider haben es nicht alle Nummern der Partitur in die Innsbrucker Aufführung geschafft. Kürzungen und Streichungen sind bei modernen Aufführungen von Barockopern allgemein üblich und auch verschmerzbar. Sie wären bei Giustino aber nicht nötig, wenn man sich einfach an die vorgegebene dreiaktige Struktur hielte und dem Publikum zwei Pausen gönnen würde. In Innsbruck wird dagegen – zulasten der Dramaturgie – der zweite Akt in der Mitte geteilt und lediglich eine Pause eingeschoben. Die beiden Aufführungshälften sind dadurch mit jeweils 90 Minuten recht lang, was dem Publikum einiges an Konzentration abverlangt. Und trotzdem sind etwa zehn Arien gestrichen – knapp ein Viertel der Partitur! – und die Rezitative mancherorts so radikal gekürzt, dass die Sinnhaftigkeit des Harmonieverlaufs merklich leidet.

 

Was jedoch die Nachwuchs-Sängerinnen und -Sänger auf der Bühne präsentieren, lässt aufhorchen. Alle Stimmen sind stark und den herausfordernden Partien mehr als gewachsen. Besonders glänzen kann Sarah Hayashi als Leocasta, die schon bei ihrem ersten Auftritt – sie übernimmt auch die Rolle der Fortuna – durch ihre Bühnenpräsenz auffällt. Ihre Stimme klingt wunderbar klar, leicht und gleichzeitig tragfähig. Virtuose Passagen meistert sie grandios: In der Arie Nacque al bosco sitzt jede Triole perfekt, und in der Arie Senti l’aura che leggiera, die mit all den Punktierungen, Ton-Repetitionen und Trillern schon schwer genug ist, fügt sie beim DaCapo noch viele weitere Verzierungen ein. Sie verfällt dabei nie in leere Effekthascherei, sondern durchlebt ihre Arien förmlich. Ihre Gestaltung der Arie Senza l’amato ben ist pure Musikalität. Auch Jiayu Jin überzeugt in der Rolle der Arianna mit ihrem durchsetzungsstarken und flexiblen Sopran. Obwohl sie in hohen Passagen vereinzelt zu sehr ins übersteuerte Vibrato rutscht, beweist sie doch eine bemerkenswerte stimmliche Wandlungsfähigkeit. Besonders berührend gelingen ihr die beiden intimeren Arien Quell’amoroso ardor und Augelletti garruletti. Dass andererseits extrovertierte Koloraturarien ihre große Stärke sind, beweist sie eindrucksvoll mit der Arie Per noi soave e bella und löst damit spontane Bravo-Rufe im Publikum aus. Als Bühnenpartner in der Rolle Kaiser Anastasios steht ihr Maximiliano Danta zur Seite, Gewinner des letztjährigen Cesti-Wettbewerbs und einziger Countertenor des Abends. In zwei wunderbaren Duetten verschmilzt sein weicher Counter herrlich homogen mit Jins Sopranstimme, der er technisch in nichts nachsteht: In seiner Arie Taci per poco ancora demonstriert er seinen großen Ambitus, in der (leider etwas zu schnell geratenen) Arie Vedrò con mio diletto viel Sinn für Legato und ein imposantes Messa di voce. Auch als Schauspieler überzeugt er: Als der windige General Amanzio beim Kaiser gegen Giustino und Arianna intrigiert, werden Anastasios zunehmendes Misstrauen und seine Eifersucht durch Dantas Spiel eindrucksvoll greifbar. Justina Vaitkute übernimmt die Titelrolle, die – nicht zuletzt aufgrund von Strichen – vergleichsweise schmal ausfällt. Mit ihrem flexiblen Alt und einer sonoren Tiefe steuert sie neue Töne zur Stimmenpalette bei, zeigt in der Arie Su l’altar di questo Nume jedoch auch ihre strahlende Höhe und Koloraturgeläufigkeit. Ihr Spiel ist etwas distanzierter. In einigen Ausnahmemomenten lässt sie aber viel darstellerisches Potenzial erkennen, etwa in der Szene, als sich herausstellt, dass Giustino, Vitaliano und Andronico Brüder sind.

 

Giustino war Vivaldis zweite (und offenbar auch letzte) Oper für Rom und kam dort im Karneval 1724 am Teatro Capranica heraus. Die strengen Richtlinien im erzkatholischen Kirchenstaat verboten, dass Frauen auf der Opernbühne auftraten. Deshalb waren bei der Uraufführung von Giustino alle Rollen mit Männern besetzt – inklusive Arianna und Leocasta, die von Kastraten gespielt wurden. In Innsbruck ist man davon glücklicherweise abgerückt und hat im Gegenteil drei hohe Männer-Partien mit Frauen besetzt, was damals im restlichen Europa bei Kastratenmangel übrigens allgemein üblich war. So übernimmt Benedetta Zanotto die Partie des intriganten Generals Amanzio. Vivaldi hat die Geltungssucht dieser Figur in drei faszinierende Arien gegossen, in denen Amanzio mehr sein will, als er ist – begleitet von konzertierenden Oboen in La gloria del mio sangue oder auftrumpfenden Hörnern in Or che cinto ho il crin d’alloro. Zanotto singt diese anspruchsvollen Arien mit glasklar hellem, vibratolosem und doch wandlungsfähigem Sopran und großer Musikalität. In scheinbar völliger Freiheit bewegt sie sich durch die langen Koloraturen und fügt im DaCapo jeweils noch Verzierungen hinzu – glatt zu schön für ihre hinterlistige Rolle! Lucija Varšić gibt Andronico, den Bruder des anfänglichen Widersachers Vitaliano. Mit sparsamen darstellerischen Mitteln holt sie viel aus ihrer kleinen Rolle heraus und gestaltet die doppelte Verkleidung – sie spielt einen Mann, der sich wiederum als Hofdame Flavia ausgibt – sehr überzeugend. In gleicher Weise besticht auch die schlichte Interpretation ihrer beiden Arien È pur dolce ad un’anima amante und Più bel giorno e più bel fato. In der umfangreicheren Rolle Vitalianos ist der Tenor Thoma Jaron-Wutz zu erleben. Seine warme und lockere Stimme passt wunderbar in die barocke Stilistik. Mit Leichtigkeit meistert er etwa in der Arie Il piacer della vendetta jede Koloratur und gleitet in seiner improvisierten Kadenz sanft bis zum b1 nach oben. Seine angesagte stimmliche Unpässlichkeit lässt sich allenfalls in der nicht immer präsenten Tiefe vermuten. Als Darsteller versprüht er die zu seiner Rolle passende diabolisch-machthungrige Wirkung. Als Hauptmann und rechte Hand steht ihm Massimo Frigato als Polidarte zur Seite, der in seiner Rolle als schmieriger Handlanger viel Spielfreude an den Tag legt und in seiner verächtlichen Arie Ritrosa bellezza mit sängerischer Präsenz punktet.

 

Dass sich die jungen Sängerinnen und Sänger so frei auf der Bühne entfalten können, liegt auch an der wunderbaren Kommunikation mit dem zupackend aufspielenden Barockorchester:Jung unter der erstaunlich ernsten Leitung von Stefano Demicheli. Der Farbenreichtum und die Energie, die aus dem Orchestergraben dringen, machen auch manche kleineren Patzer in den Hörnern oder im Continuo vergessen. Besonders hervorzuheben ist Carmen Gaggl als Salterio-Solistin in der Schluss-Arie des zweiten Akts Ho nel petto un cor sì forte.

 

Die Inszenierung von Claudia Isabel Martin Peragallo ist sichtlich um Aktion bemüht, oder – etwas negativer formuliert – um Aktionismus. Wir befinden uns in einem viktorianischen Internat – dem Programmheft und der Werkeinführung zufolge ein Reflex auf Vivaldis frühere Wirkungsstätte, das Mädchen-Waisenhaus Ospedale della Pietà in Venedig. Giustino deckt als Dienstmädchen (Giustina?) zu Beginn den Tisch, wird aber erschreckt und lässt einen Teller fallen. Er/sie verschwindet von der Bühne und wird erst später wieder als Giustino auftauchen. Die Ouvertüre beginnt. Im langsamen Mittelteil betritt Leocasta die Bühne und trägt einen Säugling auf dem Arm. Wird sie ihn im Internat abgeben? Babyklappe? – Bleibt offen, der Handlungsstrang wird nicht mehr aufgegriffen. Allmählich füllt sich die Bühne mit den Internatsschülerinnen und -schülern. Sie legen allmählich barocke Soldatenkostüme an und beginnen offenbar ein Spiel im Spiel. Man sieht da Brustpanzer und Hellebarden, Fechtmasken und Ritterrüstungs-Fragmente, als Krone dient ein goldener Lorbeerkranz. Anastasios Kriegskostüm erinnert an die Musketiere ebenso wie an Robin Hood. Andronico/Flavia trägt einen Kilted Skirt. Ein blauer Handschuh dient als verbindendes Symbol seiner Liebe zu Leocasta, die den anderen Handschuh trägt. Die Protagonisten bewegen sich in einer zweckmäßig-schlichten Bühne mit barocken Telari, also mit dreh- und vielseitig kombinierbaren bemalten Kulissen (Bühne und Kostüm: Polina Liefers). Szenenwechsel gelingen so sehr schnell. Die Schülerinnen und Schüler setzen sich Bären-, Schafs- und Fuchsköpfe auf, um sich in „wilde Tiere“ zu verwandeln. Zur Darstellung der Seeungeheuer genügen Protagonisten unter Fischernetzen. All das versprüht einen gewissen Laientheater-Charme und ist auch durchaus hübsch anzusehen. Die Personenführung ist recht lebendig und bewegt, der optische Stilmix gelingt. Wenn dann aber im finalen Kampf alle nur mit ihren Schwertern wild in der Luft herumfuchteln, wird es unfreiwillig komisch. Zum Schluss-Duett wird im Hintergrund der Anfangszustand mit gedecktem Tisch wiederhergestellt. Man nimmt Platz und feiert gemeinsam. Und so fragt man sich am Ende: Wozu das ganze? Haben sich da ein paar Schülerinnen und Schüler mit Schultheater die Zeit vertrieben? Worin bestand der eigentliche Konflikt, so es denn überhaupt einen gab? Im Programmheft liest man, es handle sich um „ein Opernmärchen über Reifung“, eine „Coming-of-Age-Erzählung“, doch fragt man sich, inwiefern die dargestellten Personen tatsächlich gereift sind. Das Setting wirkt vielmehr übergestülpt. Gleichwohl: Als vordergründige Schablone für die Oper funktioniert es.

 

Am Ende zeigt sich das Premierenpublikum auch mit der Inszenierung zufrieden und dankt allen Beteiligten mit jubelndem Applaus – ein Jubel, dem sich Gesangs-Cast und Regieteam hinter geschlossenen Vorhang gerne anschließen.

Stefan Fuchs

 

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