Carsten Brosda: Die Kunst der Demokratie - eine Standortbestimmung der Kultur

Xl_fullsizeoutput_11bf © Hoffmann und Campe 2020

Die Bedeutung der Kultur für eine offene Gesellschaft

Standortbestimmung der Kultur für eine offene und moderne Gesellschaft

Von Zeit zu Zeit eine Standortbestimmung vorzunehmen kann nicht schaden, bzw. kann sogar unbedingt geboten sein, auch außerhalb von Zeiten pandemischer Ausgangsbeschränkungen. 

Carsten Brosda, der Autor des vor der Krise zu Jahresbeginn 2020 herausgegebenen BuchesDie Kunst der Demokratie, ist seit Februar 2017 Senator für Kultur in Hamburg. Der Titel der Veröffentlichung verrät schon den weitgespannten Anspruch. Es geht nicht allein um eine Bestandsaufnahme der Kunst in ihren vielfältigen Ausprägungen (Oper, Theater, Stadtteilkultur, Tanz,  etc., etc.), sondern um nicht weniger als ihre Rolle und Bedeutung in der modernen Gesellschaft, ihren absoluten Freiheitbegriff und ihre Unverzichtbarkeit für Bestand und Funktionieren der Demokratie.  

Künstler wollen Menschen in einer freien Welt zusammenführen, um Strömungen, gesellschaftliche Konfliktpotentiale, abweichende Meinungen, unterschiedliche Standpunkte in jeder erdenklichen Form zu diskutieren, solange wir nur friedlich streiten und immer und immer wieder akzeptieren, andere Standpunkte aufzunehmen, zu verstehen und abzuwägen; letztendlich die täglich neu zu erlernenden Fähigkeiten einer komplexen demokratischen Gesellschaft zu erproben und unentwegt wieder mit Freude zu exerzieren.

Gefährdungen entstehen heute nicht nur durch den Rechtspopulismus, sondern auch durch die Arroganz einer starren, oft urbanen Linken, auch bestimmter Teile der Grünen und Umweltschützer, die ihrerseits jedwede abweichende Position als ein Noch-Nicht-Verstehen betrachten und keine diskursiven Brücken mehr für möglich halten. Beide Seiten, oder besser all diese Fraktionen sind zu offenem Dialog und Diskurs nicht – oder nicht mehr - in der Lage. Jeder verbleibt in seiner Echokammer.

Brosda stellt jedoch auch Anforderungen an die Kunst. Sie darf nicht mehr auf ein bürgerliches Publikum warten, sondern muss akzeptieren, dass ihre aktuellen und potentiellen Rezipienten wesentlich heterogener und singulärer werden. Die klassische Form verliert in der allgemeinen Wahrnehmung an Attraktivität. Künstlerische Initiativen müssen sich unermüdlich neu öffnen und alternative Zugangs- und Vermittlungswege suchen. So sehr der Autor die unbedingte Freiheit der Kunst bedingungslos unterstützt, so sehr fordert er von ihr, neue Wege der authentischen Wahrnehmung und Vermittlung zu beschreiten und einem potentiellen Desinteresse eigenverantwortlich entgegenzuwirken. 

Die Politik hat in diesem Zusammenhang die wichtige Aufgabe, der Kunst materiell, aber auch durch Ernsthaftigkeit und Verlässlichkeit in der Kulturpolitik, ihren Stellenwert in einer modernen Gesellschaft zu untermauern und zu sichern.

Insgesamt ist das Ziel für alle Beteiligten, aus der Vielzahl der individuellen Freiheiten eine neue Gesellschaftlichkeit durch die Freude am Denken und Diskutieren zu schaffen. Nur so wird die Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie, oder: Demokratiefähigkeit ganz generell gefördert und bekräftigt.  

Für den optimistischen Autor steht dabei außer Frage, dass unsere Gesellschaft diese Aufgabe bisher gemeistert hat und auch heute kein Grund besteht, an einem zukünftigen Gelingen zu zweifeln.  

Herausragend ist die Gabe des Autors, die potentiell oft rein akademisch geführten Diskussionen mit erhellenden Beispielen aus dem täglichen Leben zu erden. Der Leser erinnert sich sofort an Situationen und Beispiele, die er selbst erlebt hat. Oder wird womöglich an eigenes Verhalten erinnert, das – aus welchem verständlichen Grunde auch immer – die eigene Limitierung für die Anstrengungen der Auseinandersetzung mit anderen Menschen und Meinungen schlagartig beleuchtet. Denn wir wissen ja alle sehr genau, dass die Demokratie eine oft quälend langsame und überaus anstrengende Veranstaltung darstellt, der ein jeder von uns nicht immer gerecht werden kann.     

Die Schrift ist in mustergültiger Form ein wertvoller Steinbruchfür weiterführende Literatur auf vielen angesprochenen Gebieten. Es werden sowohl Standardwerke der letzten Jahre wie auch ganz aktuelle Veröffentlichungen aller Art z B aus der soziologischen Analyse hervorgehoben und in den Anmerkungen sorgfältig gelistet. Dies umfasst im Einzelfall auch Verweise auf künstlerisch besonders gelungene Romane und Filme, denen eine kluge und empathische Übersetzung eines relevanten Themas gelungen ist. Wer sich also mit Einzelthemen weiter auseinandersetzen will, findet hier umfangreiche Orientierung auf vertiefende Beiträge und Diskussionen.    

Der Weitblick, die Leichtigkeit und die Verständlichkeit der Sprache machen das Buch zu einem großen Lese- und Erlebensgenuss. Ein besonderer Wert der Aufarbeitung liegt – bei aller klaren Positionierung – in der Tatsache, dass Brosda es in einmaliger Form versteht, durch seine glänzende, immer zugleich einladende, verbindende und optimistische Rhetorik Lust zu machen, seinen Thesen nachzuforschen.

Die Texte sind so geschrieben, dass man bald selbst den Drang verspürt, seine eigene Offenheit und Fähigkeit zum Diskurs zu hinterfragen und idealerweise sofort neu auszuprobieren will. War da nicht ein guter Freund, der kürzlich diese kuriose Meinung vertreten hat, die ich nun gar nicht akzeptieren will? Und soll ich mich nicht schnellstens besser wieder mit ihm darüber auseinandersetzen, womöglich im besten Sinne streiten, damit ein gegenseitiges Verständnis und die gemeinsame Bindung neu geschaffen oder vertieft wird? Wird sich meine Meinung ändern oder habe ich doch „Recht“? Allein die temporäre Unsicherheit oder der Zweifel an der eigenen Position vermag am Ende womöglich in eine neue Erkenntnisdimension zu führen. Aber dafür ist die Begegnung mit dem anderen Menschen unerlässlich – und genau dazu ruft der Beitrag Brosdas auf.

Ist dies die verbindende Sprache eines Kulturstaatsministers? Wir können sicher sein, dass die Begeisterung dieses Autors für seine Sache lebenslang erhalten bleibt.

Achim Dombrowski

Der vergoldete Ziegel auf dem Cover des Buches – der Stein des Anstoßes– stammt vom Künstler Boran Burchhardt und war Teil der Ausstellung zur Aktion in der Galerie Mathias Güntner

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