Bremen: Jenufa im Turbokapitalismus

Xl_79dd05e5-ac51-4d4e-9db3-1515ecb65c2b © Jörg Landsberg

JENUFA
(Leos Janacek)
Premiere am 9. April 2022

Theater Bremen

Das Theater Bremen nähert sich mit Jenufa dem Thema Schande und Verzweiflung, die zu einer Kindstötung führen, mit den Geschehnissen am Ende des Kommunismus 1989   

Die 1904 in Brünn uraufgeführte Jenufa brachte Leos Janacek später den Durchbruch als anerkannter Opernkomponist. 

Der ursprüngliche Titel des Stücks ist Její pastorkyňa (ihre Stieftochter). Es ist zugleich der Titel der Textvorlage von Gabriela Preissová. Dieses bei der Prager Uraufführung als moralisch verstörend empfundene Schauspiel wurde nach nur fünf Aufführungen abgesetzt. Es erzählt eine Geschichte aus dem mährischen Leben auf dem Land. Getragen wird die Handlung durch drei Generationen von Frauen, die mit ihren Männern aus der Familie der Buryja Gewalt, Alkoholismus und unglückliche Mutterschaft durchleiden. Im Zentrum steht die Küsterin Buryjovka, die unglücklich mit Toma Buryja verheiratet war, der alles Vermögen durch Alkoholismus verspielt hat. Dessen Tochter aus erster Ehe, Jenufa, hat sie zu sich genommen und auf diese projiziert sie all ihre Hoffnung auf Glück und Wiedergutmachung für das, was sie im eigenen Leben erlitten und verloren hat.

Die alte Buryovka, Mutter des verstorbenen Mannes der Küsterin, ist zugleich auch Großmutter Stevas, in den Jenufa verliebt ist und von dem sie heimlich ein Kind erwartet. Die alte Buryovka ist außerdem Großmutter von Stevas Halbbruder Laca, der ebenfalls Jenufa liebt.

Steva will Jenufa heiraten. Als Laca aus Eifersucht in einem Handgemenge Jenufa mit einem Messer verletzt und im Gesicht entstellt, zieht Steva sich zurück. Er fürchtet auch die unnachgiebige Haltung und Strenge der Küsterin, die ihn immer wieder ermahnt, wenn er betrunken feiert. Für die Küsterin rufen die Begegnungen mit Steva Erinnerungen an ihren verstorbenen Mann hervor sowie folgerichtig zugleich das Bewusstsein von Traumatisierung und materieller Verarmung, aus der sie sich nur langsam und unter hartem Verzicht wieder herausarbeitet. Sie fürchtet, dass sich ihr eigenes Schicksal bei Jenufa mit einem Mann aus derselben Familie wiederholt. 

Als das Kind Jenufas zur Welt gekommen ist und Steva trotz demütigenden Bittens der Küsterin sich auch angesichts des gemeinsamen Kindes nicht zu Jenufa bekennt und sie endgültig verlässt, erzählt die Küsterin dem noch immer Jenufa liebenden Laca, dass das Kind Jenufas gestorben sei. Sie betäubt Jenufa und tötet das Kind, indem sie es unter das Eis steckt. Jenufa erklärt sie, ihr Kind sei an einer Krankheit verstorben. Als das Dorf schließlich die Hochzeit von Jenufa und Laca begeht, wird der Leichnam des Kindes entdeckt. Die Küsterin gesteht die Tat. Jenufa verzeiht ihr im Angesicht der fassungslosen Dorfgemeinschaft. Laca und Jenufa beteuern sich ihre Liebe vor einer ungewissen Zukunft. 

Der Regisseur Armin Petras und sein Team arbeiten regelmäßig in Bremen. Wesentliche Produktionen in den vorangegangenen Jahren waren Lady Macbeth von Mzensk von Schostakovitch und eine ungewöhnliche Die tote Stadt von Korngold. 

Petras lässt seine Jenufa in Mähren im letzten Sommer des Kommunismus 1989 spielen. Die Bühne von Julian Marbach zeigt dazu Ausschnitte einer unter der Sommersonne schwitzenden Kolchose. Aufregende Nachrichten von Umwälzungen aus der ganzen kommunistischen Welt dringen bereits bis in das Dorf Jenufas. Eine Welt geht unter, Fabriken werden geschlossen, es droht Arbeitslosigkeit, Unsicherheit allenthalben. Fotos als Zeitdokumente mit Protestmärschen, auf denen auch Václav Havel zu erkennen ist, sind zu sehen.

Doch nicht allen muss es schlecht ergehen. Wer eine gesicherte Position hat, macht einfach weiter, wie der Dorfrichter oder Steva, der jetzt businessman ist. Für Petras und seine Kostümbildnerin Patricia Talacko werden Charaktere dieser Gruppe vor allem in knall-farbenen Ballonseide-Kollektionen vorgeführt. Im Gegensatz droht Laca als Verlierer zu verarmen. Immerhin dürfen wiederholt einzelne Charaktere zur Stressableitung nervös an ihren Zigaretten ziehen, ein heute ungewohntes Bild.      

Unglücklich die szenische Gestaltung des Bühnenraums im zweiten Aktes, in welcher die Küsterin und Jenufa in einer links oben im Raum platzierten Spielfläche agieren. Die katastrophale Zwangslage der Frauen wird nicht dadurch verdeutlicht, dass sie physisch in einen kleinen Kasten gezwängt werden, der noch von einem Teil des Publikums schlecht einsehbar ist. Zumal die großartigen Sängerdarstellerinnen einer solchen Hilfestellung gar nicht bedürfen.

Die Videokunst von Rebecca Riedel findet insbesondere im dritten Akt auch für das Dorf eindrückliche Bilder, wenn die Hochzeitsgesellschaft halb tanzend, halb taumelnd in einer verlangsamten fast bühnengroßen, unheimlich wirkenden Projektion – wie in einer aus den Fugen geratenen Welt – in langen Sequenzen auf die Festszene zuläuft.

Im Festraum wird die Szene zunehmend mit Werbeplakaten oder Konsumartikeln der neuen Welt durchdrungen, die stark mit dem traditionellen Gewändern kontrastieren, die Küsterin und Jenufa in ihren aufwendig gearbeiteten und traditionellen Stickereien tragen. Sie zählen freilich nicht mehr viel und wirken altbacken.

Worauf zielt Petras letztlich? Wodurch wird die Verzweiflung der Personen und ihrer tragischen Handlungen bis zum Kindesmord  bewirkt? Wie kommt es zur Katastrophe speziell unter den Bedingungen 1989? 

Geraten die Frauen unter besonderen Druck der gesellschaftlichen Verhältnisse, weil der Kommunismus, der eben noch im täglichen Leben auch Sicherheit für den Einzelnen bot, zerfällt? Ist es die Verunsicherung des Übergangs, in dem alte, im Kommunismus teilweise unterdrückte christliche Ethik mit überkommenen Moralvorstellungen wiederersteht? Oder ist es – wie Petras in seinen im Programmheft abgedruckten Arbeitsskizzen spekuliert - das uneheliche Kind als „Bremsklotz“ aus Blei „...am Körper der jungen Frau...“, ausgerechnet jetzt, beim „...aufbrechenden Turbokapitalismus...“ mit allen seinen Chancen für die Jugend? Einem Kapitalismus, dessen „...Waren- und Tauschwert nicht vor den Körpern der Menschen Halt macht...“? 

Erlaubt nicht ausgerechnet der von neuer Kreativität abhängige Kapitalismus immer wieder gewissermaßen im Gegenzug auch abweichende Lebensformen, wenn auch – zugegeben – zunächst in städtischem Umfeld? Ist das in der Oper behandelte Problem gelöst, wenn nur wenigstens der Turbokapitalismus wieder verschwindet?

Oder bedeutet eine solche Spekulation nicht eine Verkleinerung des Themas? Sind es nicht die menschlichen Schwächen der Männer, die in der Geschichte der Familie Jenufas seit Generationen die Frauen und die ganze Familie ins Unglück bringen? Wo ist die wirkliche Notwendigkeit, die Oper in diesem Szenario zu zeigen? 

Im Sängerensemble des Bremer Theater kann über die Jahre mit den Protagonisten eine Reise durch die Erarbeitung der großen Rollen ihres Opernrepertoires machen. Dies gilt insbesondere auch für Nadine Lehner, die sich mit der Jenufa einen weiteren Meilenstein ihres ohnehin schon großen und anspruchsvollen Repertoires erarbeitet hat. Ihre stimmliche und darstellerische Jugendlichkeit passt glänzend zur Jenufa. Das gelegentlich etwas übertriebene Spiel ist gar nicht nötig, Jenufa ist eine ganz junge Frau, aber auch mit Reife und Verantwortungsbewusstsein. Ihr ist die große Ergriffenheit in ihrer Rolle beim Schlussapplaus anzusehen, vielen im Publikum ist es ebenso ergangen. 

Ulrike Schneider ist die Küsterin. Die Sängerin ist im hochdramatischen Fach zuhause und als einzige nicht aus dem hauseigenen Ensemble besetzt. Frau Schneider verfügt über die stimmliche Durchschlagskraft und darstellerische Autorität, die die Rolle der verhärteten Stiefmutter erfordert. Die Spezifika der tschechischen Sprachmelodie und Tongebung erfüllt sie mit großem Ausdruck. Christian-Andreas Engelhardt als Steva und Luis Olivares Sandoval als Laca überzeugen in der Darstellung als ungleiche Halbbrüder. 

Der Chor des Theater Bremen unter der bewährten Leitung von Alice Meregaglia hat sich perfekt in die tschechische Gesangsmelodie eingefühlt und die Bremer Philharmoniker und seinem Generalmusikdirektor Yoel Gamzou verstehen es, viel spezifisch-tschechisches Kolorit aus der oft im Volkslied basierten Melodik Janaceks zu destillieren und außerdem noch der intrikaten Rhythmik gerecht zu werden. Gamzou versteht es auch, die Philharmoniker wirkungsvoll auf die dramatischen Höhepunkte zu führen und andererseits den liedhaften Passagen Ruhe und Ausgeglichenheit zu geben.   

Viel Applaus. Die Leistungen des gesamten Ensembles werden vom Publikum lange gefeiert, auch das Regieteam wird beklatscht.

Achim Dombrowski

Copyright: Jörg Landsberg

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