Die Meistersinger in Frankfurt: eine bitterböse Gesellschaft mit doppelbödigem Humor, dabei auf höchstem musikalischen Niveau

Xl_76952fe5-8051-4bea-ab48-e25e0fdc40d3 © Monika Rittershaus

Oper Frankfurt

Die Meistersinger von Nürnberg

(Richard Wagner)

Premiere 6.11. 2022

besuchte Aufführung 27.11.2022

In Nürnberg ist alles aufgeschrieben, festgehalten, notiert, dokumentiert und als Regel formuliert – so sieht es Bühnenbildner Kaspar Glarner und Regisseur Johannes Erath in der neuen Produktion am Opernhaus des Jahres in Frankfurt

Auf einer durchschimmernden, auch für Videoeinspiellungen (Videodesign von Bibi Abel) genutzten, bühnengroßen Projektionsfläche sowie den durchgehend schwarzen, beweglichen Raummodulen, die für Kirchenraum und Stadtmauer (wie ein Gefängnis) stehen, gibt es keine freie Ecke: jeder hat alles festgehalten und visuell umgesetzt, in die Mauern geritzt. Es sind die Regeln, nach denen das Meistersingen, ja das Leben gestaltet ist und funktioniert. Es sind auch die Rechte der Bürger, vor allem derer, die diese Regeln beherrschen und kontrollieren – solange sie nicht hinterfragt werden. Es gibt kein natürliches Licht. Daran wird sich nichts ändern.

Herzzerreißend die Szene, in der der Lehrling David kindlich-begeistert die aberwitzigen Regeln der (Gesangs-)Kunst, die er schon aufsagen kann, dem Außenseiter Stolzing mit unschuldigem Selbstbewusstsein vorträgt. Mit dem Stolz eines jungen Bürgers, der zukünftig seine Rechte daraus abzuleiten hofft. Er spürt, dass er nicht alles versteht. Er zweifelt an ihrem Sinn. Aber die Beherrschung der Regeln wird ihm eine Position in der Gesellschaft sichern. Darum kämpft er. Eine Einschränkung der Freiheit reflektiert er nicht. Unschuldige Jugend auf dem Weg in eine gesellschaftliche Unfreiheit? Daran wird sich nichts ändern.

Die Mehrheit der Meister hat mit einer ernsthaften Auseinandersetzung über Kunst und Politik nichts zu tun. Schule und Lehre waren karg und streng. Wenn endlich gesellschaftliche Stellung, Anerkennung und Wohlstand erreicht sind, ziehen sie sich in ihren unantastbaren Positionen auf Repräsentation und Wohlgefälligkeit zurück. Daran wird sich nichts ändern.

In den ersten Auseinandersetzung der ehrenwerten Bürger werden sie in Eraths Inszenierung auf riesigen, hoch-stelzigen Repräsentationsstühlen von ihren Lehrlingen durch den Saal geschoben. Eine wackelige Angelegenheit, die sie für ihre Selbstdarstellung nur zu dringend in Kauf nehmen. Später ist das äußerliche Merkmal ihrer Stellung der traditionelle, gesellschaftsgängige Frack (Kostüme von Herbert Murauer), gleichsam anstelle von Ritterrüstungen. 

Auseinandersetzungen bei Ruhestörungen entwickeln sich in aggressiver Fugenmeckerei. Diese können jederzeit gewalttätig werden. Als Nachtwächter lugt bedrohlich die Gestalt des Psycho-Clowns Joker herein.

Die Etablierten können Opfer nicht erkennen. Beckmesser hat eine Position als ehrenwerter Stadtschreiber, macht sich aber durch seinen Wagemut bei der Brautwahl in ihren Augen nur lächerlich. Ein Bemühen um Liebe und Kunst können die anderen nicht nachvollziehen – haben sie es je gekannt?

Noch schlimmer trifft es die Tochter Eva des Goldschmieds Pogner. In übersteigertem Geltungswahn, später immerhin mit Selbstzweifel, hat er sie zum Preisgeld für einen Sängerwettbewerb unter den Meistern ausgeschrieben. Evas Opferrolle würde von allen Meistern am liebsten durch ihre Eroberung vollendet – eine unwiderstehliche Fantasie. Die teilweise physische Bedrängung, in welche Eva wiederholt gerät, macht sie von vornherein zur bedrohten, wachsamen, gereiften Frau – ganz anders als die Charakterisierung als unschuldiges Fräulein wie in vorangegangenen Inszenierungen.

So bleiben einzig Sachs und Beckmesser, die über Leben, Kunst, Menschlichkeit reflektieren, um diese Werte ringen. In ihren Positionen nähern sie sich nicht an, aber sie hören einander zu und kämpfen um ihre Ziele. Beckmesser scheitert als Bewerber um Eva, Sachs bleibt unwirklich allein in diesem Umfeld. Er tritt unerklärlicherweise als potentieller Ehemann Evas vor Stolzing zurück. Die Annäherung im dritten Akt macht zweifelsfrei klar, dass Eva und Sachs tiefe Gefühle füreinander empfinden. Gleichzeitig ist die Partie in Frankfurt durch einen jungen Mann besetzt, der unwesentlich älter als Eva selbst ist. Die idealere Partnerschaft?    

Stolzing wirkt ebenso entrückt, dieser Welt ist nicht zu trauen. So umkreisen die Außenseiter Sachs, Beckmesser, Eva und Stolzing diesen ihnen rätselhaften gesellschaftlichen Begegnungsraum.      

Außenseiter anderer Art sind auch David und Magdalena. Magdalena weiß mehr, kann die Zusammenhänge einschätzen und hat ein klares Bild über ihre Einflussmöglichkeiten, bzw. ihre Machtlosigkeit. Sie positioniert sich bildlich im Gegenlicht wie Marlene Dietrich in Der Blaue Engel. Ihren David hat sie nicht nur am ganzen Körper fest im Griff. Rührend sitzen beide abseits am Bühnenportal auf der Festwiese – ein kleiner Orbit ganz für sich selbst. 

Die Menschen von Nürnberg treten nicht in Trachten und Insignien ihrer Zünfte auf, sondern präsentieren sich auf einem Amüsier-Großevent in den Masken von Gesangsstars jedweden Genres. Da sind die Beatles, Heino, Michael Jackson, Jonas Kaufmann und Pavarotti kommen auch. Alle sind auf der Suche nach dem nächsten Happening, auf dem man sich hemmungslos amüsieren und präsentieren kann, auch gerne auf Kosten der auftretenden Künstler oder Wettbewerber, die ihr Glück versuchen. So wird Beckmesser ausgelacht und zum Teufel geschickt und Stolzing für seinen schmucken und gefälligen Beitrag wie zufällig gekürt.    

Sachs ist auf der Festwiese nach der innig-berührenden Begegnung mit Eva, dem Stress um Stolzings Lied sowie Beckmessers Nöten zunächst wie betäubt und geistig abwesend, bis die Menge ihn mit einer eigenen Komposition ehrt. In der Verwirrung über Stolzings Ablehnung von Meisterwürde und gesellschaftlicher Anerkennung wird Sachs von den Alt-Meistersingern ein Text gegeben, den er verlesen soll. Hier ertönen die historisch missbrauchten, markanten Worte von „...deutsch und echt...“ und „... deutscher Meister Ehr...“. Sachs kann selbst nicht glauben, was er vor dem inzwischen geschlossenen Vorhang benommen, traumverloren, zweifelnd und erschrocken verliest, nur Beckmesser hört ihm betreten zu.      

Zum Schlusschor (auf wieder offener Bühne) wird eine übergroße Leuchtschrift GERMANIA sichtbar. Ein Teil der Buchstaben erlischt wie durch einen technischen Defekt, und ein blinkendes MANIA verbleibt - die Botschaft dieses zwielichtigen Bildes springt unmittelbar auf das Auditorium über, das in schallendes Gelächter ausbricht. Und alle wissen genau, dass diese Oper in Deutschland spielt. Daran wird sich nichts ändern. 

Die Oper Frankfurt präsentiert in allen Partien Ensemblemitglieder oder Sänger, die dem Hause lange verbunden sind. Die meisten Sängerdarsteller begehen ihr Debut in den Rollen. Mit grandiosem Erfolg.

Der amerikanische Bariton Nicolas Brownlee stellt sich als Sachs vor. Die Stimme ist tendenziell höher grundiert, die Textverständlichkeit und deutsche Diktion schon fast perfekt, die stimmliche Kraft und Frische eine Erfüllung. 

Der Stolzing von AJ Glueckert wird zurückhaltend charakterisiert. Sein Liedgesang wirkt wie eine Beschwörung einer Welt, die jenseits der ihn umgebenden Realität liegt.   

Michael Nagy als Beckmesser ist ein begnadeter Sängerdarsteller, der die Schattierungen zur Charakterisierung dieser gebrochenen Figur musikalisch wie darstellerisch sensibel beherrscht. Hohe Textverständlichkeit ist mit ausdrucksstarkem Spiel verknüpft, das trotz in der Drastik der Vorlage gleichwohl nie manieristisch oder aufgesetzt wirkt. Das verschafft der Darstellung die berührende Glaubwürdigkeit.    

Michael Porter – ursprünglich ebenfalls aus dem Frankfurter Opernstudio - als David ist eine beglückende Erfahrung. Die stimmlich perfekt und scheinbar leicht und mühelos gesungene Rolle wird mit einer darstellerisch unschuldig-liebenswerten Haltung umgesetzt.  

Magdalena Hinterdobler in der Partie der Tochter Eva ist eine reife Frau, kein Mädchen. Die volle, tiefer grundierte Stimme lässt Potential für ganz andere Wagner- oder Strauss-Partien erkennen. Die Sängerdarstellerin weiß sich den Zudringlichkeiten darstellerisch handfest zu erwehren. Das Stimmvolumen im Quintett erscheint im Zusammenklang eher dominant – oder ist das die Gewohnheit und Rollenerfahrung vorangegangener Aufführungen?        

Claudia Mahnke hat die Partie der Magdalena schon an der MET gesungen. Sie kann ihren souverän beherrschten Gesangspart durch eine lustvoll ausgespielte szenische Interpretation ergänzen.     

Der Chor und Extrachor der Oper Frankfurt unter der Leitung von Tilman Michael singen und spielen mit großem Engagement und noch höherer Präzision.

Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester unter seinem Chefdirigenten Sebastian Weigle blüht in aller Transparenz und Schönheit auf. Die Feinabstimmung der Holzbläser sowie die Balance der weiteren Gruppen untereinander, die abgestuften Tempo-Rückungen sowie die behutsame Sängerbegleitung sind atemberaubend. Es muss auch für Weigle eine tiefe künstlerische Befriedigung sein, im letzten Jahr seiner nunmehr 15-jährigen Leitungsfunktion mit allen musikalischen Beteiligten ein solch beglückendes Leistungsniveau realisieren zu können. Es ist Ausdruck der jahrelangen, kontinuierlichen Arbeit und Auseinandersetzung mit allen Musikern.       

Die Oper Frankfurt ist kürzlich zum wiederholten Male Opernhaus des Jahres geworden. Und schon wieder kommt am Main eine Inszenierung mit einem eminent politischen Konzept bei perfekter musikalischer Umsetzung auf die Bretter. Die Künstler werden vom vollbesetzten Haus begeistert gefeiert.

Achim Dombrowski

Copyright: Monika Rittershaus 

 

 

 

 

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