Staatsoper Hamburg: Traumwelten der Genialität und des Untergangs

Xl_12_die_dunkle_seite_des_mondes_c_bernd_uhlig © Bernd Uhlig

Hamburgische Staatsoper

 

Die dunkle Seite des Mondes

(Unsuk Chin)

 

Besuchte Vorstellung 21. Mai 2025

Uraufführung am 18. Mai 2025

 

Kompositionsauftrag der Hamburgischen Staatsoper

Kent Nagano ist Bewunderer der koreanischen Komponistin Unsuk Chin und hat in München 2007 ihre erste Oper Alice in Wonderland mit großem Erfolg zur Uraufführung gebracht. Jetzt folgt für Hamburg das neue Werk: Die dunkle Seite des Mondes.

In einer fiktiven, von der Komponistin selbst entworfenen Handlung wird inspiriert durch die Beziehung des Quantenphysikers Wolfgang Pauli zum Psychoanalytiker C. G. Jung ein Traumszenario besonderer Art entwickelt. Das Libretto in deutscher Sprache verfasste die Komponistin unter Mitarbeit von Kerstin Schüssler-Bach selbst.

Erzählt werden Teile der Lebensgeschichte von Wolfgang Pauli, der mit seinen Forschungen ganz wesentliche Erkenntnisse für die Quantenphysik sowie letztlich den Bau der Atombombe beigetragen hat und für sein wissenschaftliches Wirken 1945 den Nobelpreis für Physik erhielt. 

Auf Basis der Biographie Paulis und des Briefwechsels zwischen Pauli und Jung entwickelt das Libretto einen phantastischen Handlungsrahmen, in welchem die beiden Charaktere in unterschiedlicher verfremdeter Form miteinander bzw. im Verhältnis zu weiteren Personen der Handlung und zunehmend auch zu immer unwirklicheren Personen-Chiffren auftreten. 

Der Briefwechsel beinhaltet wesentlich die Erörterung von Paulis Traumerlebnissen, die dieser dem Psychoanalytiker anvertraut hat. Damit steht nicht seine wissenschaftliche Arbeit, sondern seine emotionale Persönlichkeitsstruktur im Mittelpunkt, die hochproblematisch in der Zusammenarbeit mit Kollegen sowie im Privatleben war. Hinzu kommen seine Gewissensqualen angesichts der potentiell unkalkulierbaren zerstörerischen Gefahren seiner Forschungsergebnisse für die gesamte Menschheit.

Während der Kollegenkreis um Dr. Kieron - alias Pauli - noch verhältnismäßig real auftritt und musikalisch gezeichnet wird, werden die Frauen, denen Pauli begegnet und zu denen er keine tiefere Beziehung herzustellen vermag, von vornherein unwirklich und teilweise wie irreale Lichtwesen aus der Halb- oder Unterwelt gezeichnet. C.G. Jung tritt als Meister Astaroth auf, ein dämonischer Gegenspieler, im Zweifel ein gespaltener Persönlichkeitsteil von Pauli selbst, der das Böse herausfordert und in vielschichtiger Weise selbst vertritt.   

Also keine Oper über Physik oder Psychologie, sondern ein Traumgespinst, in welches der Protagonist und sein Gegenspieler eintreten und sich in ihren Lebensrealitäten zunehmend verlieren, nicht ohne zuvor durch ihre gegenseitigen Anregungen und ihre Genialität die Wissenschaftswelt und letztlich die reale Menschheit maßgeblich in eine neue Erkenntnisebene gehoben zu haben.          

Traumwelten mögen sich hier in besonderem Maße eignen, weil die Wissenschaftserkenntnisse der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts als auch die heutige globale politische Situation Überforderungen zwischen einer Welt der Möglichkeiten und Ängste schafft, die nicht in realer Sprache, sondern im Zweifel eher schon in Traumdeutungen verarbeitet werden können.  

Insgesamt aber belässt es die Komponistin bei einen schwebend-unbestimmten Handlungs- und Inhaltskern, den der Zuschauer nur selbst in seiner eigenen Traum-Fortsetzungs-Deutung weiterentwickeln und letztendlich als relevanten Impuls wahrnehmen kann.  

Die szenische Umsetzung in der Regie des irischen Inszenierungskollektivs Dead Center - bestehend aus Ben Kidd und Bush Moukarzel - der Bühne von Jeremy Herbert, der Kostüme von Janina Brinkmann sowie der Videokunst von Sophie Lux und der Lichtregie von James Farncombe werden dem Szenario in aufwändiger und vielfältiger Bildkraft gerecht.

Vertraute geometrische Formen und Strukturen erscheinen und verhalten sich ‚falsch‘ zu den naturwissenschaftlichen Gesetzen, lösen sich wieder auf, evaporieren im Gazevorhang oder entschwinden im Schnürboden – expressive Farbwelten, optische Täuschungen und surreale Erscheinungen begleiten den Betrachter in seine eigene Traumwelt. Die Suggestion wird durch eine lange Aufführungsdauer von über drei Stunden durchgehalten und überführt den Zuschauer in einen halbbewussten Zustand seines Empfindens.  

Dabei kommt eine gigantische, komplexe Soundstruktur zum Einsatz. Der Gesang wird mitunter durch Mikrophone unterstützt und zeitweise klangliche Elemente aus entfernten Räumen übertragen, die zu einem komplexen Mischklang führen. Eine Leistung, die erheblichen Probenaufwand erfordert.

Die gewaltige Partie des Dr. Kieron wird von Thomas Lehmann gestemmt. Der junge amerikanische Bariton hat dabei eine extrem komplexe Gesangspartie zu bewältigen, die überhaupt erst während der Proben vollendet wurde. Hinzu kommen erhebliche deutsche Textmengen, die dieser großartige Sänger – wie etliche andere Ensemblemitglieder - nur mit Hilfe des zeitweise deutlich zu vernehmenden Souffleurs Marco Tim meistern konnte, was der riesigen Leistung des Sängers keinen Abbruch tut. Alle Sängerdarsteller bedankten sich denn auch herzlich beim Schluss-Applaus bei ihrem Unterstützer aus dem Souffleurkasten.    

Bo Skovhus als Astaroth gelingt wie immer eine Verschmelzung mit der Figur in einzigartiger Form. Er bewältigt nicht nur stimmlich die Partie, sondern vermag in seiner hingebungsvollen, einzigartigen dramatischen Darstellungskunst wiederum ein grandioses Portrait der Figur zu liefern.  

Die Miriel von Siobhan Stagg und der Countertenor Kangmin Justin Kim als Anima überzeugten als Wesen der Zwischenwelt.  

Der Chor der Staatsoper Hamburg unter der Leitung Christian Günther ist groß besetzt und meistert die Aufgaben mit Hingabe, wobei der Kunst in gedeckten Farben zu singen oder Töne anzuhauchen besonders Gewicht gegeben wurde. 

Große Besetzung auch beim Philharmonischen Staatsorchesters unter Kent Nagano. Beispielhaft sei die Schlagzeuggruppe genannt, die mit variantenreicher Instrumentenvielfalt brilliert. So kommen z B Xylophon, Vibraphon, Glockenspiel, Waterphone, Peitsche, Becken, und Pauken zum Einsatz. 

Die potentielle zukünftige  Bedeutung eines Werkes kann man manchmal an der Heftigkeit der ersten Reaktion erahnen. So verlangt ein konservativer Großkritiker allen Ernstes ein Aufführungsverbot des Werkes in diesem - so empfundenen - unfertigen Zustand. Zu lang, zu redundant, zu unfertig lautet die Begründung.

Wenn sich je eine Instanz (welche -?) zum Verbot entschlossen hätte, dann wären wohl viele bedeutende Werke der Musikliteratur nicht auf die Bühne gekommen. Auch Jörg Widmanns komplexe Oper Babylon ist mit Kürzungen und tiefgreifenden Umarbeitungen nach der Münchner Uraufführung 2012 in einer zweiten Fassung auf Einladung von Daniel Barenboim 2019 an der Staatsoper Berlin erneut zur Aufführung gelangt. 

Nicht ausgeschlossen also, dass auch Die dunkle Seites des Mondes durch Überarbeitung, Veränderung, Fokussierung und technischer Optimierung hinsichtlich Sing- und Spielbarkeit ihre endgültige Form und Position in der Musikgeschichte noch findet. 

Achim Dombrowski

Copyright Fotos: Bernd Uhlig

 

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