Bonn: Publikum besteht Test zur Ambiguitäts-Toleranz

Xl_81311e24-da8c-428d-ae34-80cdd49a85b4 © Thilo Beu

LEONORE 40/45
(Rolf Liebermann)

Premiere am 10.10.2021

Oper Bonn

Das Opernhaus Bonn besticht durch die Wiederaufführung eines vergessenen Werkes des Weltbürgers Rolf Liebermann  

Heute kann man kaum mehr verstehen, warum diese intelligente, unterhaltsame ‚Opera Semiseria‘ – wenn auch mit ernstem, zeitgenössischem politischen Hintergrund – nach ihrer Uraufführung 1952 am Theater Basel so schnell vergessen wurde. Das Werk kam in einer Reihe von Städten (Köln, Heidelberg, Wiesbaden, Berlin, Linz, Wien, Braunschweig, an der Scala in Mailand, Münster und Oldenburg)  zwischen 1952 und 1959 auf die Bühne, aber jede Inszenierung wurde vom Publikums letztendlich abgelehnt.

Gründe mögen darin gelegen haben, dass die unmittelbare Nachkriegszeit noch keinen distanzierten Blick auf die Umstände, die Schuld, die Scham des 2. Weltkrieges zuließ – schon gar nicht in der souveränen, auch grotesk-komisch-skurrilen Art, wie es das Werk anbietet. Letztlich das Schicksal vieler Künstler über die Jahrhunderte.

Erst nach weiteren 62 Jahren hat jetzt die Oper Bonn im Rahmen ihrer Auseinandersetzung mit dem Musiktheater in den ersten 30 Jahren des 20. Jahrhunderts eine Neuinszenierung gewagt und dabei sein Publikum gewissermaßen einem Test in Ambiguitäts-Toleranz, also der Bereitschaft Widersprüchlichkeit zu ertragen, unterzogen. Die Bonner Zuschauer haben diesen Test – allerding auch angesichts einer glänzenden Umsetzung des Werkes - mit Bravour bestanden.      

Das Bonner Haus stellt in einem Zyklus seit 2013, der noch bis mindestens 2023 fortgeführt werden soll, ebenso vergessene Werke von Franchetti, von Franckenstein, Meyerbeer, Schönberg, Schreker, Richard Straus und Kurt Weill vor. Zentrale Frage bei jeder dieser Produktionen ist, welche Mechanismen des Vergessens die Werke aus den Spielplänen hat verschwinden lassen, und ob aus heutiger Sicht – eben bei einem veränderten kollektiven (Unter-)Bewusstsein und (hoffentlich) gewachsener Bereitschaft, Widersprüchlichkeiten (besser) auszuhalten – eine neugierige und aufgeschlossene Rezeption (wieder) möglich ist. Da mag es wohl Bewegungen in alle Richtungen geben – Ambiguität und Toleranz sind eine anspruchsvolle und flüchtige, sich mitunter schnell wandelnde gesellschaftlich-kulturelle Errungenschaft.    

Man erinnert sich an Bielefeld und die Thematik „Entartet – Verdrängt – Vergessen – Bielefelds Oper erhebt Einspruch“ von 1980 bis1993. Liebermann war da nicht dabei. Daran mag man ablesen, wie weitgespannt diese Dimension ist und wie viele Werke womöglich noch zum Leben (wieder-)erweckt werden können . 

Inhaltlich wird – nach dem Text von Heinrich Strobel – die Geschichte der Liebe zwischen einem deutschen jungen Mann und einer französischen Frau erzählt, die genau an der Grenze ihrer beiden Heimatländer wohnen, sich verlieben und bald durch die Wirren des 2. Weltkrieg wieder verlieren. Nicht zuletzt durch die Hilfe von Monsieur Emile – einen überirdischen und doch so irdenen Engel und Conférencier mit undurchschaubaren Zauberkräften – werden die Liebenden wieder zusammengeführt. Der Hauptgrund für diese glückliche Entwicklung ist jedoch der feste Glaube der Frau, dass Liebe stärker ist als Hass: Sie macht sich wie Beethovens Leonore auf den Weg, ihren Geliebten trotz aller Kriegswirren zu finden und nach den allfälligen Entnazifizierungsritualen endlich heiraten zu können. Theater als Erfüllung einer humanitären Idee.

Der Komponist Rolf Liebermann (1919 bis 1999) war Weltbürger eigener Art. Er wuchs in einem außerordentlich vielseitigen Künstlerhaushalt auf und prägte selbst viele Talente aus: zum einen als erfolgreicher Komponist verschiedener Genres, wobei Leonore 40/45 nicht seine einzige Oper ist, sondern auch Orchesterleiter verschiedener Rundfunkstationen, sowie nicht zuletzt auch als Intendant mit legendärer Wirkmacht in Hamburg (1959 bis 1973 sowie 1985 bis 1988) und Paris (1973 bis 1980).   

Als Komponist realisiert er einen sinnlich hoch-engagierten dodekaphonischen Stil, der sich weitab von jedweder Schuldoktrin lebendig und packend vermittelt. In der Leonore wird sowohl deutsch wie auch französisch parallel gesungen. Ein ständiger Stilwechsel von Innerlichkeit bis zum Grotesken prägt die Partitur. Der Hörer staunt über die Effekte der Buffo-Oper sowie Zitate nach Liszt, Wagner, Leoncavallo und Strawinsky. Dabei bleibt bei äußerst unterhaltsamen gut 100-minütiger Musik jeder Zuschauer angesprochen und gebannt.  

Die Regie von Jürgen R. Weber vermag eine gelungene Balance zwischen groteskem Kriegsgeschehen und Leibeskomödie zu entwerfen. Wer mag heute sagen, dass jeder ernsthafte Gedanke mit inhaltlicher Bedeutung nur aus bier-ernster Stilistik entstehen kann? Gerade der unterhaltsame, urplötzlich und unerwartete, gefährliche Impuls ist überzeugend.    

Die Ausstattung zwischen Thespiskarren und Welttheater ist von Hank Irwin Kittel entworfen. Kleinbürgerliches Glück, Kriegswirren und verunglückte hochpolitische Ansprüche und Bilder – wie der „Circus Adolf Hitler“ oder die Figur von Churchill sind allgegenwärtig.   

Dazu trägt die Videokunst von Gretchen Fan Weber z B mit Filmdokumentationen aus der Zeit der Handlung sehr erfolgreich bei.

Die junge liebend Frau Yvette wird von Barbara Senator überzeugend gesungen. Besonders anrührend ist ihre Szene am Ende des ersten Aktes gestaltet, in der sie – wie die Leonore Beethovens im Fidelio - ihren unerschütterlichen Glauben an die Liebe vertritt. Ihre Mutter Germaine wird von Susanne Blattert gesanglich und darstellerisch überzeugend vertreten.

Der junge Liebhaber Albert wir von Santiago Sánchez mit aller Sehnsucht und Innerlichkeit dargeboten und sein Vater Hermann von Pavel Kudinov glaubhaft vertreten. Den Instrumentenbauer Lejeune gibt Joachim Goltz.

Der Chor des Theater Bonn unter der Leitung von Marco Medved hat sichtlich Freude an seinen Partien und das Beethoven Orchester Bonn unter der Leitung von Daniel Johannes Mayr spielt mit aller gebotenen Flexibilität und Agilität, die erst die Wirkung dieser grotesken, tragik-komischen Handlung ermöglicht. Die Musiker sind hinter der Bühne bei elektronischer Audio (und teilweiser Video-) Übertragung postiert. 

Das Publikum reagiert begeistert – lang anhaltender Applaus, Bravorufe. Es ist die Chance für alle Opern-Aficionados die Corona-Zeit nunmehr endlich hinter sich zu lassen und das Opernhaus in Bonn zu stürmen, um die Folgevorstellungen der kurzen Aufführungsserie zu sehen.  

Unterhaltsam im besten Sinne stellt bei der Premiere in einem Einführungsvortrag Prof. Dr. Thomas Bauer von der Westfälischen Wilhelms-Universität, Münster seine Gedanken unter dem Titel: Vom Kanon zum Einerlei – Warum die Oper ihre Vielfalt liegenlässt – vor. Warum werden bei geschätzt etwa 50.000 seit etwa 1600 komponierten Opern so viele Werke vergessen? Und könnte nicht eine (neue) Toleranzkultur der Ambiguität – des Ertragens von Widersprüchen (zum Beispiel bei der Darstellung der Geschehnisse des 2. Weltkrieges) – dazu beitragen, noch viel mehr verborgene Schätze des Vergessens zu heben und wieder aufzuführen? Bonn jedenfalls ist auf dem besten Weg! 

Achim Dombrowski

Copyright: Thilo Beu

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