Don Carlo in Bremen: Mit Sisyphos auf der vergeblichen Suche nach einer menschlichen Politik

Xl_58575ea5-2df8-4860-b27e-cf5d9d29f012 © Jörg Landsberg

Don Carlo
(Giuseppe Verdi)
Premiere am 18. September 2022

Theater Bremen

Die Unvereinbarkeit von Machtausübung und Menschlichkeit steht für den Regisseur Frank Hilbrich im Mittelpunkt seiner Neuinszenierung des Don Carlo von Giuseppe Verdi am Theater Bremen. Generationenkonflikte, Unvereinbarkeit von Politik und individueller Freiheit sowie Menschlichkeit, die unkontrollierbare Verselbständigung von Machtausübung und -missbrauch prägen die Handlung, die auf das Drama von Schiller zurückgeht. Der Einfluss von Religion, katholischer Kirche und Inquisition kommen hinzu.

Bruchstellen der Systeme werden bei Zeitenwenden deutlich. Im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit entwickelt sich ein Wandel des Menschenbildes und des menschlichen Selbstverständnisses, konkreter die Relativierung der göttlichen Ordnung durch das erwachende Selbstbewusstsein der menschlichen Individualität. Die inhärenten Konflikte brechen aus : Zweifel, Misstrauen, Einsamkeit und unauflösbare moralisch-geistige Konflikte bleiben dauerhafte Begleiter der Menschen. 

Gespielt wird die von Verdi autorisierte Modena-Fassung in italienischer Sprache, die auch den ersten, oft gekürzten „Fontainbleau-Akt“ umfasst. Hier wird der Konflikt zwischen Don Carlo und seinem Vater Philipp verdeutlicht. Nachdem sich der Sohn zu Elisabeth hingezogen fühlt, müssen die beiden Liebenden erfahren, dass ihr Vater, der König von Frankreich, sie gleichwohl Carlos Vater Philipp versprochen hat. Aus Staatsraison und um den Frieden zwischen den Völkern zu sichern, stimmt Elisabeth zu. Der private Konflikt bleibt ungelöst.

Außerordentlich gelungen ist die szenische Umsetzung im Bühnenbild von Katrin Connan und in den Kostümen von Alexandre Corazzola. Der erste Akt wird zudem durch die frappierend-intensive Videokunst von Cantufan und Lio Klose getragen. Elisabeth und Carlo begegnen und verlieren sich sogleich wieder. Gefühle der privaten Freude und Hoffnung werden durch deren unmittelbare Zerstörung für die Staatsraison abgelöst. Das Scheitern dieser Liebe von Elisabeth und Carlo wird auf eine bühnengroße Leinwand projiziert und prägt sich als Hintergrund für die weiteren komplexen Verwicklungen beim Betrachter ein.   

Die Szene danach zeigt einen Turmbau zu Babel, der aus einer unendlichen Zahl von Büchern aufgetürmt wird: Philipp II. soll die seinerzeit größte Buchsammlung der Welt besessen haben. Auf ihr Schreiten in stummem Respekt vertiefte Lesende. Doch diese Szenerie wird brutal zerstört, als die Inquisition den entfachenden Geist der Freiheit wahrnimmt und zur Bücherverbrennung schreitet. Nicht viel später werden den menschlichen Opfern vor ihrer Tötung die Zungen blutspritzend herausgeschnitten – ein schauerliches und sehr wirkungsvolles Bild.

Wie als Gegenbild wandelt die – fast transzendente  - Figur Karl V. durch die Szene. Der Vater Philipps hat sich auf der Höhe seiner Macht ins Kloster zurückgezogen. Nun erscheint wiederholt als Sisyphos auf der Szene, ein Netz aus Büchern – wie einen Fels – vor sich her und den Turm hinauf rollend. Bei diesem Versuch des (Wieder-)Aufbaus eines zivilisatorischen Ansatzes scheitert er unentwegt. 

Aber nicht nur die szenische Umsetzung überzeugt durch messerscharfe, klare und kompakte unmittelbar verständliche und ergreifende Bildwelten, auch die musikalische Realisierung reißt mit. 

Dazu aber muss man erst einmal die großartigen Sängerdarsteller haben, die diesen hohen Anforderungen auch folgen können. Das Musiktheater in Bremen bietet das.       

Sarah-Jane Brandon feiert als neues Ensemblemitglied mit Elisabeth ihren Einstand, und das mit vollem Erfolg. Insbesondere ihre beiden großen Arien gelingen makellos, im letzten Bild bestimmt ihre schon jenseitige Trauer um ihre Liebe die Atmosphäre der gesamten Szene.     

Patrick Zielke debütiert als Phillip II. Er zeichnet einen noch nicht alten Mann – verzweifelt in der Unterdrückung unter dem Joch der Kirche, einsam, weil er am Hofe niemandem trauen kann, enttäuscht von seinem Sohn Carlo, der für die Freiheit im spanischen Großreich und damit gegen Philipps Pläne agiert. In seiner großen Szene zu Beginn des vierten Aktes bringt er all diese Konflikte mit seinen stimmlichen und darstellerischen Fähigkeiten erschütternd auf den Punkt.   

Michał Partyka als Posa verausgabt sich in seiner ersten Premiere als Ensemblemitglied grenzenlos. Posas verzweifelt-glühende und doch kalkulierte Leidenschaft für ein freies Flandern sowie sein mutiger Auftritt der Macht gegenüber kommen glänzend über die Rampe. Mit der Flexibilität eines Tennisspielers springt er gelegentlich über die Bühne. Die angekündigte Indisposition aufgrund eines Infektes konnte man nicht hören.    

Luis Olivares Sandoval als Don Carlo weiß mit lyrisch-strahlendem Ton in den Liebesbegegnungen mit Elisabeth ebenso zu überzeugen wie in den Auseinandersetzungen mit Philipp oder den durch eine bewegende Dramatik gekennzeichneten Begegnungen mit Posa.  

Natalie Mittelbach besticht mit ihrem durchdringenden Mezzo und in ihrer stolzen Erscheinung als Fürstin Eboli. Taras Shtonda als Großinquisitor sorgte mit orgelndem Bass für einen  furchterregenden Auftritt eines skrupellosen Strippenziehers der Macht.

Der Page Tebaldo der jungen Elisa Birkenheiner sowie die Stimme vom Himmel von Nerita Pokvytytė ergänzten perfekt die große Ensembleleistung. 

Chor und Extrachor des Theaters Bremen unter der bewährten Leitung von Alice Meragaglia gaben stimmlich und darstellerisch bewegendes Portrait in den Volksszenen.  

Das Werk schrieb Verdi als Auftragskomposition der Pariser Oper 1867 in französischer Sprache und im Formenkanon der Grand Opéra. Die vorgestellte italienische Fassung wird vom Bremer Chefdirigenten Marko Letonja mit Verve und tendenziell im Geist des mittleren ‚italienischen‘ Verdi dirigiert, ganz ohne die potentiell pompös-retardierenden Elemente der französischen Fassung. Wie die Partitur hier vorgestellt wird, entspricht sie den zeitlebens geltenden Idealem Verdis im Hinblick auf konzise und kompakte musikalische Entwicklungen in seinen Opern. Die Bremer Philharmoniker folgen ihrem Chef mit hoher Spielfreude und engagiert-präziser Tongebung.  

Die begeisterte Publikumsreaktion mit vielen bravi  beendet einen Premierenabend mit dem gelungenen Einstand einiger Sängerdarsteller als neue Ensemblemitglieder und Rollendebütanten sowie von Frank Hilbrich in seiner Aufgabe als neuer leitender Regisseur des Musiktheaters in Bremen.  

Achim Dombrowski

Copyright: Jörg Landsberg

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