Weinbergs "Die Passagierin" in Graz: Das omnipräsente, unentrinnbare Grauen

Xl_passagierin-graz-9-20-1 © Werner Kmetisch

„Ich werde nicht müde, mich für die Oper ‚Die Passagierin‘ von Weinberg zu begeistern. Habe sie schon dreimal gehört und die Partitur studiert. Dabei verstand ich die Größe und Schönheit dieser Musik immer besser. Es ist in Stil und Form ein vollkommenes Meisterwerk und dazu thematisch höchst aktuell. Die Musik erschüttert mit ihrer Dramatik. Sie ist einprägsam und bildhaft. Alles ist vom Komponisten durchlebt und durchdacht, alles ist wahrheitsgetreu und mit Leidenschaft ausgedrückt“: Kein Geringerer als Dmitri Schostakowitsch schwärmte 1974 so von diesem Werk und wurde zum Mentor von Weinberg.

Das Grauen ist stumm aber omnipräsent, wie auch die alte Frau, die schon vor Beginn der Oper im hellgrauen Einheitsraum, einem Erinnerungsraum mit unzähligen Türen und Einbaukästen herumräumt (Bühne: Etienne Pluss). Sie beobachtet, kommentiert, summt unbekümmert das Lied vom „Lieben Augustin“ vor sich hin und greift auch immer wieder wie eine Strippenzieherin ins Geschehen ein. Es ist Lisa, die ehemalige Aufseherin des KZ Auschwitz in fortgeschrittenem Alter. Mit diesem Kunstgriff hat die Regisseurin Nadja Loschkynoch eine dritte Zeitebene eingezogen. Aber eigentlich beginnt die Geschichte der Oper „Die Passagierin“ von Mieczysław Weinberg, die auf der autobiographischen Novelle von Zofia Posmysz basiert, auf einem Schiff: Genauer auf einer Überfahrt von Lisa und ihrem Mann Walter in den 1960er Jahren nach Brasilien, wo dieser die Position eines Botschafters antreten soll und der keine Kenntnis von der Vergangenheit seiner Frau hat. Da vermeint Lisa am Schiff in der Passagierin Marta, eine ehemalige KZ-Insassin zu erkennen, mit der sie als Aufseherin, viel zu tun hatte und die sie auch bevorzugt hat. Und jetzt kommen immer mehr Erinnerungen hoch und wir switchen mit ihr immer wieder vom Schiff nach Auschwitz ins Jahr 1944 zurück. Dabei setzt die Regisseurin nicht auf peniblen Realismus, sondern legt drei Zeitebenen übereinander, wo das Grauen immer präsent bleibt.Man sitzt nicht als distanzierter Zuhörer da, sondern erspürt beklemmend das Leid und die Aussichtslosigkeit der KZ Insassen. Und das obwohl es kaum Gewalt gibt, wiewohl sie immer latent bedrohlich vorhanden ist.

Es ist dem Grazer Opernhaus hoch anzurechnen, dieses Werk, dessen szenische Uraufführung, obwohl schon 1967/68 komponiert, erst 2010 bei den Bregenzer Festspielen stattfand, jetzt zur neuen Saisoneröffnung anzusetzen, obwohl dessen Premiere eigentlich schon in der letzten Spielzeit, im März geplant war.

Weinbergs Oper ist ein mehrsprachiges Kaleidoskop: Gesungen wird in deutscher, polnischer, französischer, tschechischer, jiddischer, russischer und englischer Sprache. Lisa, Walter und die SS-Soldaten singen auf Deutsch, Marta dagegen auf Deutsch und Russisch. Die anderen KZ-Insassen schmettern ihre Arien auf Polnisch, Französisch und Tschechisch oder Jiddisch. Die vielen Sprachen verdeutlichen, dass Leid und Qual keine Sprache kennen. Es ist nicht wichtig in welcher Sprache die Protagonisten singen,sondern wie sie singen. Dshamilja Kaiser als Lisa, die sich immer wieder darauf beruft, nur ihre Pflicht getan zu haben, beeindruckt mit expressivem Spiel und charaktervoller Stimme. Ihr Mann Walter ist mit Will Hartmann solide besetzt. Nadja Stefanoff ist eine intensive Marta, die uns zuflüstert: „Wenn eines Tages eure Stimmen verhallt sind, dann gehen wir zugrunde.“ Ihren Verlobten Tadeusz singt Markus Butter mit weichem aber tremoloreichem Bariton. Auch die vielen kleineren Rollen, vor allem die Frauen als Lagerinsassen, alle mit rasierten Köpfen und in Häftlingsgewändern, sind wunderbar besetzt. Bei ihnen stechen besonders Tetiana Miyus (Katia) und Sieglinde Feldhofer (Yvette) mit klaren Stimmen hervor.

Die Musik der Oper klingt teils wie Klänge aus der Hölle: Ein Getöse aus Schlag- und Blasinstrumenten, schrillen Arien und einem stimmgewaltigen Männerchor. Sie treffen den Zuhörer bis ins Mark.Mieczysław Weinberg (1919-1996) - in Warschau geboren und in die Sowjetunion geflohen, als die Nazis Polen angriffen, hat seine gesamte Familie im Holocaust verloren - kann uns aber auch mit berührenden Harmonien in den unvorstellbaren Wahnsinn dieser Zeit mithineinziehen. Fassettenreich mit Elementen der Zwölftonmusik, lyrischer Folklore bis hin zu Jazz Rhythmen, Walzer und Melodien, die teils an Filmmusik erinnern bis hin zum Bruchstückhaften. Erinnerungen an Schostakowitsch, aber auch Berg und Britten werden wach. Die Celesta, das Engelsinstrument, erklingt für Marta. Xylophon und Marimba für die seelischen Wirren. Das Klingeln und Pochen signalisiert die Angst KZ-Insassen. Schlagwerkbatterien stehen für die Kampfstimmung im Lager. Die Trompeten und Posaunen tönen für die todbringenden Appelle des Kommandanten. Die Geigen-Walzer lassen das Beben dieser unheilvollen Gesellschaft zwischen Luxusliner und Konzentrationslager spüren.Weinberg hat mit seiner Komposition alles getan, damit die Zuhörer den Schmerz und das Grauen von Auschwitz spüren. Der dramatische Höhepunkt ist erreicht, als Marta den „Kommandanten-Walzer“ bestellt. Tadeusz soll ihm dem KZ-Kommandanten vortragen soll. Tadeusz spielt aber nicht den Lieblingswalzer des Brutalitäts-Schergen, sondern intoniert Bachs Chaconne. Diese Szene symbolisiert das Aufbäumen einer universellen Kultur gegen die Unmenschlichkeit. Die Reaktion ist brutal: Tadeusz wird abgeführt und die Geige zertreten. Die Klarheit der Chaconne geht musikalisch über in einen Höllenkrach.

Unter dem neuen, ganz exakt agierenden und wachsamen Chefdirigent Roland Kluttig brodelt das Orchester und erschafft konzentriert und präzis ein Kaleidoskop der Emotionen und Erinnerungen. Insgesamt führt er die Grazer Philharmoniker mit klaren Linien, aber auch mit einem gut abgestimmten musikalischen Farbspektrum. Die in hundert Farben schillernde Musik, die zwischen extremer Ausdünnung und wuchtig-greller Intensität changiert, wird mit großer Sorgfalt wie aus einem Guss wirkend musiziert.

Es ist ein Abend, der demonstriert, dass "große Oper" tauglich ist, sich mit dem Wahnsinn des NS-Regimes auseinanderzusetzen. Viel Applaus!

Dr. Helmut Christian Mayer

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