Komische Oper Berlin - Oedipus von George Enescu - Kreatur und Schicksal

Xl_ea3c7dd0-f1e3-4656-b679-da58bd9b9c5a_1_201_a © Monika Ritterhaus

Oedipe
(George Enescu)

(Premiere am 29. August 2021

Komische Oper Berlin

Mit dem einzigartigen Werk des rumänischen Komponisten gelingt der Komischen Oper ein beklemmender Saisonauftakt  

Rund 25 Jahre hat der rumänische Komponist George Enescu an seiner großer Oper Oedipe gearbeitet – solange wie Richard Wagner an seinem Opus Der Ring des Nibelungen. Beide Künstler haben damit Großwerke der europäischen Musikgeschichte geschaffen, und beiden liegen Elemente der antiken Tragödie zugrunde, so unterschiedlich sie ansonsten auch sind.

Enescu war ein frühes Wunderkind und sein gesamtes Leben auch ein gesuchter Instrumentalmusiker, der nicht seine gesamte Kraft der Komposition gewidmet hat. Daneben war er auch ein hervorragender Musikpädagoge. Sein berühmtester Schüler war Yehudi Menuhin, der zeitlebens immer wieder die künstlerische Größe seines Lehrers hervorgehoben hat. 

Die Musiksprache Enescus ist einzigartig und hat weder unmittelbare musikalische Vorbilder noch nachhaltigen Einfluss auf nachfolgende Werke hinterlassen. Die musikalische Struktur enthält Facetten der Kirchenmusik, beinhaltet Bezüge zur osteuropäischen Volksmusik und nicht wenige Elemente der französischen Schule seines Lehrers Fauré sowie von Debussy. Die in den Jahren zwischen 1910 und 1936 komponierte Partitur des Oedipe basiert auf einer Textfassung des jüdisch-französischen Schriftstellers Edmond Fleg. Dieser stützt sich wiederum im ersten Teil des Werkes auf die griechischen Sagen um Ödipus als König der Thebaner, später auf die Tragödien des Sophokles aus dem 5. Jahrhundert v.Chr.

Damit wird der gesamte Lebensweg der Titelfigur von Geburt an zur Darstellung gebracht. Der Schwerpunkt der dramatischen Auseinandersetzung verschiebt sich von der Suche und Aufarbeitung der Schuld des Individuums zum Kampf des Ödipus gegen das unausweichliche Schicksal und die Sinngebung innerhalb dieses Prozesses.

Das Werk wurde trotz der erfolgreichen und vielbeachteten Uraufführung an der Opéra de Paris 1936 nicht Lieblingskind des Opernrepertoires. Berühmt geworden ist jedoch eine Produktion der Bukarester Oper, die unter anderem auch in Berlin gezeigt wurde.  Bei den Salzburger Festspielen 2019 inszenierte Achim Freyer das Werk und noch in dieser Spielzeit wird die Pariser Oper eine Neuinszenierung vorstellen.  An der Komischen Oper Berlin kam das Werk 1996 zum letzten Mal heraus. 

Der Regisseur Evgeny Titov und der musikalische Chef des Haues, Ainārs Rubiķis, haben jetzt eine konzentrierte Fassung erstellt, die ohne Pause knapp zwei Stunden in Anspruch nimmt. Damit entfällt rund ein Viertel der Musik der Originalfassung, bewirkt wird jedoch in der konzisen Folgerichtigkeit der Umsetzung eine nachgerade beängstigende Sogwirkung bei der Realisierung.

Das Regiekonzept sowie das Bühnenbild von Rufus Didwiszus setzen auf eine karge, kreatürliche Sprache der Unausweichlichkeit. Die Farben sind in allen Schattierungen zwischen Weiß und Schwarz gehalten mit Ausnehme des spritzenden Blutes. Der Bühnenraum ist ein Kasten, aus dem es kein Entkommen gibt. Er wird von den Protagonisten sowie einem höchst agilen Freude, Verstörung, Angst und Verzweiflung spiegelnden stummen Chor der stets gegenwärtigen Komparserie  bevölkert. Die Kostüme von Eva Dressecker bewegen sich ebenfalls in diesem farblichen Rahmen mit Ausnahme von Sphinx und Merope, die im blutroten bzw. lila Gewand erscheinen. 

Für den Regisseur ist gewissermaßen der Kampf des Individuums das Ziel. Ödipus fühlt früh, dass etwas nicht stimmt. Aus diesem Impuls einer Unruhe erwächst sein lebenslanger Kampf mit oder gegen sein Schicksal, dem er gleichwohl am Ende doch nicht entkommt. Er ist bereits zum Ereignis seiner Geburt auf der Bühne und erlebt diese atemlos mit. Das frisch entbundene Baby hat bereits den Kopf des erwachsenen Ödipus. Die Begegnung mit der Sphinx wird als eine Begegnung mit sich selbst gedeutet. In der gezeigten Fassung gewinnt Ödipus am Ende auch sein Augenlicht nicht zurück, sondern findet in dem nach innen gerichteten Blick seiner selbst zugefügten Blendung mit Hilfe der Führung durch seine Tochter Antigone seinen inneren Frieden. 

Der Brite Leigh Melrose ist Ödipus. Die gewaltigen gesanglichen Aufgaben der Partie meisternd, von romantischen Gesangslinien bis hin zu Sprechgesang und unmittelbarem Sprechen, beherrscht der Sänger eine unfassbare Skala an Fähigkeiten, die zusammen mit einer bezwingenden darstellerischen Intensität dem Abend eine fast übermenschliche, anrührende Erschütterung verleiht. 

Die Jocaste der Karolina Gumos, Merope von Susan Zarrabi, die Sphinx von Katarina Bradić sowie Mirka Wagner als innige Antigone vereinigen ein ausdrucksstarkes und erschütterndes Frauen-Ensemble auf der Bühne. Jens Larsen als Tiresias und Johannes Dunz als ausdrucksstarker Hirte führten mit intensivem Ausdruck die Gruppe der männlichen Darsteller an. Einen ganz eigenen Akzent in Spiel und Gesang vermochte Shavleg Armasi als Wächter zu setzen.

Das Vocalconsort Berlin, Chorsolisten sowie der Kinderchor der Komischen Oper Berlin sind klangwirksam auf dem zweiten Rang postiert und vermochten den oratorischen Charakteristika der Partitur durch ihre exzellente, disziplinierte musikalische Umsetzung besonderen Nachdruck zu verleihen. Die Unausweichlichkeit der Szene wurde so umso beklemmender verstärkt.

Das Orchester der Komischen Oper Berlin spielte zum ersten Mal seit 18 Monaten wieder in voller Besetzung im Graben. Die hingebungsvolle Leitung durch ihren Generalmusikdirektor Ainārs Rubiķis schuf ein musikalisch unvergessliches Erlebnis. Die Durchhörbarkeit der Instrumentengruppen, die feine Abstimmung der Klangpaletten und nicht zuletzt die zwingende Dynamik des Ensembles, die gleichwohl niemals die Sänger zudeckte, bezwang die Zuschauer.

Diese bedankten sich mit begeistertem, lang anhaltendem Applaus bei allen Beteiligten, allen voran Leigh Melrose, den Chormitgliedern und dem grandiosen Orchester.

Hausherr Barrie Kosky ließ es sich nicht nehmen, in einer kleinen Ansprache - und unter wiederholtem Applaus der Anwesenden - seine Freude über die ‚Wiederauferstehung‘ seines Hauses, die Leistung all seiner künstlerischen Mitarbeiter und die endlich wieder mögliche Präsenz des Publikums zum Ausdruck zu bringen. Die Komische Oper eröffnet die Spielzeit mit gleich vier Premieren oder Wiederaufnahmen im Dienste der Musik des 20. Jahrhunderts. Nach Ödipe folgen sowohl Mahagonny als auch Katja Kabanova in spannenden Neuinszenierungen, und als ob das nicht genug wäre, auch noch die Wiederaufnahme der mehr als sehenswerten Die Nase von Schostakowitsch.  

Da muss doch das Publikum nach so langer Durststrecke und diesem ersten, grandiosen Premierenerfolg der Spielzeit in Scharen kommen – am besten noch heute Tickets besorgen!

Achim Dombrowski

Copyright: Monika Rittershaus

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