Happy End trotz Menschenopfer – Ifigenia in Aulide bei den Innsbrucker Festwochen

Xl_ifigenia-in-aulide_c_birgit-gufler-28-1 © Birgit Gufler

 

Zum ersten Mal seit etwa 300 Jahren erklingt bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik Antonio Caldaras Oper Ifigenia in Aulide: Aus den Tiefen der Österreichischen Nationalbibliothek ausgegraben, exzellent musiziert und harmlos inszeniert.

 

Antonio Caldara (1670–1736) dürfte heutzutage nur noch Alte-Musik-Fachleuten und Barockopern-Fans ein Begriff sein. Dabei gehörte er zu Lebzeiten zu den produktivsten und erfolgreichsten Komponisten. Vermutlich in Venedig geboren und auf vielen Instrumenten und im Gesang ausgebildet, wirkte er als Kapellmeister in Mantua, Rom und in den letzten 20 Jahren seines Lebens als Vizekapellmeister am Hof Kaiser Karls VI. in Wien. Etwa 3.400 Werke stammen aus Caldaras Feder, darunter knapp 90 Opern (mehr als doppelt so viele wie bei seinem Zeitgenossen Händel) und eine Vielzahl geistlicher Kompositionen – ein Œuvre von offenbar derart einschüchternden Ausmaßen, dass bis heute kein wissenschaftliches Verzeichnis seiner Werke existiert.

 

Eine reichhaltige und kaum erforschte Fundgrube für Wiederentdeckungen! So dachten vermutlich auch Eva-Maria Sens und Ottavio Dantone, das Leitungsduo der Innsbrucker Festwochen, und wählten Caldaras 1718 für den Wiener Hof komponierte Oper Ifigenia in Aulide für die Eröffnung der alljährlichen Opernsaison der Festwochen aus. Die Geschichte spielt im Vorfeld des Trojanischen Krieges: Weil Agamemnon bei der Jagd einst eine heilige Hirschkuh erlegt hat, ist die Jagdgöttin Diana zornig. Sie sorgt für eine anhaltende Flaute. Agamemnon, der eigentlich gerade auf dem Weg nach Troja ist, sitzt deshalb mit seiner Flotte auf der Insel Aulis fest. Es heißt, nur durch die Opferung von Agamemnons Tochter Iphigenie könne die Göttin besänftigt werden und die Fahrt somit weitergehen. Schweren Herzens lässt Agamemnon seine Tochter nach Aulis bringen, angeblich, um sie mit Achilles zu vermählen. Verkompliziert wird die Sache dann auch noch durch Agamemnons Frau Klytämnestra, seinen Bruder Odysseus, der auf das Menschenopfer drängt, sowie durch Agamemnons Vertrauten Arcade, der Iphigenie und ihrer Mutter von den geheimen Opferplänen erzählt. Zum Intrigengeflecht in typischer Seria-Manier gesellen sich schließlich noch Elisena, die in Achilles verliebte Prinzessin von Lesbos, und Teucro, ein griechischer Hauptmann, der wiederum Elisena liebt.

 

Das Libretto verfasste der frisch ernannte Hofdichter und -historiker Apostolo Zeno (1668–1750), der sich auf allerlei antike Fassungen des Iphigenie-Stoffs stützte. Je nach Version kann die Geschichte aber unterschiedlich ausgehen. Fall 1: Iphigenie wird tatsächlich geopfert. Fall 2: Diana hat Mitleid und tauscht Iphigenie gegen eine Hirschkuh aus, die dann geopfert wird. Fall 3: Eine andere Iphigenie – nämlich Elisena, die eigentlich Iphigenie heißt und Helenas und Theseus‘ Tochter ist – wird geopfert, während Agamemnons Tochter Iphigenie nichts geschieht. Zeno hat sich in seinem Libretto für diesen dritten Fall entschieden. So kommt das Ende der Oper als überraschender Plot-Twist daher: Elisena-Iphigenie hat sich selbst auf dem Altar geopfert, ihr Geliebter Teucro ruft schockiert: „Grausames Opfer! Unglücklicher Teucro!“, während Klytämnestra erleichtert aufatmet: „Wie wunderbar!“ Als Arcade lapidar kommentiert: „Oft ist das Lachen des einen das Weinen des anderen.“, kann sich das Publikum im Großen Haus des Tiroler Landestheaters eine gehörige Portion Gekicher nicht verkneifen – zu hanebüchen und unfreiwillig komisch ist dieser Opernschluss, selbst für Seria-Verhältnisse.

 

Die Regie der Companyia Per Poc (Anna Fernández und Santi Arnal) reagiert auf diese verborgene zweite Identität Elisenas: Deren Darstellerin Neima Fischer trägt als Symbol der gesellschaftlichen Rolle, die Elisena-Iphigenie nur vordergründig spielt, eine Pappmaché-Puppe in der Gestalt von Elisena vor sich her, die ihr am Schluss im Moment ihrer Selbstopferung abgenommen wird und zum Himmel auffährt. Auch Klytämnestra erhält im zweiten Akt eine Puppe ihrer selbst überreicht, als ihr Gemahl in seiner Arie Ubbidisci; e non cercar Gehorsam einfordert. Kurz darauf bekommt auch noch Iphigenie ihre Rollen-Puppe, als sie sich – zum Selbstopfer bereit – in ihr Schicksal zu fügen beginnt. Auch diese beiden Frauen legen ihre Puppen am Ende wieder ab. Auf der Männerseite stehen Korinthische Helme – teils mit karikaturhaft-übergroßem Federbusch – symbolhaft für die männliche Rolle als Krieger. Wenn die Männer ihre Helme dann im Laufe ihrer Arien hin und wieder abnehmen, gewähren sie Einblicke in ihre wahre Gefühlswelt. Das alles ergibt zwar Sinn, hinterlässt aber schlussendlich eine aufgesetzte Wirkung und erschließt sich nicht jedem/jeder im Publikum. (O-Ton nach der Vorstellung: „Das mit den Puppen hab‘ ich nicht verstanden.“) Davon abgesehen bleibt die Personenführung verhältnismäßig konventionell: Die Sängerinnen und Sänger agieren weitgehend an der Rampe mit herkömmlichen Gesten, während der Arien durchaus auch statuarisch. Das kommt dem Klang und der stimmlichen Präsenz zugute und lehnt sich an das Gebärden-Repertoire des Barocktheaters an. Dabei bewegen sie sich in einer barock anmutenden Gassenbühne aus Stoffkulissen, verschiebbaren Altären und Brunnen-Attrappen (Bühne und Kostüm: Alexandra Semenova). Alles ist in einem schlicht-naiven Stil handbemalt – sichtbare Zinken verlaufener Farbe gehören zum Konzept. Die Frauen tragen schmucklos-elegante Kleider, die Männer – alle ein wenig mit Dreck beschmiert und von Wunden gezeichnet – dagegen Sandalen, kurze Hosen und Bademantel-ähnliche Jacken. Belebt wird die Bühne durch weiteres Puppenspiel: Bunte Vögel sitzen am Brunnen und beobachten die Szene, ein Marionetten-Pfau spaziert über die Bühne. Das alles ist schön anzuschauen und stört auch niemals die musikalische Darbietung. Letztendlich bleibt die Inszenierung aber formelhaft, risikolos und wenig innovativ. Wo bleibt die Kritik am problematischen Plot mit seinen durchaus patriarchalen Elementen? Wieso bleibt die Notwendigkeit eines Menschenopfers unhinterfragt – gerade in unseren postheroischen Zeiten?

 

Da gelingt es auf musikalischer Seite weit überzeugender, der vergessenen Oper neues Leben einzuhauchen. Caldara hatte seine Ifigenia für den Namenstag von Kaiser Karl VI. komponiert und konnte bei der Uraufführung im Leopoldinischen Hoftheater auf eine handverlesene Besetzung hervorragender Sängerinnen und Sänger zurückgreifen. Auch die Innsbrucker Wiederbelebung der Oper lässt keinerlei sängerische Wünsche offen. Star des Abends ist Marie Lys als Ifigenia/Iphigenie. Zwar muss sie als Titelheldin lange auf ihren Auftritt warten – weit ist der Weg von Mykene nach Aulis –, erhält dann aber die hoffnungsvoll-mitreißende Schlussarie des ersten Aktes Il mio core. Lys‘ Sopran besticht durch eine ausgezeichnete Wandlungsfähigkeit, die sie blitzschnell einzusetzen weiß: In berührendem Legato (eindrucksvoll ihre Schlussarie des zweiten Aktes Verace, o menzognera) stellt sie ihr angenehm dezentes Vibrato völliger Vibratolosigkeit gegenüber, während sie ihre Virtuosität in perlenden Koloraturen demonstriert. Besonders ergreifend gestaltet sie den Spagat zwischen eifersüchtigem Koloraturen-Gezeter und Liebeskummer-Adagio in ihrer Arie Addio, infido, als sie sich von ihrem Geliebten Achilles verlassen glaubt. Stimmlich steht ihr die Mezzosopranistin Shakèd Bar in der Rolle der Klytämnestra/Clitennestra in nichts nach. Sie glänzt insbesondere mit exzellenten Improvisationen im DaCapo ihrer Arien: Mit halsbrecherischen Koloraturen in Amasti in quel cor perfido beweist sie ihre Virtuosität, mit Abdriften bis ins Alt-Register in O vincerò di un perfido ihren enorm großen Stimmumfang. Außerdem verleiht sie ihrer Rolle eine beeindruckende Tiefe – durchlebt Klytämnestra doch ein heftiges Wechselbad der Gefühle! Anrührend lässt Bar ihre Figur in der Largo-Arie Ah! Che, se fossi estinta um die verloren geglaubte Tochter weinen. Neima Fischer in der Rolle der Elisena dagegen klingt nochmal ganz anders: Ihr phänomenal schnörkelloser Sopran strahlt eine bewundernswerte Schlichtheit aus, die selbst in anspruchsvollsten Arien nie ins Wanken gerät. Makellos rein gelingen ihre improvisierten Sprünge in Vergogna, e dispetto – bis hoch zum d³! Und wenn sie sich mit ihrer letzten Arie Nell’anima agitate in ihr Schicksal fügt, ist das ein besonderer Moment von entwaffnender Ehrlichkeit.

 

Auch die männlichen Partien sind ausgezeichnet besetzt. Am eindrucksvollsten gestaltet der britische Tenor Laurence Kilsby seine Rolle als Odysseus/Ulisse. Er singt nicht nur hervorragend, sondern sein Schauspiel ist auch am eindringlichsten, obwohl die Partitur ihm beides nicht besonders leicht macht: Endlos lang und – ästhetisch kritisch betrachtet – nicht unbedingt musikalisch sinnvoll scheinen die Koloraturen in Veggo già che ai greci legni, doch Kilsby meistert sie mühelos ohne Zwischenatmen. Auch der riesige Ambitus vom G bis zum a1 ist für ihn kein Problem. Das begeisterte Publikum reagiert mit spontanen „Bravo“-Rufen. Und selbst die problematische und dramaturgisch fehlplatzierte Arie Erto, e scosceso è ‘l colle, in der Odysseus neben der ohnmächtigen Klytämnestra am Menschenopfer festhält und die Ehre propagiert, gestaltet Kilsby noch überzeugend. Die Partie seines Bruders Agamemnon/Agamennone übernimmt Martin Vanberg. Sein Tenor klingt angenehm und kernig, und doch bleibt seine Rollengestaltung zu distanziert. Die innere Zerrissenheit in seiner harmonisch kontrastreichen Arie Di questo core überzeugt in musikalischer Hinsicht, dringt aber zu wenig nach außen. Viel extrovertierter kommt dagegen Carlo Vistoli als Achille/Achilles daher. Sein kräftiger, durchsetzungsstarker und vibratoreicher Counter mag zwar nicht jedermanns Geschmack sein, passt aber sehr gut zu seiner Rolle – immerhin hat er sechs kraftvolle Koloraturarien zu singen und muss sich schon in seiner Auftrittsarie Asia tremi, Argo festeggi neben vier Trompeten und Pauken behaupten! Am spannendsten gerät aber seine letzte Arie Sposa, addio, die mit ihren kurzen Adagio-Passagen ein wenig Raum für lyrische Töne lässt. Filippo Mineccia, der zweite Countertenor des Abends, spielt seine Rolle als Teucro äußerst überzeugend und singt seine Partie sehr schön. Da er in tieferen Lagen vereinzelt vom Orchester klanglich zugedeckt wird, verlegt er die Improvisationen im DaCapo seiner Arien nach oben und kann sich so besser gegen das Orchester durchsetzen. Besonders anrührend gestaltet er seine Lamento-Arie Non ho cor così spietato. Die wichtige Nebenrolle des Arcade übernimmt der italienische Bariton Giacomo Nanni. Mit starker Bühnenpräsenz und seinem warm-kernigen Stimmklang holt er so viel aus seinen kurzen Auftritten und wenigen Arien heraus, dass es im Nachhinein direkt schade erscheint, dass seine Rolle so klein ist.

 

Getragen werden die Protagonisten auf der Bühne wie schon im letzten Jahr von der brillant aufspielenden Accademia Bizantina unter Leitung von Ottavio Dantone. Es besteht kein Zweifel, dass da Spezialisten am Werk sind: Die Orchesterritornelle und -zwischenspiele klingen so lebendig, transparent und ausgeklügelt differenziert – man vergisst glatt, dass diese Oper zum ersten Mal seit Jahrhunderten aufgeführt wird! Dabei treten auch einzelne Orchestermitglieder solistisch hervor, etwa Konzertmeister Alessandro Tampieri in Teucros Arie Tutto fa nocchiero esperto oder Solotrompeter Martin Patscheider in der Arie La vittoria segue, o Carlo, i tuoi vessilli. Letztere – eigentlich eine Huldigung auf Kaiser Karl am Ende der Oper – wurde in Innsbruck quasi als Prolog der Oper vorangestellt und von Marie Lys vor geschlossenem Vorhang gesungen. Besonderes Lob gebührt auch der Continuo-Gruppe, die die langen Secco-Rezitative facettenreich und einfühlsam gestaltet. Kaum zu glauben: Trotz der vielen Ausnahmesituationen im Libretto enthält die Oper kein einziges Accompagnato-Rezitativ. Auch Duette oder sonstige Ensemble-Sätze sucht man vergebens.

 

Und so bleibt am Ende ein recht ambivalenter Eindruck von dieser Oper: Man findet in Caldaras Ifigenia glänzend komponierte, abwechslungsreiche Arien neben eher durchschnittlichen Stücken, spannende Momente neben dramaturgischen Durststrecken. Gleichwohl lohnt das Werk einer Wiederentdeckung! Das Innsbrucker Festwochen-Publikum zeigt sich jedenfalls begeistert und applaudiert allen Akteuren mit stehenden Ovationen – nur hinsichtlich der Regie sind vereinzelte Buh-Rufe nicht zu überhören.

 

Stefan Fuchs

 

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